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Sammlungen im Rampenlicht

Es herrscht Bewegung in den Sammlungen der Humboldt-Universität, die im Mittelpunkt mehrerer großer Projekte stehen. Ausgewählte Objekte werden im Humboldt Forum ausgestellt und die Sammlungen in diesem Kontext digitalisiert. Ein Provenienzforschungsprojekt soll systematisch im Bestand der Universitätsbibliothek unrechtmäßig angeeignete Kulturgüter aus der NS-Zeit aufspüren und Rückgabemöglichkeiten prüfen. Außerdem wird berlinweit daran gearbeitet, Sammlungen sichtbarer zu machen. Die Berlin University Alliance entwickelt Strategien, um ihre wertvollen Wissensressourcen besser zu vernetzen.

Lautarchiv im Humboldt Labor
Lautarchiv im Humboldt Labor, Foto: Philipp Plum

Bücher der Brüder Grimm, Flugblätter aus der Märzrevolution 1848, über 2000 Jahre alte Keramiken aus dem Sudan, lebende Pflanzen und umfassende Bildsammlungen in Negativstreifen und auf Glasplatten aus verschiedenen Fachbereichen ‒ Kunstgeschichte, Theologie, Psychologie, Ethnologie: In den knapp 50 Sammlungen der Humboldt-Universität sind tausende Objekte aus unterschiedlichen Epochen zu finden, von physikalischen Instrumenten über Karten, Kristallmodelle, Gesteine, Mineralien, zoologische und botanische Sammlungen bis hin zu psychologischen Testgeräten.

In den Kartons und Depots universitärer Sammlungen lagern nicht immer große materielle Werte, doch sie bergen einen riesigen Wissensschatz, der bisher vor allem in der Lehre und Forschung der Fachdisziplinen eine Rolle spielte. Für die Öffentlichkeit war er bisher in vielen Fällen nur eingeschränkt zugänglich und vor allem kaum sichtbar.

Das soll sich nun ändern. „Es gibt viele Universitäten in Deutschland, die sich gerade über ihre Sammlungen Gedanken machen und diese strukturell besser aufstellen wollen“, sagt Yong-Mi Rauch. Die promovierte Literaturwissenschaftlerin ist Leiterin der Abteilung Historische Sammlungen an der Universitätsbibliothek und war bis zum Februar 2022 kommissarische Sammlungsbeauftragte des Präsidiums der HU. In dieser Position verantwortet sie mehrere Großprojekte, die sich um die Sammlungen drehen – von der Digitalisierung der Bestände über Kooperationen mit anderen Universitäten und außeruniversitären Partnern bis hin zu einem Provenienzforschungsprojekt, das im Mai beginnt.

Objektsammlungen als Wissensspeicher

„Universitätssammlungen sind in den vergangenen Jahren als wissenschaftliche Ressource stärker in den Fokus gerückt“, sagt Yong-Mi Rauch. Objektsammlungen sind Wissensspeicher in materieller Form, die Auskunft darüber geben, was Menschen interessiert hat, als die Sammlung angelegt wurde, also Forschungsdaten. Wenn Wissenschaftler:innen sie heute wieder in die Hand nehmen, finden sie aber oft auch Antworten zu Forschungsfragen, die von den Sammlungsinitiatoren noch nicht vorhergesehen werden konnten – etwa in Bildsammlungen oder Modellen, die heute verschwundene Zustände von Landschaften, Bauwerken oder Kunstobjekten dokumentieren. So lässt sich an einem im Humboldt Labor ausgestellten Modell des Alteschgletschers aus dem 19 Jahrhunderts auch der Klimawandel verfolgen.

Lange Zeit wurden viele universitäre Sammlungen auch stiefmütterlich behandelt oder sogar einfach verschenkt – zum Beispiel, wenn sie im Lehrbetrieb durch andere Methoden ersetzt wurden oder sich die Techniken der Wissensrepräsentation veränderten. In den letzten Jahren aber bekommen sie wieder mehr Aufmerksamkeit – wegen ihres interdisziplinären Potentials und auch, weil viele Bild- und Modellsammlungen sich sehr gut dazu eignen, Wissenschaft für die Öffentlichkeit anschaulich zu vermitteln. Öffentliche Gelder werden zur Verfügung gestellt, um sie zu erschließen, zu schützen und sichtbar zu machen – so, wie es der Wissenschaftsrat 2011 empfohlen hat.

„Digitales Netzwerk Sammlungen“

Auch die Berlin University Alliance hat die Bedeutung der Sammlungen zur Gewinnung und zum Transfer von Wissen erkannt. In dem von der Humboldt-Universität, der Freien Universität und der Charité geleiteten Projekt „Digitales Netzwerk Sammlungen“, das bis Mai 2022 läuft, wird derzeit geprüft, wie sich die Sammlungen der Berliner Universitäten besser vernetzen können, um ihre enormen Wissensressourcen gemeinsam zu nutzen.

Ein zentrales Stichwort ist dabei die Digitalisierung. Einige Universitäten wie Göttingen, Tübingen oder Erlangen seien damit schon sehr weit, sagt Yong-Mi Rauch. Die Humboldt-Universität zieht mit einem groß angelegten Digitalisierungsprojekt nach. Schon jetzt sind auf der Plattform „Sammlungen Online“ unter anderem Objekte aus der Ausstellung „Nach der Natur“ der Humboldt-Universität im Humboldt Forum zu sehen. Eine weitere, universitätseigene Plattform, die für die wissenschaftliche und didaktische Arbeit mit den Digitalisaten bestimmt ist, wird gerade aufgebaut.

Über 50.000 Besucher im Humboldt Labor

Für die Öffentlichkeit bietet die Auftakt-Ausstellung im Humboldt Labor im Humboldt Forum eine Möglichkeit, Objekte aus den Universitätssammlungen zu entdecken. Denn was normalerweise in internen Institutsräumen, in Depots oder auch einfach in einem Büro lagert, wird in einem Haus gezeigt, das ein Publikumsmagnet geworden ist. Bereits weit über 50.000 Besucher sahen die Ausstellung im Humboldt Labor. Dort geht es um Berliner Spitzenforschung und um Wissenschaftsgeschichte, in der die Sammlungen eine zentrale Rolle spielen ‒ vom  Toshiba-Laptop aus dem Jahre 1989 bis zum Grabungstagebuch der Afrikanistin Ursula Hintze aus der Sudanarchäologischen Sammlung.

Im Sinne einer modernen Wunderkammer werden Objekte ausgestellt, die durch ihre Anordnung nicht nur überraschen, sondern auch Fragen aufwerfen und Denkprozesse anregen sollen. Die digitale Präsentation wird auch die Möglichkeit eröffnen, Bürger:innen stärker an wissenschaftlichen Forschungsprojekten teilhaben zu lassen, sagt Yong-Mi Rauch. Im Humboldt Labor sind Besucher:innen bereits jetzt dazu aufgerufen, sich an der Bestimmung von Dialekten aus dem Lautarchiv zu beteiligen.

Digitalisierung der Sammlungen

Nicht nur die Ausstellungsstücke, auch große Objektkonvolute und teilweise komplette Sammlungen der Humboldt-Universität sollen in den kommenden Monaten digitalisiert werden. Yong-Mi Rauch geht dabei von insgesamt 75.000 „Objekteinheiten“ aus. Das können Kartenwerke sein, Bücher, aber auch archäologische Objekte, naturwissenschaftliche Modelle und umfassende Fotomaterialien. „Organisatorisch ist das eine reizvolle, aber auch eine sehr anspruchsvolle Aufgabe“, sagt die Sammlungsbeauftragte. Denn es ist nicht damit getan, alles einmal auf den Scanner oder vor das Fotoobjektiv zu legen. Für Bücher oder Filmrollen sind viele einzelne Scans nötig. 3D-Objekte werden später am Computer aus Hunderten von Fotos zusammengesetzt.

Das meiste aber passiert vor und nach dem Arbeitsschritt der Reproduktion. „Digitalisierung heißt immer auch Aufarbeiten und Aufräumen der Bestände. Die Sammlungen werden geordnet und erfasst. Man sieht sich die Bestände an, ermittelt, welche konservatorischen Schritte erforderlich sind“, sagt Yong-Mi Rauch.

Manche Bestände müssen gereinigt werden, andere werden neu sortiert. „Wir versuchen später dann, eine verbesserte Lagerung und Ordnung zu erzielen und bei der digitalen Erfassung alle wichtigen bereits vorhandenen Objektinformationen zu berücksichtigen.“ Für die meisten Sammlungen werden externe Restaurator:innen und Firmen beauftragt, konservatorische Arbeiten durchführen, die Bestände zu scannen oder zu fotografieren.

Die Digitalisierung eröffnet laut der Sammlungsbeauftragen auch neue Möglichkeiten für die Forschung. So können zum Beispiel Historiker:innen, Anthropolog:innen oder Kulturwissenschaftler:innen bei ihren Recherchen zu Expeditionen nur bedingt mit den Informationen aus zoologischen und botanischen Datenbanken arbeiten, sagt Yong-Mi Rauch, da die fachgebundenen Ordnungssystemen und Taxonomien schwer interdisziplinär recherchiert werden können. „Durch Digitalisierung und Vernetzung ist es aber möglich, Daten so anzureichern, dass auch aus der Perspektive anderer Fächer einfacher damit gearbeitet werden kann.“ Beispielsweise seien Geräte oder Modelle aus medizinischen Sammlungen heute für Studierende der Medizin unter Umständen weniger interessant als für Kulturwissenschaftler:innen, die sie unter ästhetischen, ethischen und kulturgeschichtlichen Perspektiven betrachten, überlegt die Sammlungsbeauftragte.

Provenienzforschung ein drängendes Thema

Neben der Digitalisierung ist die Provenienzforschung ein weiteres aktuelles und drängendes Thema für die Sammlungen. Die Frage, wie mit unrechtmäßig angeeigneten Objekten aus der Kolonialzeit oder dem Nationalsozialismus umgegangen werden soll, ist nicht nur an großen Museen, sondern auch an kleinen Sammlungen ein Thema. So stellt sich beispielsweise am Lautarchiv der Humboldt-Universität gerade die Frage, was mit zwei menschlichen Kehlkopfpräparaten geschehen soll, die wahrscheinlich aus kolonialen Kontexten stammen, wie ein dazu in Auftrag gegebenes Gutachten nahelegt.

Zu Buchzugängen aus unrechtmäßigen Erwerbungskontexten in der Zeit des Nationalsozialismus habe es an der Bibliothek bereits erste Untersuchungen gegeben, sagt Yong-Mi Rauch. Umfassende Nachforschungen seien jedoch im laufenden Betrieb kaum möglich. „Wir haben großen Nachholbedarf und freuen uns deshalb, dass im Mai eine erste systematische Untersuchung beginnen wird.“ Bei allen Bibliothekszugängen zwischen 1939 und 1945 soll in den kommenden zwei Jahren überprüft werden, ob sie ihren früheren Eigentümer:innen unrechtmäßig entzogen wurden oder sie unter äußerem Druck aufgegeben werden mussten. „Wenn die Verdachtsfälle begründet sind, werden wir uns bemühen, die Erben zu kontaktieren und eine Rückgabe anzubieten“, sagt Yong-Mi Rauch.

So ist es beispielsweise mit Büchern von Agathe Lasch geschehen. Die erste Germanistikprofessorin Deutschlands wurde 1942 nach Riga deportiert und ermordet, ihre Bibliothek beschlagnahmt. Ein Teil davon wurde in der Zweigbibliothek Germanistik der Humboldt-Universität ausfindig gemacht, woraufhin die Erben der Professorin in Frankreich kontaktiert wurden. Diese Geste sei wichtig, auch wenn es sich meist eher um ideelle als um materielle Werte handele, sagt Yong-Mi Rauch „Oft sind die Familien erfreut über die Benachrichtigung und schenken oder überlassen die Exemplare dann der Bibliothek – so auch bei Agathe Lasch.“

Auch für die Provenienzforschung ist die Digitalisierung von Objekten eine wichtige Grundlage. Dadurch können auch Menschen aus anderen Teilen der Welt online auf die Sammlungen zugreifen, sagt die Sammlungsbeauftragte. „Manche Objekte kommen aus anderen Kulturkreisen und sind in Europa in Sammlungen verschlossen. Auf diese Weise können sie auch mit Menschen geteilt werden, die nicht in Berlin leben, und werden insbesondere für die Herkunftsgesellschaften zugänglich und sichtbar."

Autorin: Inga Dreyer

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