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Auf der Suche nach dem Kern des Urteilens

Was ist gut, was schlecht? Was ist schön, was hässlich? Was ist gerecht, was ist ungerecht? Mit diesen großen normativen Fragen beschäftigen sich die verschiedenen Bereiche der Philosophie seit über zweitausend Jahren. Heute besteht in der Philosophie weitgehend Einigkeit, dass Normativität eine der wichtigsten Kategorien für das Verständnis menschlichen Denkens und Handelns ist. Doch noch immer bereitet es Philosoph:innen Schwierigkeiten, zu verstehen, was Normativität eigentlich ist. Dr. Benjamin Kiesewetter möchte mit einer neuen Arbeitsgruppe am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität zu Berlin dieser Frage nachgehen und ein grundlegendes Verständnis von Normativität entwickeln.
Benjamin Kiesewetter

Benjamin Kiesewetter, Foto: Katrin Beushausen

Benjamin Kiesewetter hat an der Humboldt-Universität zu Berlin promoviert und unter anderem an der Australian National University und der University of California, Berkeley über Metaethik und Moralphilosophie geforscht. Mit einem Starting Grant des Europäischen Forschungsrats (ERC) baut er nun seine multidisziplinäre Arbeitsgruppe „REASONS F1RST – The Structure of Normativity“ auf, mit der er neue Wege in der Philosophie beschreiten möchte.

Herr Kiesewetter, ich beginne mal mit einer normativen Frage aus dem Alltag, die sich viele von uns stellen: Soll ich – trotz Klimakatastrophe und Coronapandemie – in den Urlaub fliegen? Eine Antwort können wir hier natürlich nicht finden, aber wie würde sich die Philosophie klassischerweise einer solchen Frage annähern?

In der moralphilosophischen Tradition gibt es verschiedene Ansätze, solche Fragen zu beantworten. Einer davon ist der Utilitarismus: Ihm zufolge sollte man immer die Handlung wählen, die die bestmöglichen Konsequenzen für das allgemeine Wohlergehen hat. Eine alternative Herangehensweise besteht darin, die Handlung auf eine verallgemeinerbare Regel zu überprüfen. Der kategorische Imperativ von Kant ist da ein typisches Beispiel: „Handle nur nach derjenigen Maxime, durch die du zugleich wollen kannst, dass sie ein allgemeines Gesetz werde.“

Ein Problem beider Ansätze ist, dass sie die Richtigkeit von Handlungen mithilfe eines einzigen Prinzips ermitteln möchten, das ausnahmslose Gültigkeit beansprucht. Die Erfahrung lehrt jedoch, dass ein solcher Prinzipien-Monismus der Komplexität der moralischen Realität nicht gerecht wird.

Deshalb hat sich in der Moralphilosophie des 20. Jahrhundert zunehmend das Bild durchgesetzt, dass moralische Fragen nicht durch Anwendung eines obersten Prinzips entschieden werden können, sondern durch Abwägung von Gründen, die für oder gegen Handlungen sprechen.

Das heißt, ich schaue mir die Gründe an, die dafür oder dagegen sprechen, in den Urlaub zu fliegen?

Genau, das ist das grundlegende Gerüst: Es gibt Faktoren, die mit einer gewissen Kraft für oder gegen bestimmte Handlungen oder Einstellungen sprechen. Das sind die Gründe. Es gibt Gründe, die dafür sprechen, in den Urlaub zu fliegen: Es bringt einem Entspannung, bereichernde Erlebnisse, man lernt vielleicht neue Leute und Gegenden kennen. Genauso gibt es natürlich eine Reihe von Gründen, die dagegen sprechen: Man belastet die Atmosphäre, wenn man fliegt oder könnte an Covid-19 erkranken. Die Frage „Soll ich das machen?“ läuft also auf die Frage hinaus „Sind die Gründe, die dafür sprechen, alles in allem stärker als die Gründe, die dagegen sprechen?“  

Interessant ist nun, dass wir mit diesem Ansatz auch normative Fragen aus anderen Bereichen der Philosophie verstehen können. So können wir in der Erkenntnistheorie die Frage „Ist diese Meinung gerechtfertigt?“ als Frage darüber verstehen, wie sich die Gründe für und gegen die Meinung zueinander verhalten. Und wir können in der Ästhetik die Frage „Ist dieses Kunstwerk schön?“ als Frage nach dem Verhältnis von Gründen für und gegen bestimmte ästhetische Emotionen verstehen. Die Hypothese meines Projektes ist es, dass wir ein umfassendes und systematisches Verständnis von Normativität gewinnen können, wenn wir alle normativen Urteile als Urteile über Gründe ansehen. Das ist die Grundidee des „Reasons First“-Ansatzes.

Können Gründe dabei helfen, Gemeinsamkeiten zwischen den philosophischen Teildisziplinen zu finden?

Ja, das ist eine der zentralen Arbeitshypothesen des Projektes. Betrachten wir etwa die in der Erkenntnistheorie verbreitete Annahme, dass Gründe miteinander aggregiert werden können. Diese Annahme besagt, dass zwei unabhängige Belege für eine Information gemeinsam schwerer ins Gewicht fallen als jeder für sich allein. Die Gründe, der Information Glauben zu schenken, sind dann gemeinsam stärker als ein vergleichbarer Grund für eine gegenteilige Auffassung, für den es keine unabhängige Bestätigung gibt. Sind die Gründe gemeinsam stark genug, können wir rationalerweise davon ausgehen, dass die Information wahr ist. Eine interessante Frage ist, ob diese Methode der Aggregation auf Gründe für Handlungen übertragbar ist, beispielsweise in der Moral. Denken Sie etwa an das vieldiskutierte Trolley-Problem, das mit der Debatte über autonomes Fahren in der angewandten Ethik wieder an Brisanz gewonnen hat. Darf ich – oder soll ich sogar – einen Wagen von einer größeren auf eine kleinere Gruppe umlenken, damit weniger Menschen sterben? Wenn wir davon ausgehen, dass wir für jeden Betroffenen einen Grund haben, ihn zu retten, dann würde die Aggregation von Gründen dafür sprechen, diese Frage zu bejahen.

Dieser Ansatz, Fragen in verschiedenen philosophischen Teildisziplinen als Fragen über Gründe zu verstehen, kann also durchaus dabei helfen, überraschende Gemeinsamkeiten zwischen ihnen aufzudecken. So geht es zum Beispiel in vielen Fragen der Erkenntnistheorie und der Moralphilosophie im Kern um die Frage, ob und wie Gründe miteinander aggregiert werden können. Und wenn diese Fragen tatsächlich einen gemeinsamen Kern haben, dann können die Bereiche der Philosophie viel stärker voneinander lernen als dies bislang der Fall ist. Deshalb hat der „Reasons First“-Ansatz das Potenzial, die Art und Weise, wie wir Philosophie betreiben, zu verändern. Das soll sich auch in meiner Arbeitsgruppe an der HU widerspiegeln: Das Team wird sich aus Mitarbeiter*innen zusammensetzen, die aus jeweils verschiedenen Teildisziplinen der Philosophie kommen und gemeinsam an einer bereichsübergreifenden Theorie der Normativität arbeiten.

Das Interview führte Artur Krutsch

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