Im Dialog mit der Öffentlichkeit
Am 14. September vor 250 Jahren wurde Alexander von Humboldt geboren. Pünktlich zu diesem Jubiläum ist jetzt ein neues Buch erschienen: Prof. Dr. Christian Kassung (Institut für Kulturwissenschaft der HU) und Christian Thomas (BBAW) sind die Herausgeber der jetzt im Insel Verlag neu herausgegebenen Print-Ausgabe Alexander von Humboldt/Henriette Kohlrausch: Die Kosmos-Vorlesung an der Berliner Sing-Akademie. Die Ausgabe basiert auf digitalen Texten und Daten des Projekts Hidden Kosmos – Reconstructing Alexander von Humboldt’s „Kosmos-Lectures“, das in Kooperation mit dem Deutschen Textarchiv der BBAW von 2014 bis 2016 am Institut für Kulturwissenschaft der HU durchgeführt wurde.
Das Cover der neuen Ausgabe.
Foto: Insel/Suhrkamp Verlag.
Was wollen Sie mit dieser Print-Ausgabe der Kosmos-Vorlesung an der Sing-Akademie erreichen?
Prof. Dr. Chr. Kassung: Wir möchten mit unserer Edition einer Überstilisierung Alexander von Humboldts entgegentreten. Denn diesen als ‚ersten Klimaschützer‘, als ‚ersten Naturschützer’ oder als alleinigen Autor des vorliegenden Texts zu bezeichnen, ist schlichtweg ahistorisch. Uns ist wichtig, dass deutlich wird, wie modern dieser Text ist. Der Text ist stark, aber nicht im monumentalisierenden Sinne des 19. Jahrhunderts, sondern als eine Kollaboration des Vortragenden und seiner Hörerin und Nachschreiberin, Henriette Kohlrausch, sowie weiterer wichtiger Personen und Akteure in diesem Netzwerk.
Wieso ist es eine Kollaboration?
Chr. Thomas: Während der Recherchen für meine Dissertation, die ich derzeit abschließe, habe ich herausgefunden, dass es von der Nachschrift, die in der Berliner Staatsbibliothek liegt, zwei Abschriften gibt. Diese wurden 2010/11 über ein Auktionshaus zum Verkauf angeboten und befinden sich heute im Besitz zweier privater Sammler in der Türkei bzw. in Norwegen. Ich konnte anhand dieser Abschriften ermitteln, dass die Nachschrift kein anonymer Text ist – davon war man bis dahin ausgegangen – sondern aus der Feder von Henriette Kohlrausch stammt.
Prof. Dr. Chr. Kassung: Es handelt sich schon deshalb um einen kollaborativen Text, weil die einzelnen Vorlesungen, wenn man sie in normalem Vortragstempo einspricht, nur rund zwanzig Minuten Lesezeit umfassen, während Alexander von Humboldt in der Sing-Akademie etwa eineinhalb Stunden pro Vorlesung gesprochen haben dürfte. Die Verfasserin hat also radikal eingegriffen und gekürzt, sie hat das Gehörte kondensiert und konzentriert. Dennoch ist es ihr gelungen, einen in sich schlüssigen, ‚runden‘ Text zu produzieren. Ihr Anteil an der Textproduktion kann also gar nicht unterschätzt werden: Es war eben nicht nur ein Kürzen, sondern gleichzeitig ein Zuspitzen, wobei sie es zudem geschafft hat, in der Darstellung und den Formulierungen den typischen und besonderen ‚Humboldt-Ton‘ zu treffen.
Henriette Kohlrausch, geborene Eichmann: Selbstporträt.
Aus: Lili Parthey: Tagebücher aus der Berliner Biedermeierzeit.
Hrsg. v. Bernhard Lepsius. Berlin, 1926.
Wer war Henriette Kohlrausch?
Chr. Thomas: Henriette Kohlrausch hatte in Berlin den Mediziner Heinrich Kohlrausch, der zuvor Hausarzt der Familie Humboldt in Rom gewesen war, geheiratet und pflegte dadurch auch Bekanntschaft mit Caroline von Humboldt. Zur Zeit der Vorlesungen war sie in den Vierzigern, frisch verwitwet und nach dem Tod ihres zuletzt sehr kranken Mannes frei für eigene Beschäftigungen, zu denen neben kulturellen Aktivitäten immer auch wissenschaftliche Themen gehörten. Sie musste sich allerdings, wie so viele Frauen der Zeit, um diese Bildung selbst bemühen, da ihr ja der Zugang zur Universität verwehrt war. Henriette Kohlrausch war insbesondere an der Botanik interessiert und hat sich insbesondere um die Flora Berlins so verdient gemacht, dass Carl Sigismund Kunth später sogar eine Nelke nach ihr benannt hat: die Kohlrauschia!
Prof. Dr. Chr. Kassung: Für uns als Herausgeber hat sich das Problem der Autorschaft zunehmend zu einer Leitfrage entwickelt: Es handelt sich nicht bloß um den Reisebericht eines Autors oder um eine populärwissenschaftliche Darstellung naturwissenschaftlicher Erkenntnisse. Vielmehr wird man Zeuge eines Netzwerks unterschiedlicher Akteure, die gemeinsam am Wissen ihrer Zeit arbeiten. Die Prozesse werden zum Entscheidenden: Wie überhaupt kann Wissen gewonnen werden? Und welchen Anteil hat daran die bisher unbekannte Henriette Kohlrausch? Diese Fragen und ihre Relevanz diskutieren wir ausführlich in unserem Vorwort. Nicht nur aus symbolischen Gründen war es uns deshalb wichtig, dass Henriette Kohlrausch als Co-Autorin auf dem Cover genannt und gewürdigt wird, und eben nicht nur Alexander von Humboldt.
Worum geht es in den Vorlesungen?
Chr. Thomas: Humboldt hielt die Vorlesungen in Preußen, im damals in gewissen Hinsichten noch recht provinziellen Berlin, nachdem er aus der großen Welt zurückgekehrt war. Er hatte eigene, ambitionierte Pläne für die weitere Entwicklung Berlins zu einem modernen Wissenschaftsstandort, in diesen Zusammenhang gehören auch seine ‚doppelten‘ Kosmos-Vorlesungen in der Berliner Universität und der Sing-Akademie. Letztlich geht es ihm dabei um einen Dialog mit der Öffentlichkeit.
Prof. Dr. Chr. Kassung: Er brauchte die Vorlesungen möglicherweise auch, um sich in Berlin ein neues wissenschaftliches Netzwerk aufzubauen. Die Lektüre des Kosmos zeigt ja vor allem: Wissenschaft ist nur in der Kollaboration möglich. Vielleicht liegt darin auch der Schlüssel dafür, dass Humboldt offensichtlich ein Gespür für die wichtigen und großen Herausforderungen der Physik hatte. Denn viele der Fragen, die in der Vorlesung angesprochen werden, konnten erst sehr viel später gelöst werden bzw. sind sogar heute noch ungelöst. Wir haben das intensiv mit Physikern der HU diskutiert, und es hat Adlershof und Mitte ein Stück näher gebracht.
Können Sie ein Beispiel für eine dieser ‚großen‘ Fragen geben?
Prof. Dr. Chr. Kassung: Humboldt führt in der 14. Vorlesung das sogenannte Olbers‘sche Paradoxon an: eigentlich müsste der Nachthimmel hell und nicht dunkel sein, weil es ja unendlich viele leuchtende Sonnen gibt. Dieses nicht-triviale Problem wurde letztlich erst mit Einsteins Allgemeiner Relativitätstheorie lösbar. Im 19. Jahrhundert musste beispielsweise die Theorie des lichtschwächenden Äthers, mit dem der Weltraum angefüllt sei – ein an sich ebenfalls paradoxes Konzept – als Erklärung herhalten.
Eintrittskarte zu Humboldts ‚Kosmos-Vorlesungen‘ in der Sing-Akademie.
Aus dem Nachlass der Familie Mendelssohn, Staatsbibliothek zu Berlin
– Preußischer Kulturbesitz, Signatur: Nachl. Familie Mendelssohn,
Kasten 2, Ser. B I, Nr. 236, http://kalliope-verbund.info/DE-611-HS-917727, Bl. 1r.
Was meint Humboldt mit dem Wort Kosmos beziehungsweise mit „Physikalischer Geographie“?
Prof. Dr. Chr. Kassung: Der Begriff „Kosmos“ kommt aus dem Griechischen und steht gleichermaßen für einen geordneten Zustand wie für etwas Schönes wie Schmuck – erkennbar übrigens auch unserem heutigen Wort „Kosmetik“. Ordnung und Schönheit wurden in der antiken Vorstellung synonym verwendet bzw. verweisen wechselseitig aufeinander. In den Vorlesungen geht es um die Beschreibung und die Geschichte der physischen Welt, also nicht nur um das, was wir im Alltagsverständnis mit dem Begriff „Kosmos“ im Sinne von „Weltraum“ oder „Universum“ verbinden.
Chr. Thomas: In unserem Vorwort betonen wir deshalb auch, dass die heute so genannten Kosmos-Vorlesungen nicht nur in Beziehung mit dem letzten großen Druckwerk Humboldts, also dem Kosmos. Entwurf einer physischen Weltbeschreibung (1845–62) stehen, sondern auch mit vielen weiteren früheren und späteren Publikationen Humboldts. Insofern ist das Label Kosmos-Vorlesungen in mehreren Hinsichten leicht irreführend. Von Humboldt selbst wurden die Vorlesungen auch gar nicht unter diesem Namen angekündigt, und wohl auch später nicht von ihm so genannt – jedenfalls gibt es keinen Beleg für diese Behauptung.
Interview: Dr. Anne Tilkorn
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Am 20. September 2019 findet in der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften eine Buchpräsentation mit den Herausgebern statt.