Humboldt-Universität zu Berlin

Humboldt Spektrum 3/2000

Editorial

»Einheit von Forschung und Lehre«
Über die Aufhebung der Diskrepanz von Programm und Realität

Die »Einheit von Forschung und Lehre« gehört zu den Losungen, die in allen hochschulpolitischen Programmtexten wiederkehren und in jeder Festrede mit Aussicht auf Zustimmung zitiert werden können. Im Alltag von Studium und Lehre haben Hochschullehrer und vor allem Studierende dagegen gelegentlich Mühe, diese Einheit wirklich zu identifizieren. Zahlreiche Studiengänge sind sehr stark verschult, nicht selten dominiert die Vermittlung abfragbaren Wissens und, zeitlich, eher eine dichte Sequenz von Prüfungen als Spielraum in der Entdeckung des Neuen. Die intensive Beteiligung der Studierenden an der Forschung ist noch nicht die Regel. Häufig wissen sie nicht einmal, welche Forschungsvorhaben die Hochschullehrer betreiben, und bei manchen Professoren und in der Öffentlichkeit kann man gelegentlich sogar hören, dass die Einheit von Forschung und Lehre erst am Studienende, vielleicht sogar nur postgradual, realisierbar sei. Graduiertenkollegs für wenige Doktoranden würden damit im Blick auf die Studenten zur zentralen Organisationsform für das alte Programm.

Diese Diskrepanz von Programm und Realität ist unbefriedigend. Man darf sich schon deswegen nicht damit abfinden, weil der Anspruch der Universität in der Rekrutierung des Nachwuchses und in der forschungsorientierten Berufsqualifizierung bedroht ist, wenn das Studium die Einheit von Forschung und Lehre nicht mehr kennt. Wie könnten aber konkrete Formen der Realisierung aussehen?

Sicherlich muss man das Problem auf unterschiedlichen Ebenen bearbeiten, und man muss auch nüchtern sehen, dass die Einführung in eine Disziplin, in ihr Wissen und ihre Forschungsmethoden nicht übersprungen werden kann. Dennoch und weil die Initiation in das Fach theoriekritisch und problem–, also forschungsorientiert geschehen sollte, wie kann die Beteiligung der Studierenden aussehen?

Die Lernorganisation ist selbstverständlich der zentrale Ansatzpunkt. Ob sie »Forschendes Lernen« ermöglicht, das gehört zu den Erwartungen, mit denen Studiengänge beurteilt werden sollten. Welche Indikatoren sind dafür angemessen? Für die Zeitorganisation muss es eine vernünftige Gewichtung von obligatorischen Veranstaltungen, frei verfügbarer Zeit und Phasen der Arbeit geben, in denen Teilhabe an Forschung ihren Platz findet; das sollte auch nicht erst in der Abschlussarbeit möglich sein; Kreditierungsprogramme, in denen über Studienpunkte das Zeit- und Belastungsbudget für ein Studium dargestellt werden, sind für diese Zwecke hilfreich. In der thematischen Ordnung und Sequenzierung der Inhalte wird man erwarten, dass der Erwerb und die Erprobung von Methodenkompetenz das notwendige Gewicht haben. Bei den Formen der Leistungserbringung können Forschungserwartungen sicherlich am besten bedient werden, schon im klassischen Referat oder in der Laborarbeit, intensiver in Arbeitsformen, für die das Zauberwort Projekt vergeben wird.

Die Rahmenbedingungen sollten solcher Arbeit förderlich sein, vor allem die finanziellen, personalen und sozialen. Weil Geld immer knapp und die Betreuungsrelation auf absehbare Zeit unbefriedigend sein werden, sollten wir gegebene Möglichkeiten kreativer im Blick auf Forschungsaktivitäten nutzen, z.B. die Beschäftigung als Tutor oder Hilfskraft, die Mitwirkung in Forschungsprojekten, möglichst früh und sicherlich in unterschiedlicher Intensität. In den Fächern könnten die Informationen über Projekte und Stipendien dichter, der Markt in der Rekrutierung der Studierenden offener, die Ermunterung zur Forschung alltäglicher werden; noch herrscht z.B. kein Überfluss an projektförmiger Arbeit (etc.).

Die Universität kann auch nicht mehr allein auf Studien- und Prüfungsordnungen vertrauen, um das fachspezifische Lehrprofil forschungsorientiert zu gestalten. Neue Gestaltungsmöglichkeiten sollten hinzutreten – Preise haben wir schon, weitere Anreize müssen wir absichern, Initiativen fördern. Was muss man noch erwarten? Ach ja, bald hätte ich versäumt, es ausdrücklich zu sagen: Es geht nicht ohne intensives Interesse der Studierenden, nicht ohne Lust an der Entdeckung des Neuen und nicht ohne die Bereitschaft zu intensiver Arbeit. Aber daran sollte es nicht fehlen, wenn erst das Vergnügen der Forschung alltäglich wird.

 TITELBILD: 3/2000

Prof. Dr. Heinz-Elmar Tenorth
Vizepräsident für Lehre und Studium der Humboldt-Universität zu Berlin