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Besser bauen mit Baumrinde: Vom Abfallprodukt zum Baustoff der Zukunft?

Könnte Baumrinde künftig als Baumaterial oder Designelement eingesetzt werden? Ein Workshop des Experimentallabors „CollActive Materials“ und des Exzellenzclusters „Matters of Activity“ erkundete die spannenden Eigenschaften des Naturstoffs und sammelte Ideen für die Zukunft.
Alternativtext

Die Wissenschaftskommunikatorinnen Antje Nestler (re) und
Dr. Kristin Werner (li) beim Auftakt des Workshops „Baumrinde neu denken“.
Zusammen mit den Forscherinnen Johanna Hehemeyer-Cürten und
Dr. Michaela Eder (Mitte) beschäftigten sich die Teilnehmenden mit der
Frage, wie Baumrinde in Zukunft nachhaltiger genutzt werden könnte.
Foto: Matters of Activity/ CollActive Materials,

Katja Hoffmann-Carstens steckt Rindenstücke waagerecht in eine kleine Platte aus grauer Modelliermasse, ihrem Modell für eine Fassade: „Hier biegen sich die Schindeln durch die Wärme nach oben“, erklärt sie, „und werden so zu Schattenspendern.“. Sie funktionieren dann wie Sonnenrollos – nur ohne extra Stromzufuhr. „Durch Schlitze in der Wand könnte man die Luft zirkulieren lassen und das Innere kühlen“, sagt die Mathematiklehrerin. Das macht sie noch energieeffizienter. Ihre Tischnachbarin, Architektin, drückt die Borken flach auf eine Knetplatte. „Bei Regen biegen sie sich nach unten und schließen die Außenwand“, sagt sie. „So bieten sie Schutz vor Nässe und machen das Haus wetterfest“. Im Prinzip ähnlich wie die Schuppen eines Tannenzapfens.

Die beiden Frauen machen an diesem Abend im Futurium an der Berliner Spree eine gedankliche Reise in die Zukunft. Vor welchen Problemen könnte die Welt in 25 Jahren stehen? Wie könnte Rinde, dieses Abfallprodukt der Forstwirtschaft, das größtenteils in die Verbrennung geht, nachhaltiger genutzt werden? Und vor allem: Wie können wir es in einer Zukunft rasanten Klimawandels einsetzen? Das sind die Fragen, über die rund 20 Teilnehmer*innen im Futurium spekulieren. An fünf Tischen diskutieren sie und entwerfen Zeichnungen, Collagen und Prototypen von ihren Ideen.

Rinde als aktives Material

Der kostenlose, dreistündige Open-Lab-Abend ist einer von vier Workshops zum Thema Materialzukünfte. Der erste hatte sich „Smartes Material für überhitzte Städte“ angeschaut, der nächste widmet sich „Magic Machines aus Bio-Plastik“. Aufgelegt hat ihn der Exzellenzcluster „Matters of Activity“ der Humboldt-Universität, zusammen mit dem Experimentallabor „CollActive Materials“. Das Experimentallabor ist ein gemeinsames Projekt zur Wissenschaftskommunikation der beiden Berliner Exzellenzcluster „Matters of Activity“ und „Science of Intelligence“. Gefördert wird CollActive Materials von der Berlin University Alliance, dem Exzellenzverbund von Freier Universität Berlin, Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin. Die HU-Forscher*innen Léa Perraudin und Martin Müller leiten das Projekt. Ziel des Projekts ist es, Spekulatives Design als neues Format des Wissensaustauschs zwischen Forschung und Gesellschaft zu etablieren und so möglichst viele verschiedene Perspektiven auf Augenhöhe zusammenzubringen.

„Ihr habt die Rinde als aktives Material eingesetzt!“, sagt Wissenschaftskommunikatorin Antje Nestler von „Matters of Activity“, die die Workshopreihe und Ausstellung mit ihrer Kollegin Kristin Werner von „CollActive Materials“ konzipiert hat. „Das ist genau das, was uns bei „Matters of Activity“ interessiert: die Eigenaktivität von Materialien.“ Die Wissenschaftler*innen des Exzellenzclusters erforschen unter anderem: Kann man mit lebenden Materialien auch bauen, mit Pilzen etwa oder mit Bakterien? Was können wir von traditionellen Techniken des Webens, Schneidens und Filterns lernen? Können Bakterien weben? „Matters of Activity – das klingt unkonventionell“, sagt Antje Nestler, „und das ist es auch. Denn in unserem Exzellenzcluster treffen mehr als 40 Disziplinen zusammen, von Neurochirurgie über Architektur bis zu Holzwissenschaften.“

Glatt oder krustig, duftend und flexibel

Auf einem Tisch liegen zur Inspiration verschiedene Rinden aus. Junge Borken in grün-braun geflecktem Camouflage-Look liegen neben dicken, federleichten, die schon trocken sind. Hier kräuselt sich die oberste Schicht ab wie halbtransparentes Pergamentpapier, da ist sie glatt und dort krustig und dick geschichtet wie Blätterkrokant. Manche riechen nach intensivem Parfum oder altem Whiskey, ein Hauch von Harz, ein bisschen pilzig. Einige sind noch ganz feucht. Die hat Johanna Hehemeyer-Cürten erst am Morgen von einer Brandenburger Kiefer geschält. Damit die Stücke nicht brechen wie Knäckebrot, wenn sie trocknen, bestreicht die Modedesignerin sie mit Speiseglycerin. „Dann bleiben sie flexibel, erinnern an Leder und lassen sich ganz problemlos falten“. Auf Fotos zeigt sie, was sie alles damit entwerfen konnte: nachhaltige Taschen, Fächer und Kisten, alle aus Borke.

Einer der Tische diskutiert gerade. Die Rinde schützt den Baum gegen Hitze, Kälte und Regen – wie können wir diese Eigenschaften für uns nutzbar machen?  „Wir könnten sie als Verpackung einsetzen. Oder als Tapete!“, schlägt Katharina Herrmann vor, Ethnologin und Kulturvermittlerin. Die Innenseite sei glatt und könnte bedruckt oder bemalt werden. „Rinde ist bestimmt auch gut für das Raumklima“, sagt sie. Vielleicht kann man sie auch als Furnier nutzen für Möbel oder Lampenschirme? Ob man sie auch imprägnieren kann? Die Gruppe fragt die Materialforscherin Michaela Eder vom Potsdamer Max-Planck-Institut für Kolloid- und Grenzflächenforschung, die sich materialwissenschaftlich mit Rinde beschäftigt. „In Japan verkohlt man die Fassaden“, sagt sie. „Das ist ein toller Feuerschutz und macht das Holz auch resistent gegen Pilze und Bakterien.“ Flambierte Rinde als Fassadenverkleidung? Die Gruppe votiert für ein Hausmodell aus Kiefernborke.

An einem anderen Tisch stanzt ein Teilnehmer Löcher mit einer Zange aus und bastelt mit Kordeln eine Bandage für das Handgelenk. „Die Rinde hat eine unglaubliche Kühle!“, sagt er. „Sie ist anschmiegsam und fühlt sich viel besser an als eine aus Kunststoff, weil das Material eine Nähe zur menschlichen Haut hat und aus der Natur kommt.“ Außerdem habe Rinde vermutlich auch antiseptische und entzündungshemmende Eigenschaften. „Spannend!“, sagt Materialforscherin Michaela Eder. Sie hatte mit der Modedesignerin Johanna Hehemeyer-Cürten schon über Rinde für Kleidung nachgedacht. „Wir fanden immer: Diese Kühle, wie unangenehm! Aber bei einer Bandage ist die ja gerade gut.“

Die nächsten Workshops: Magic Machines und Pilze als Baumeister

Ein anderer Tisch hat sich mit dem australischen Paperbark-Baum beschäftigt. Dessen Rinde besteht aus vielen papierdünnen Lagen, die an manchen Stellen abblättern. „Wir stellen uns Jalousien daraus vor. Weil man sie schichten kann, lässt sich so gut die Helligkeit regulieren“, erzählt eine Spekuliererin. „Das ist auch sehr ästhetisch, eine Bereicherung für den Wohnraum. Es ist schön, wenn das Licht hindurchdringt und sich organische Strukturen an der Wand abbilden.“

Die letzte Gruppe widmet sich der Korkeiche, die Künstlerin und Designerin Maria Kobylenko klebt ihre Rinde auf Modelliermasse, andere schneiden Pflanzenbilder aus Zeitschriften aus. „Auf der Rinde an der Fassade wachsen Pflanzen, sie dient als Schwamm für Regenwasser.“ Rohre aus Borke führen nach unten, denn auch da sollen Pflanzen bewässert werden. „Ein Ökosystem, toll!“, findet Kristin Werner von „CollActive Materials“. „Mit unperfektem Material super gelöst, weil ihr verschiedene Strukturen miteinander kombiniert habt. Ich sehe da schon Verbindungen zu unserem übernächsten Workshop.“ Der heißt „Wachsende Architektur – Co-Design mit Pilzen“ und widmet sich wieder der spannenden Frage: Wie können wir intelligentes, aktives Material aus der Natur für eine mögliche Zukunft einsetzen?

Text: Vera Görgen

Die nächsten Workshops

9. Mai, 17 bis 20 Uhr „Open Lab Abend: Magic Machines aus Bio-Plastik“

13. Juni, 17 bis 20 Uhr „Open Lab Abend: Wachsende Architektur – Co-Design mit Pilzen“ (auf Englisch)

Futurium, Alexanderufer 2, 10117 Berlin

Ausstellung

Die Ergebnisse aus der Forschung und allen Workshops können nach und nach ab dem 4 Mai im Futurium Lab angeschaut und angefasst werden, in der Ausstellung „Materialzukünfte besuchen“ (Visiting Material Futures) im Rahmen des Schwerpunkts über Rohstoffe, „Schätze der Zukunft“.

Weitere Informationen

Zur Workshopreihe

Zu Matters of Activity (auf Englisch)

Zu Collective Materials