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„Die massiven Einsparungen machen sich während der derzeitigen Pandemie bemerkbar“

Dr. Marius Guderjan vom Großbritannienzentrum (GBZ) der Humboldt-Universität zu Berlin spricht anlässlich der Veröffentlichung des GBZ-Buches Contested Britain: Brexit, Austerity and Agency im Interview über die britische Austeritätspolitik und ihre Auswirkungen auf das britische Gesundheitssystem in Zeiten der Corona-Pandemie.

Roter Bus in London
Foto: Jonathan Chng / Unsplash

Der Begriff „Austeritätspolitik“ ist in Deutschland noch nicht so geläufig. Man spricht hier lieber von der „schwarzen Null“. Die Deutschen sind doch auch sparsam. Wenn sich ein Staat in seinen Ausgaben diszipliniert und in jeder Hinsicht spart, was ist daran falsch?

Dr. Marius Guderjan: Auch wenn die britische Austeritätspolitik letztendlich mit der Notwendigkeit eines ausgeglichenen Haushalts begründet wurde, würde ich sie nicht mit der deutschen Finanzpolitik gleichsetzen. Man kann natürlich darüber streiten, ob Deutschland sowohl im eigenen Land als auch im Süden Europas stärker konjunkturfördernde Investitionen als einen Schuldenabbau vorantreiben soll, um die Auswirkungen wirtschaftlicher Krisen entgegen zu wirken. Im Gegensatz zu Großbritannien wurden aber in Deutschland selbst die Ausgaben für öffentliche Dienstleistungen und das Sozialsystem nicht massiv zurückgefahren.

Die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit der britischen Austeritätspolitik sind sehr umstritten. Während die britischen Staatsausgaben kaum gesenkt werden konnten, führten die Sparmaßnahmen zu steigender Armut, hoher Obdachlosigkeit, die Ausweitung prekärer Arbeitsbedingungen, langen Schlangen vor den „Food Banks“, einer Einschränkung rechtlicher Beihilfen und einem drastischen Einschnitt in Kultur- und Freizeitangebote. Besonders auf kommunaler Ebene werden die Haushaltskürzungen sich noch lange Zeit negativ auswirken.

David Camerons Austeritätsagenda war ein politisches Vorhaben mit dem Ziel, die Verantwortung für das Wohlergehen der Bürgerinnen und Bürger vom Staat auf das Individuum zu verlagern und die Märkte zu deregulieren. Sozial und wirtschaftlich benachteiligte Menschen sind davon nach wie vor am stärksten betroffen. Die daraus folgenden Spannungen in der britischen Gesellschaft waren letztendlich ausschlaggebend, dass eine Mehrheit der Briten 2016 für einen Austritt aus der EU stimmte.

Die britische Austeritätspolitik wirkte sich nach Ihren Untersuchungen direkt auf das britische Gesundheitssystem aus. Das zeigen Sie im neuen Buch "Contested Britain: Brexit, Austerity and Agency“ des GBZ, dessen Mitherausgeber Sie sind. Woran kann man dies sehen?

Guderjan: Durch die Einschränkungen sozialer Dienste beanspruchen auch mehr Menschen das Gesundheitssystem. Zudem altert die britische Bevölkerung und Behandlungskosten werden teurer. Die Regierung hat die Mittel für den National Health Service seit 2010 nicht ausreichend angehoben, um die steigenden Kosten zu decken. Das Ergebnis sind ein Mangel an Ärztinnen und Ärzte sowie Pflegekräften, lange Wartezeiten für Patientinnen und Patienten, weniger Krankenhausplätze und eine zeitweise überforderte Notfallversorgung. Zwar hat Boris Johnson angekündigt, in den nächsten zehn Jahren 40 neue Krankenhäuser errichten zu lassen und mehr Personalmittel zur Verfügung zu stellen. Die versprochenen Investitionen in den National Health Service sind jedoch bei näherem Betrachten eher kosmetischer Natur und werden den Bedarf nicht decken können.

Wie wirkt sich die britische Austeritätspolitik in Zeiten von Corona konkret auf das Krisenmanagement im britischen Gesundheitssystem aus?

Guderjan: Wie auch in anderen europäischen Ländern machen sich die massiven Einsparungen während der derzeitigen Pandemie besonders bemerkbar. In den Krankenhäusern fehlt es an Krankenbetten, Intensivstationsplätzen, Fachpersonal, Schutzkleidung und mancher Orts sogar an Sauerstoffreserven. Im Zuge des Brexits haben viele Ärztinnen und Ärzte und Pflegekräfte aus der EU, auf die der NHS angewiesen ist, Großbritannien wieder verlassen. Die verbliebenen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter sind unterbezahlt und leisten unbezahlte Überstunden, weil nicht genug Geld vorhanden ist. Zudem erschweren die Fragmentierung und Teilprivatisierung des Gesundheitssystems ein koordiniertes Vorgehen bei der Bekämpfung des Virus. Zumindest im Vergleich mit Deutschland ist die Todesrate im Verhältnis zur Anzahl der Infizierten deutlicher höher. Allein am Dienstag starben 563 Menschen am Corona-Virus. Bisher kann der NHS die medizinische Versorgung noch gewährleisten. Trotz eines milliardenschweren Notfallpakets der Regierung kann sich dies aber schnell ändern, da es kaum Reserven gibt, auf die man zurückgreifen könnte. Die Regierung bemüht sich daher angestrengt um die Beschaffung von zusätzlichen Test-Kits, Schutzkleidung und Beatmungsgeräten, und setzt auf die Rekrutierung von freiwilligen Helfern und pensionierten Fachkräften. Es bleibt zu hoffen, dass die Ansteckungsrate nicht rasant anwächst.

In wie fern ist Ihre Arbeit von den aktuellen Entwicklungen in Europa und speziell in Großbritannien betroffen?

Guderjan: Eigentlich wäre ich momentan noch in London, um dort im Rahmen eines DFG-Forschungsstipendiums Interviews mit Mitgliedern des britischen Parlaments und der Regierung zu führen. Dort zögerte man noch mit der Einführung strikterer Maßnahmen zur Eindämmung des Virus als diese z.B. in Berlin schon umgesetzt wurden. Als die Lage sich aber zuspitzte und die Gespräche vor Ort nicht mehr stattfinden konnten, entschied ich mich vorzeitig abzureisen bevor dies irgendwann nicht mehr möglich gewesen wäre. Manche Interviews führe ich jetzt online und ich hoffe darauf, dass sich die Situation bis Herbst soweit entspannt und ich meine Feldforschung weiter betreiben kann.

Abgesehen davon stehen natürlich alle Kolleginnen, Kollegen und Studierenden des GBZ, wie auch an der gesamten HU, vor erheblichen Herausforderungen. Was am GBZ noch dazu kommt, sind die pflichtmäßigen Praktika unserer Masterstudierenden in Großbritannien, die zum Teil abgebrochen werden mussten und deren zukünftige Durchführung unsicher ist. Im Gegensatz zu anderen Berufen, sind Akademikerinnen und Akademiker immerhin stärker damit vertraut, von zuhause aus zu arbeiten.

Die Fragen stellte Hans-Christoph Keller, Pressesprecher der HU.

Buch

Contested Britain: Brexit, Austerity and Agency
Marius Guderjan, Hugh Mackay und Gesa Stedman
ISBN 978-1529205022
Bristol University Press

Weitere Informationen

Webseite des Großbritannienzentrums der HU

Blogpost zum Buch (auf Englisch)

Coronavirus: Aktuelle Informationen

Kontakte

Dr. Marius Guderjan
Großbritannienzentrum
Humboldt-Universität zu Berlin

Tel.: +49 (0)30 2093 99052
marius.guderjan@hu-berlin.de

Gesa Stedman
Großbritannienzentrum
Humboldt-Universität zu Berlin

gesa.stedman@staff.hu-berlin.de