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Mit der VR-Brille unbewusste Gruppeneinflüsse offenlegen

Der Psychologe Marcel Brass hat mit Kolleg:innen verschiedener Disziplinen eine Überblicksstudie zu kollektivem Regelbrechen verfasst. Ein Gespräch über den Einfluss von Gruppen auf den einzelnen Menschen – und wie Forschung darüber uns weiterbringen kann.

Herr Brass, dass Menschen kollektiv Regeln brechen, lässt sich derzeit etwa bei eskalierenden Demonstrationen gegen Corona-Maßnahmen und Maskenverweigerern beobachten. Kann Ihre Studie solche Phänomene erklären, gar Abhilfe empfehlen?

Marcel Brass: Unsere Studie fasst zusammen, was sehr unterschiedliche Disziplinen zum Thema kollektives Regelbrechen beitragen können. Hierbei integrieren wir Erkenntnisse aus der Biologie, Psychologie, Soziologie und Physik. Jede Disziplin liefert einen anderen Blickwinkel auf das Phänomen. All diese zusammengeführt, ergeben ein komplexes Bild, in dem sich Zusammenhänge besser erkennen lassen. Wir sehen ebenso, wo es noch an Wissen fehlt, wo es sich weiterzuforschen lohnt. Einige Phänomene rund um kollektives Regelbrechen lassen sich so besser verstehen. Auch werden solche Erkenntnisse teilweise schon angewendet. Die Polizei zum Beispiel arbeitet ja bereits bei Demonstrationen mit Taktiken, um Situationen zu deeskalieren und dadurch Gewaltausbrüche zu verhindern. Warum das nicht immer funktioniert, ist eine Frage, der man nachgehen könnte. Das Gesamtphänomen des kollektiven Regelbruchs haben wir ohnehin noch nicht durchdrungen, lediglich einzelne Facetten davon.

Wie erforschen Sie als Psychologe den Einfluss von Gruppen auf einzelne Menschen?

Wir versuchen Gruppeneinflüsse im Labor unter kontrollierten Bedingungen zu untersuchen. Hierzu programmieren wir eine Virtual-Reality-Umgebung, geben Probanden eine Aufgabe und beobachten, wie sie reagieren. Im Labor können wir auch die Hirnaktivität mittels EEG erfassen. Hierbei handelt es sich um eine Methode die Hirnströme misst. Wir können dann aus der Hirnaktivität Schlüsse ziehen, welche Prozesse beim kollektiven Regelbrechen beteiligt sind. So können wir beispielsweise untersuchen ob emotionale Prozesse beim Regelbrechen eine Rolle spielen oder ob Konfliktverarbeitung stattfindet. Wir kommen darüber also auch zu Erkenntnissen über Vorgänge, die sich tief im Unterbewussten abspielen.

Dabei messen Sie etwa, inwiefern Menschen zur Nachahmung neigen, also: wie ansteckend Regelbruch ist. Wie gehen Sie dabei vor?

Wir bitten Probanden, eine vorgegebene Regel zu befolgen. So sollen sie etwa nach rechts gucken, sobald sie einen Knall hören und nach links, wenn sie das Zerspringen von Glas hören. Über eine VR-Brille sehen sie entweder eine Gruppe, die das Gleiche tut. Oder sie sehen, wie eine Gruppe das Gegenteil tut – also nach rechts guckt, wenn Glas zerspringt und beim Knall nach links. Die Probanden setzen die ihnen gestellte Aufgabe in der Regel schneller und genauer um, wenn die von ihnen beobachtete virtuelle Gruppe sich ebenso verhält. Wir gehen davon aus, dass sich darin eine unbewusste, automatische Nachahmungstendenz widerspiegelt, die die Grundlage der offenen Nachahmung bildet. Dieser Effekt nimmt mit der Größe der Gruppe zu. Wir vermuten, dass die gleichen kognitiven und psychologischen Mechanismen wesentlich dazu beitragen, dass Regeln in der Gruppe eingehalten oder gebrochen werden. Da wirken die gleichen Kräfte.

Gruppendynamik kann Individuen dazu bringen, Dinge zu tun, die ihnen eigentlich fern liegen. Bloß, weil wir alles nachmachen?

Der Einfluss einer Gruppe auf einzelne Individuen fängt schon früher an. Die Aufmerksamkeit Einzelner wird durch die Gruppe in eine bestimmte Richtung gelenkt. So beeinflusst also eine Gruppe die Wahrnehmung des Individuums und lenkt die Aufmerksamkeit. Auf dieser Basis treffen Individuen Entscheidungen, die im Einklang mit der Gruppe stehen. Wenn wir zum Beispiel eine rote Ampel überqueren, weil andere das auch tun, sind wir vielleicht durch diejenigen die losgehen so abgelenkt, dass wir die Ampel nicht beachten. Zerlegen wir den Prozess einer Entscheidung in verschiedene Komponenten, zeigt sich, dass Gruppen die Informationen beeinflussen, die Menschen aus einer visuellen Szene entnehmen. Stimmt das, worauf der einzelne Mensch achtet und was er wahrnimmt, mit dem Verhalten der Gruppe überein, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass er der Gruppe folgt.

Wie kommt man von solch psychologischen und soziologischen Aspekten zur Biologie und Physik?

Mein Blick als Psychologe hat das Individuum im Fokus. Wir untersuchen also in experimentellen Anordnungen wie das Individuum durch die Gruppe beeinflusst wird. Anne Nassauer als Mikrosoziologin betrachtet Gruppenverhalten in realen Situationen und untersucht, wie bestimmte Gruppendynamiken dort entstehen. Jens Krause als Gewässerökologe untersucht das Schwarmverhalten von Fischen und Vögeln, dabei spielt Nachahmung auch eine große Rolle. Der Physiker Pawel Romanczuk kann große Datenmengen mathematisch modellieren. Wir befassen uns alle mit demselben Thema, lediglich aus unterschiedlichen Perspektiven. Indem wir dieses Wissen zusammenbringen, können wir deutlich genauer als bislang verstehen – und zwar auf unterschiedlichen Ebenen –, wie sich Dynamiken entwickeln, die in den vergangenen Jahren verstärkt zu beobachten waren: von eskalierenden Demonstrationen bis hin zum Sturm auf das Kapitol in Washington oder auf den Reichstag in Berlin.

An Konflikten und Eskalation mangelt es derzeit nicht. Lässt sich aus solchen Ereignissen etwas lernen?

Videos, die von unzähligen Demonstrationen aufgenommen und gepostet werden, sowie GPS-Koordinaten von Handys der Demonstrierenden können in einigen Fällen relevante Daten für die Wissenschaft liefern. Darüber lassen sich Gruppendynamiken erfassen. Was in der Praxis beobachtet wird, kann die Grundlage für neue Hypothesen sein, die wir wiederum experimentell im Labor testen können.

Interview: Lars Klaaßen

Publikation

Jens Krause, Pawel Romanczuk, Emiel Cracco, William Arlidge, Anne Nassauer, Marcel Brass: Collective rule-breaking, Trends in Cognitive Sciences, Volume 25, Issue 12, 2021, Pages 1082-1095, ISSN 1364-6613.

Link zur Studie

Zur Person

Marcel Brass forscht über die neuronalen und kognitiven Grundlagen unseres Sozialverhaltens. Mit neurowissenschaftlichen Methoden ergründet der Psychologe zudem Handlungskontrolle und Willensfreiheit. Er hat zum Wintersemester 2020/21 an der Humboldt-Universität seine Einstein-Professur „Soziale Intelligenz“ angetreten. Darüber hinaus forscht er im Exzellenzcluster Science of Intelligence.