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Transkript der Folge 19 „Unsere Mobilität beruht auf der Immobilität der Anderen“ mit Prof. Dr. Steffen Mau

Gespräch zwischen Radiojournalistin Cora Knoblauch und dem Makrosoziologen und Leibniz-Preisträger Steffen Mau über die neuen Grenzen im 21. Jahrhundert.

Für Menschen, die unseren Podcast nicht hören können, stellen wir hier ein Transkript zur Verfügung. Der folgende Text wurde mit einer Software angefertigt und anschließend bearbeitet. Trotzdem können noch vereinzelt Fehler vorhanden sein. Wir bitten dies zu entschuldigen. Anmerkungen können gerne per Mail an hu-online@hu-berlin.de geschickt werden.

 

Steffen Mau: Es haben ja viele Leute gefragt Ja, sind Sie denn da nicht zu befangen? Niemand fragt die 100 000 Leute, die über Westdeutschland Bücher geschrieben haben, ob sie nicht befangen sind. Schon alleine diese Frage zeigt eigentlich, dass wir von einer sehr normierten, typisch westdeutschen Perspektive ausgehen.

Cora Knoblauch: Als Autobiographie des Ostens hat ihn eine Zeitung bezeichnet. Steffen Mau beantwortete im Herbst 2020 als „30 Jahre Deutsche Einheit“ gefeiert wurden, geduldig die vielen Fragen nach der ostdeutschen Identität und der sozial gesellschaftlichen Situation Ostdeutschlands. Denn kurz zuvor war ein viel beachtetes Buch von Steffen Mau erschienen „Lütten Klein – Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Darin beschreibt der Makrosoziologe und HU-Professor analytisch, aber auch sehr persönlich, die Rückkehr in seine Heimat, das Plattenbauviertel Lütten Klein in Rostock. Neben Themen wie Migration, Diversität und Pluralisierung von gesellschaftlichen Konflikten, geht der Wissenschaftler der Frage nach, ob wir derzeit die Herausbildung neuer Spaltungsstrukturen erleben. Die 19. Folge des Wissenschaftspodcast der Humboldt-Universität zu Gast beim Leibniz Preisträger 2021 Steffen Mau.

Die gespaltene Gesellschaft ist ja so ein Topos, den man viel liest. Wir hatten das ja gerade im Zusammenhang mit der US-Wahl, aber auch im Zusammenhang mit der deutschen Gesellschaft wird ja oft gesprochen von der gespaltenen Gesellschaft, in der wir leben. Würden Sie als Soziologe sagen Ja, wir leben in einer gespaltenen Gesellschaft?

Steffen Mau: Ja, eine gespaltene Gesellschaft – das ist ein relativ schwieriger Begriff für Soziologen, weil er natürlich ein bisschen apodiktisch daherkommt, also gespalten oder nicht gespalten. Da gibt's ja nur zwei Varianten. Aber ich würde schon sagen, wir leben in einer Gesellschaft, wo sich Dinge polarisieren, wo auch sich die Ungleichheit verstärkt, wo wir vielleicht auch weniger Zusammenhänge haben zwischen unterschiedlichen Gruppen und Milieus. In dem Sinne würde ich schon sagen, also Spaltung als Prozess, das findet statt. Dass die Gesellschaft insgesamt gespalten sei, das würde ich nicht so sehen. Es ist ja auch immer ein bisschen die Frage des Vergleichs oder der Relationierung mit anderen. Die USA ist für mich eine gespaltene Gesellschaft, kulturell, auch ökonomisch unglaublich stark gespalten. Und ich glaube, wenn man da jetzt einen Blick auf Deutschland daneben stellt, dann relativiert wird sich das so ein bisschen. Und dann sind vielleicht die Spaltungen, die wir hin und wieder beklagen, nicht ganz so stark. Aber sie sind doch relevant und sie bestimmen auch die Dynamik des sozialen, politischen und gesellschaftlichen Geschehens.

Cora Knoblauch: Die Frage wäre ja dann – haben wir hier je in einer nicht gespaltenen Gesellschaft gelebt, oder?

Steffen Mau: Ja, es gab in den 50er Jahren diese These von der „nivellierten Mittelstandsgesellschaft“ von Helmut Schelsky. Und dagegen ist dann Ralf Dahrendorf, damals als liberaler Denker, großer Soziologe, aufgestanden und hat gesagt: Ja, das ist so ein zu harmonisches Bild der Gesellschaft. Als würde jetzt dieser Mittelstandsbauch wachsen und die Ränder würden immer kleiner sein und hat dann da auch eine scharfe Polemik dagegen aufgelegt und gesagt: Nee, also wir sind eine Gesellschaft der Ungleichheit, auch der starken Bildungsungleichheit und da hat er auch letzten Endes Recht gehabt. Um nicht zu sagen, also Bildungsungleichheiten sind sich ja ganz wesentlich. Die ökonomische Ungleichheit nimmt zu, möglicherweise auch die Ungleichheiten im Hinblick auf Mentalitäten, Weltsichten, auf Kulturform. Das wird ja beklagt, auch so eine neue Spaltung der Mittelschicht. Das sind alles Aspekte, die muss man mit einbeziehen. Aber das so auf einen Begriff zusammen zu schnurren, da wäre ich ein bisschen zögerlich.

Cora Knoblauch: Von welcher Gruppe in der Gesellschaft wird denn diese Spaltung eigentlich wahrgenommen? Denn es kann ja einmal der eine Spaltung wahrnehmen, der sagt Ich bin nicht Teil der Gesellschaft oder fühle mich nicht als Teil und fordere etwas ein. Oder eben der andere, der das Gefühl hat, ihm wird jetzt etwas weggenommen.

Steffen Mau: Ja, das ist multiperspektivisch, also die Sozialwissenschaften sind ja Teil dieses politischen Diskurses und des Prozesses darüber zu definieren, was spaltet sich eigentlich wovon ab? Wie fragmentiert sich die Gesellschaft ? Und sozusagen die These, dass es stark marginalisierte und diskriminierte Gruppen gibt.

Da wird man viel empirische Evidenz dafür finden. Gleichzeitig ist sie natürlich etwas, was natürlich auch wieder Gruppendifferenzen perpetuiert und manifestiert. Also man kann sich das vielleicht mal an dem französischen Beispiel mal angucken. Da hat Gesellschaft lange gesagt „Wir sind alle Franzosen.“ Es gibt eigentlich keine Unterschiede in den Statistiken, in der Erhebung in Frankreich, wo kein Unterschied gemacht zwischen Menschen, die aus den Maghreb-Staaten gekommen sind, Menschen mit Migrationshintergrund, Einwanderer und Franzosen. Das heißt die Ungleichheit wurde eigentlich unsichtbar gemacht, diese ethnische Ungleichheit. Sobald man dann darüber berichtet, wird das natürlich stärker sichtbar.

Und da werden natürlich auch Erfahrungen, die Leute in ihrem Alltag machen, auch Diskriminierungserfahrungen natürlich deutlich stärker politisiert und sichtbar. Die Gesellschaft ist letztendlich ein dynamisches, auch Spiel um Aufmerksamkeiten, um Status.

Es ist ein fortwährender Wettbewerb und da hat man natürlich immer einen Konflikt zwischen Arrivierten, die bisher auch die Spielregeln bestimmt haben, die nicht nur besser ausgestattet waren, sondern auch gesagt haben, wie es eigentlich laufen soll und anderen, die nicht nur Ressourcen haben wollen, sondern vielleicht auch die Spielregeln mitbestimmen wollen. Und das ist, glaube ich, ein ganz grundlegender Konflikt, der aber historisch auch schon immer da war. Also es gab natürlich immer Gruppen, die sich emanzipieren wollten, die eine Position der Benachteiligung verlassen wollten, die Rechte eingeklagt haben, ob das jetzt das Wahlrecht ist und andere Dinge. Also das ist, glaube ich, auch ein Motor des Fortschritts. Deswegen würde ich das auch nicht unbedingt dramatisieren, sondern ich würde sagen, das ist nur noch ein Stück von Normalität.

Cora Knoblauch: Die alten Klassen und Verteilungskonflikte haben sich nicht aufgelöst, sagt der Soziologe. Im Gegenteil Die Schere der Vermögensungleichheit zum Beispiel habe sich in den vergangenen 30 Jahren weiter geöffnet. Steffen Mau beobachtet zudem eine Auffächerung der Ungleichheiten. Neue Konfliktfelder sind hinzugekommen.

Steffen Mau: Also zu Beispiel die Frage der Migration. Ich nenne das Innen-Außen-Ungleichheiten.  Also wer darf eigentlich in diesen Mitgliedschaftsraum hinein? Wer darf, hat Zugang zum Territorium, Zugang zur Staatsbürgerschaft oder dem, was man Leitkultur nennt. Das ist ja auch etwas, was mit einem großen Fragezeichen versehen sind und immer wieder Debatten aufwirft. Und das sind natürlich Neuordnungen des Gesellschaftlichen. Wo sind eigentlich die Grenzen der der Mitgliedschaft und wer darf eigentlich gleichberechtigt teilhaben? Dann gibt es etwas anderes, was ich immer Wir-Sie-Ungleichheiten nenne. Das sind so Ungleichheiten, die beziehen sich auf Leute, die eigentlich schon hier sind, die eigentlich Teil der Gemeinschaft sind, aber Menschen, die eben nicht sozusagen normierten Lebensstil haben, andere sexuelle Orientierung, Transpersonen, die jetzt sagen „Ja, aufgrund meiner individuellen Eigenschaften fühle ich mich eigentlich in dieser Mehrheitsgesellschaft oder in dieser dominanten Gesellschaft nicht hinreichend anerkannt. Mir werden bestimmte Rechte vorenthalten.“ Und ob das jetzt Eheschließung für Homosexuelle ist, Adoptionsrecht und andere Dinge. Und dann kämpft man darum. Das ist sozusagen auch eine neue Ungleichheitsform. Wir sagen ja häufig dazu identitätspolitische Konflikte. Und dann haben wir sicher einen ganz wesentliche wesentlichen Konflikt. Der hat eine zeitliche Dimension.

Das ist also Fridays for Future ist da wahrscheinlich der wichtigste Akteur. Das ist die Frage Nachhaltigkeit, der ökologischen Lebensweise, der Gerechtigkeit zwischen den Generationen. Und so würde ich schon sagen, hat sich ausgehend von diesen doch sehr einfachen vertikalen Ungleichheiten Modell, hat sich doch die ganze Ungleichheit Struktur sehr stark aufgefächert. Und so ist das ganze Bild nicht mehr ganz so übersichtlich, viel dynamischer und viel komplexer und auch schwerer vorherzusagen natürlich, wohin sich das entwickeln wird.

Cora Knoblauch: Haben Sie das als Soziologe voraussehen können? Denn Fridays für Future oder auch die Debatte um eine gendergerechte Sprache ist ja in der öffentlichen Wahrnehmung zumindest relativ jung. Überrascht Sie das, dass es zu diesem Zeitpunkt kommt oder war das etwas, was sich sowieso angekündigt hat?

Steffen Mau: Nein, das war nicht so ohne weiteres zu erwarten. Es gibt ja selbst jetzt in den linken Bewegungen große Diskussionen darüber, ob das jetzt alles sinnvolle Konflikte sind, ob vielleicht jetzt das Kulturelle, das Identitätspolitische, nicht das Soziale und Ökonomische verdrängt, für vielleicht Konflikte erster Ordnung haben und zweiter Ordnung. Und ob wir uns nicht vielleicht zu doll streiten um die Repräsentation von Frauen in Vorständen von großen Dax-Unternehmen und viel zu wenig die materielle Not von Alleinerziehenden, vor allen Dingen Müttern im Fokus haben. Ob man sich dafür nicht stärker engagieren sollte? Also da gibt es schon Rivalitäten in der Aufmerksamkeiten und in der Soziologie – und ich selber muss mich da einschließe – haben wir natürlich lange Zeit auf diese ökonomischen Ungleichheiten, also Klassen, Schichten, Berufsgruppen. Das waren so unsere relevanten Kategorien. Und das hat sich jetzt doch deutlich verschoben. Diese Diskussion von Intersektionalität, also das Ineinandergreifen unterschiedlicher Achsen, also man ist nicht nur Arbeiterkind, sondern man ist vielleicht auch schwarze Person und vielleicht auch noch Frau und alleinerziehend. Dass so sehr viele unterschiedliche Dinge zusammenkommen, das macht das Ganze nicht einfacher in der Analyse.

Aber das ist letzten Endes die Herausforderung dafür, dann auch Kategorien und auch sozusagen Begrifflichkeiten zu finden, die uns doch erlauben, da auch irgendwie wieder Muster zu erkennen und nicht zu sagen, daas ist alles weißes Rauschen und das wird jetzt sehr unübersichtlich. Sondern zu sagen Was sind eigentlich die wesentlichen Wandlungen, Merkmale und das muss man einräumen. Das Feld der Soziologie und den Sozialwissenschaften insgesamt noch relativ schwer, dann ordnenden Zugriff zu haben. Und es gibt natürlich auch eine starke Parzellierung. Also dann gibt's die Leute, die forschen eben nur zu innerfamilialer Arbeitsteilung und wie Männer und Frauen mit Kindern dann ihre Arbeitszeit aufteilen. Andere wiederum machen dann nur Vermögensungleichheit und da ist aus meiner Sicht zu wenig Syntheseleistung, dass man wirklich sagt – Ja, eigentlich, wenn man Gesellschaft als Ganzes entschlüsseln möchte, dann muss man diese unterschiedlichen Achsen, wie ich sie da beschrieben habe, doch irgendwie auch miteinander in Verbindung bringen. Da sind wir alle bei. Das ist ein Anspruch, den man haben kann, aber es ist noch lange nicht eingelöst.

Cora Knoblauch: Die 2019 veröffentlicht Steffen Mau das Buch „Lütten Klein. Leben in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft“. Mau wuchs in den Siebzigerjahren auf in diesem Rostocker Plattenbau Viertel Lütten Klein. Jahrzehnte später kehrt er als Soziologe zurück und versteckt nicht einen empathischen Blick auf seine Herkunftsgesellschaft. Für diesen durchaus ungewöhnlichen Zugang bekam Mau viel Lob, aber auch Kritik.

Steffen Mau: Das haben ja viele Leute man gefragt. Ja. Sie denn da nicht zu befangen? Niemand fragt die 100 000 Leute, die über Westdeutschland Bücher geschrieben haben, ob sie nicht befangen sind. Schon alleine diese Frage zeigt eigentlich, dass wir von der sehr normierten, typisch westdeutschen Perspektive ausgehen.

Also mein Kollege Andreas Reckwitz wird ja auch nicht gefragt, ob die Singularisierunggesellschaft, ob er die überhaupt analysieren könnte, weil er jetzt Teil dieser Gesellschaft ist. Aber für Ostdeutschland werden solche Fragen eben gestellt und mit, ichh glaube, wenn man mit so einer Perspektive herangeht, dann sieht man eigentlich, dass ich doch eigentlich was gemacht habe, was auch schon sehr wissenschaftlich ist. Ich habe nämlich explizit die Prämissen meiner Perspektive und auch meiner Positionaltät in dem Feld, kenntlich gemacht. Und da würde ich sagen, das ist schon eher eine wissenschaftliche Herangehensweise, als wenn ich die jetzt verschleiert hätte und so getan hätte, als hätte ich mit Ostdeutschland nicht mehr am Hut, als dass es ein interessantes Forschungsthema ist.

Ich muss vielleicht dazu sagen Ich habe 25 Jahre lang überhaupt nicht zu Ostdeutschland geforscht. Ich verstehe mich auch nicht als Ostdeutschlandforscher. Ich verstehe mich als Sozialstrukturforscher, Ungleichheitsforscher. Ich hatte aber immer mal Lust, was über Ostdeutschland zu machen, weil da zwei Gesellschaften zusammen kommen. Die sind sehr unterschiedlich, in gewisser Weise sogar befreundet und antipodisch. Und die formen jetzt eine neue Gesellschaft oder die eine Gesellschaft inkorporiert die andere Gesellschaft mit, wie ich immer sage: Das ist eigentlich das größte soziologische Experiment, was man sich überhaupt vorstellen kann. Und da müsste es jetzt regalmeterweise Bücher geben. Es gibt natürlich Bücher über die Wiedervereinigung, aber häufig mit einem Fokus auf den politischen Prozess und viel zu wenig Soziologisches. Gibt ein paar 2 oder 3, die ich auch sehr gut finde, aber nicht wirklich so ein Buch, wie ich das gerne schreiben wollte. Und da hab ich schon gesagt – Ja, da gibt's eine Leerstelle, da gibt’s ein Manko und da könnte man mal was machen. Aber was, glaube ich, wesentlich war, dass ich das nicht gleich gemacht habe, sondern dass ich wirklich Abstand hatte. Also ich hätte dieses Buch nicht schreiben können, wenn ich schon immer Ost-Deutschlandforscher gewesen wäre, sondern ich musste mich in gewisser Weise auch erst befremden. Biografisch habe ich natürlich Distanz zu diesem Plattenbauviertel in Rostock. Aber das man wirklich zwei Sachen macht – man befremdet sich gegenüber dem Gegenstand und man eignet sich ihn wieder neu an, ohne dabei zu vergessen, dass er einem schon einmal sehr vertraut war. Und ich hab mich jetzt auch viel in Lütten Klein wieder aufgehalten und zu Anfang hatte ich schon Schwellenängste, auch da wieder hinzugehen und auch diese Interviews zu machen, zum Teil auch auf alte Bekannte zu treffen. Und je länger ich das dann gemacht habe, desto mehr sind diese Schwellenängste auch weggegangen. Jetzt ist mir dieser Ort eigentlich wieder ganz vertraut, aber ich habe ihnen nochmal anders versucht zu entschlüsseln und zu entdecken. Das heißt, was muss man eigentlich machen, wenn man sich auf diese Art und Weise doch auch mit dem Eigenen beschäftigt? Man muss wirklich versuchen, Distanz und Nähe auf eine spezifische Art auszutarieren und vielleicht auch nochmal eine andere Reflexionsebene da hineinzubegeben. Was ich in dem Buch mache, ist vielleicht eben auch anders als in den meisten anderen Büchern über Ostdeutschland. Also ich begreife jetzt erst einmal Gesellschaft nicht nur durch Politik zusammengehalten. Die Frage, die sich für den Soziologen natürlich stellt, ist Wie kann eigentlich eine Gesellschaft 40 Jahre existieren? Warum machen die Leute da eigentlich mit? Und da gibt es eben die Totalitarismustheorie, die sagt, das kommt deswegen zustande, weil es permanenten Alltagsterror gibt und die Leute in Angst und Schrecken gehalten werden. Und dann gibt's andere, die sagen Ja, weil es in der DDR so komfortabel war. Es war eben eine kommode Diktatur. Die Leute haben sich da irgendwie wohlgefühlt und das waren beides Erzählungen, die mir eigentlich nicht ausreichten. Die DDR ist natürlich sowohl eine Diktatur wie auch in gewisser Weise eine funktionierende Gesellschaft gewesen, die dann auch sich erschöpft hat. Aber aus meinem Wissen darüber und auch was wir aus Studien kennen, ist es schon verblüffend gewesen, dass es doch relativ viele DDR-Bürger in gewisser Weise auch eine Zustimmung zu dem Staat hatten.

Auch die DDR als gegeben erst einmal hingenommen haben, also nicht permanent gedacht haben „Ich werde jetzt vom Staat unterdrückt und verfolgt.“

Es war eben kein stalinistische Terrorregime in den 70er und 80er Jahren, sondern eine Gesellschaft, die auch nichts war, ideologisch erschöpfte, nach und nach und auch ökonomisch und politisch desavouiert war, aber letzten Endes, wo Leute doch durchaus eine Mitmachbereitschaft hatten. Und das ist soziologisch erstmal ein interessantes Phänomen, was mir, wenn wir in der Demokratie leben, uns kaum vorstellen können. Warum ist das eigentlich so?

Cora Knoblauch: Auch in seinem neuen Buch schreibt Steffen Mau über Transformationsprozesse. „Sortiermaschinen. Die Neuerfindung der Grenze im 21. Jahrhundert“ heißt das Buch. Im Sommer 2021 soll es erscheinen.

Steffen Mau: Das argumentiert so ein bisschen gegen die dominante Globalisierungstheorie, jedenfalls in den 90er Jahren wurde ja häufig Globalisierung mit Öffnung gleichgesetzt und wir Deutschen waren ja besonders anfällig für diese Globalisierungstheorie, weil wir eben immer angenommen haben Ja, jetzt ‘89 mit dem Fall der Berliner Mauer werden überall die Mauern eigentlich eingerissen und wir leben dann in einer entgrenzten Welt.

Wir haben ja Mobilitätsmöglichkeiten und ich würde sagen, das stimmt natürlich für uns. Aber in gewisser Weise war das auch eine optische Täuschung. Wenn man sich das Historische anschaut, also z.B. der Bau von Mauern oder fortifizierten Grenzen, dann kann man sehen, da wurden irgendwie 50er, 60er, 70er Jahre ein paar gebaut und so weiter. Und dann wurden plötzlich 1989/90 ein paar zurückgebaut und dann gab es 1991 zwölf oder vierzehn Mauergrenzen weltweit und seitdem geht die Steigerung ganz steil nach oben.

Es sind seitdem viel, viel mehr Mauern gebaut worden als zu Zeiten des Kalten Krieges. Wir haben heutzutage 77 Mauerbau Bauwerke, 30 000 Kilometer weltweit, also so wie die Mexico, USA Mauer und ganz viel Mauern und die eher untypisch sind, von denen wir gar nichts unbedingt wissen zwischen Algerien und Marokko in den ehemaligen Sowjetrepubliken, zwischen Saudi-Arabien und Jemen. Südafrika hat sich mit Mauern umgeben. Wir leben also in der Globalisierung und gleichzeitig in einer vermauerten ummauerten Welt. Das findet gleichzeitig statt.

Cora Knoblauch: Aber dieser Wildschwein Zaun gehört nicht dazu...

Steffen Mau: Der gehört noch nicht dazu. Aber das ist eben ganz interessant. Und ich versuche im Prinzip zu zeigen, dass Globalisierung eben nicht nur Öffnungsprozesse, sondern auch neue Schließungsprozesse mit sich gebracht hat. Nicht nur, dass neue Mauern gebaut werden, es gibt auch jetzt eine Verlagerung von Grenzkontrolle. Heute wird eben die deutsche Grenze nicht mehr nur hinter Dresden oder hinter München bewacht. Da ist sie abgebaut, sondern in der Subsahara oder in Nordafrika, weil dort die EU eben über ihre Grenz- und Migrationsmanagement die Länder beauftragt, auch finanziell personell ausstattet, um dann Migrationsrouten abzudichten. Es werden Wasserstellen trockengelegt, damit da keine Wanderungen stattfinden können. Es werden viele Leute, die aus der Region kommen, aus anderen Ländern Niger und Mali werden, wenn sie sich auf der Straße aufhalten, plötzlich kontrolliert. Es gibt sogenannte Carrier Sanctions, also dass Leute, die Personen befördern, in Taxen oder einen Kleinbussen, dann auch stärker mit Strafen belegt werden können, weil das jetzt eben gesetzlich als Menschenschmuggel gilt. Also da wird eine ganze Menge getan. Es gibt im Prinzip weltweit solche Prozesse der Vorverlagerung, wo die Grenze eben nicht mehr am territorialen Saum angesiedelt ist, sondern irgendwo sich räumlich flexibilisiert hat. Also die kann überall, die kann in Transitraum, in der Herkunftsregion schon da sein.

Und da würde ich sagen, Globalisierung beinhaltet eben beides. Sowohl die Mobilisierung von Personen wie auch die Immobilisierung von Personen, also dass Leute wirklich an den Ort, an dem sie sind, angekettet werden oder fixiert werden. Und man könnte schon sagen, dass unsere Mobilitätsprivilegien eigentlich nur möglich sind, weil andere von diesen Mobilitätsofferten eigentlich ausgeschlossen werden.

Cora Knoblauch: Steffen Mau und sein Team haben sich in einer eigenen Studie den historischen Verlauf von Visabefreiungspolitiken in der Welt angesehen.

Steffen Mau: Wir Deutschen können ja in über 100 Länder reisen, ohne ein Visum zu beantragen. Und wenn man sich das jetzt für die 60er, Anfang der 70er Jahre anguckt, da konnten auch viele Leute aus afrikanischen Ländern genau nach Belgien oder nach Österreich oder nach Frankreich fahren, ohne dass sie ein Visum beantragen mussten. Sie waren visumbefreit und erst in dem Moment, als diese Globalisierungsfälle anfing und mehr Leute tatsächlich davon Gebrauch machten, wurden die Länder selektiver. Man kann eben sehen, dass seit dem Ende der 60er Jahre z.B. der afrikanische Kontinent an Visumbefreiung verloren hat. Also die können in weniger Länder heute reisen, wenn man dazu noch weiß, wie schwer es ist, in Afrika ein Visum zu beantragen. Zum Teil muss man beim Konsulat persönlich erscheinen. Nicht in jedem Land gibt es ein. Man muss schon um dahinzukommen muss dann schon eine Grenze überqueren. Man braucht einen Computerzugang. Man muss unglaublich viele Nachweise bringen, sodass das es ein sehr effektives Instrument der Verhinderung von Migration und Mobilität ist. Also selbst zu Besuchsreisen. Und interessanterweise selbst Leute aus Äthiopien z.B., die sich selber dort als privilegiert empfinden, die gute Berufe haben, vielleicht Professoren sind an Universitäten. Die auch oft die Erfahrung machen, dass sie keinen Schengen-Visum bekommen mit dem lapidaren Hinweis, dass die Nachweise der Rückkehrwilligkeit nicht ausreichen, sodass es eben beides gibt und vielleicht noch einen dritten Aspekt, den man nennen könnte, der auch ganz wichtig ist für die Transformation von Grenzen: Es ist die die Herausbildung von sogenannten Smart Borders, also Smartifzierung von Grenzen, die auf Technologie basieren, wo man automatisierte Check-Ins hat, biometrische Daten, also unser Fingerabdruck und unsere Iris abgegriffen wird und auch gespeichert wird, sodass letzten Endes für die willkomenen Reisen doch eine Grenze in der Zukunft so funktionieren wird, wie eine gläserne Kaufhaustür. Sobald man da hingeht, dann öffnet sich das. Hinter einem schließt es sich wieder, weil heute ist es nicht mehr so, dass man an die Grenze kommt und der Grenzbeamte vergleicht jetzt das Dokument mit der Person, die vor ihm steht, sondern heute kennt die Grenze einen schon, weil da drunter eben Datenbanken und große Speicher liegen. Und in Zukunft, wenn man dann die Person biometrisch eineindeutig identifizieren kann, dann kann man natürlich immer den individuellen Körper, die Person, die da durchläuft, mit diesen Dateninformationen verknüpfen. Und wenn Sie dann ein vertrauenswürdiger Reisender sind – Trusted Traveler heißt das – dann kann man eben einfach so durchgehen, hat globale Mobilitätsmöglichkeiten. Und wenn sie das nicht sind, dann werden sie eben ausgeschlossen, brauchen das dann gar nicht zu versuchen. Das sind so Entwicklungen, wo man schon sagen kann ja, letzten Endes wird irgendwann mal das Gesicht der Passport sein, dann braucht man gar kein Dokument mehr. Und all die Entscheidung darüber, ob man risikoreiche oder risikoarme Person ist, ob man eine willkommene oder unwillkommenen Person ist, die wird eben auf Grundlage von algorithmischen Klassifikation gemacht.

Cora Knoblauch: Herr Mau, was wäre denn jetzt das nächste Forschungsthema, was Sie dringend bearbeiten möchten oder eine Frage, die Sie lösen möchten?

Steffen Mau: Ja, ich würde schon gerne nochmal eine größere Analyse versuchen, so eine Art Landkarte der Sozialstruktur der Gesellschaft zu entwerfen, mit all den Facetten und auch den neuen Dimensionen, die da eine Rolle spielen. Das ist lange Zeit nicht gemacht haben. Jetzt mit dem Leibniz-Preis hab ich natürlich die Möglichkeit, auch auf viele Ressourcen zuzugreifen und da wirklich auch sowohl quantitative Daten, Survey-Erhebungen, Umfrageerhebung – das wirklich zu verbinden, dass man wirklich ein interessantes und auch aufschlussreiches Panorama der gesamten Gesellschaft bekommt mit den neuen Konfliktachsen, ja auch mit den Triggerpunkten der Gesellschaft. Wo gibt's eigentlich die Reibeflächen? Wo heizen sich Konflikte auf? Und ich glaub darüber wissen wir noch viel zu wenig.