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„Finanzmärkte und Meinungsmärkte sind gleich strukturiert“

Ob Meta oder Google: Aus Plattformen, die mit Informationen Geld verdienen, werden Monopolisten, die große Teile unseres Alltags bestimmen. Im Interview erklärt Joseph Vogl, warum diese Entwicklung zu einer Gefahr für die Demokratie werden kann und warum Literatur- und Kulturwissenschaften sich so gut dazu eignen, Finanzmärkte zu analysieren.
Joseph Vogl vor einem roten Hintergrund

Prof. Dr. Joseph Vogl, Foto: P. Rigaud

Dr. phil. Joseph Vogl wurde an der Ludwig-Maximilians-Universität München promoviert und ist seit 2006 Professor für Literatur- und Kulturwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin. Seit dem Buch Kalkül und Leidenschaft. Poetik des ökonomischen Menschen aus dem Jahr 2002 beschäftigt sich Joseph Vogl in mehreren Publikationen und Büchern kritisch mit der Kultur der Ökonomie. In dem zuletzt erschienen Buch, Kapital und Ressentiment. Eine kurze Theorie der Gegenwart, warnt er vor den Gefahren des modernen Internet- und Plattformkapitalismus.

Dieses Jahr ehrt die Internationale Günther Anders-Gesellschaft Joseph Vogl mit dem Günther Anders-Preis für kritisches Denken. Die feierliche Preisverleihung fand am 8. Mai in der Staatsbibliothek zu Berlin statt.

Herr Vogl, in der Laudatio zum Günther Anders-Preis für kritisches Denken werden Sie als Brückenbauer der Disziplinen bezeichnet. Wie kann die Literaturwissenschaft uns dabei helfen, den modernen Finanzkapitalismus zu verstehen?

Joseph Vogl: Zunächst durch eine sehr einfache Unterstellung: Ökonomisches Wissen, also auch das Wissen über Finanzmärkte, ist Interpretationswissen. Die Wirtschaftswissenschaft muss sich die Wirklichkeit nach bestimmten Kriterien zurechtlegen. Ökonomische Sachverhalte sind nicht einfach gegeben, sondern werden durch Weltinterpretationen, durch eine bestimmte Ausdeutung des Sozialen hergestellt. Das Besondere an solchen Interpretationen liegt darin, dass sie gewissermaßen selbsterfüllende Prophezeiungen erzeugen: Die Welt wird so ausgelegt, dass sie nach ökonomischen Gesetzen oder Prinzipien eingerichtet und programmiert werden kann. Und das ist natürlich für Literaturwissenschaften, die sich unter anderem für die Geschichte von Auslegungen, also für Auslegungswissen im weitesten Sinne interessieren, ein überaus ergiebiges Feld.

Brauchen wir also mehr Kulturwissenschaftler:innen, die sich mit Ökonomie und Finanzen beschäftigen?

Vielleicht sollte man daran erinnern, dass die ökonomische Disziplin eine recht junge Wissenschaft ist. Bis ins 18. Jahrhundert gehörten ökonomische Fragen zu einem eher abenteuerlichen Wissen, mit dem sich Philosophen und Theologen, Juristen und Mediziner, Publizisten und insbesondere Projektemacher beschäftigten. Diese zogen von Fürstenhof zu Fürstenhof und schlugen hier eine Lotterie, dort ein Papiergeldprojekt oder ein alchimistisches Experiment zur Sanierung der Staatsfinanzen vor. Mit Leidenschaft und intellektueller Erregung wurden alle möglichen Vorhaben zur Verbesserung Mitteleuropas in Umlauf gebracht: Ideen für Aktiengesellschaften oder Versicherungsunternehmen, zur Optimierung von Landwirtschaft, Manufakturen, Bergwerken oder der Geldzirkulation. Abgesehen davon, dass einige Größen der Aufklärung – Daniel Defoe, Voltaire, Isaac Newton, Gotthold Ephraim Lessing, John Locke und andere – selbst als passionierte Spieler, Spekulanten oder Investoren unterwegs waren, ist die Literatur dieser Zeit, sind Theater und Roman voll von ökonomischen Unternehmungen aller Art:  Wetten und Spielerglück, Staatsbankrott und Geldmacherei, säumigen Schuldnern, braven Kaufleuten, schlauen Bankiers oder gewieften Betrügern. Die Geschichte von Feldstudien der ökonomischen Geschäftigkeit führt in ein recht unübersichtliches kulturelles Terrain.

Und auch heute muss man wohl einsehen, dass sich Ökonomie und Finanzen nicht separatistisch betrachten lassen. Sie sind mit allen möglichen – auch kulturellen – Faktoren verflochten, mit Verhaltensweisen und Mentalitäten, politischen Interventionen und Lebensformen, mit einem breiten Inventar an Legenden und Imaginationen. Gerade das dominante Finanzregime sollte nicht allein sich selbst und seinen Experten überlassen werden, seine Geschichte und seine Funktionsweise verlangen vielmehr Außenperspektiven, eine Vervielfältigung von externen Beobachtern – und das können eben auch Kultur- und Literaturwissenschaftler sein. Man kann ja nie genug darüber wissen, wie die heutige Lebenswelt regiert wird.

Inzwischen beherrschen unsere digitale Lebenswelt einige wenige riesige Unternehmen. Wie ist es dazu gekommen?

Lassen Sie mich ein paar Faktoren für die Entstehung der Informations- und Internetindustrie nennen. Anfangs war es schwer, private Geldgeber für die Bewirtschaftung digitaler Netzwerke zu gewinnen. Erst nachdem man in den USA mehrere hundert Milliarden Dollar an öffentlichen Mitteln in die Netztechnik investiert hatte, wurden Privatunternehmen neugierig. Die Gesetzgebung half nach. Mitte der neunziger Jahre wurden per Gesetz nicht nur private Anbieter gegenüber öffentlichen Institutionen bevorzugt. Es wurde ihnen auch ein Haftungsprivileg garantiert.

Der berühmte Paragraph 230 im Communications Decency Act von 1996 besagt, dass kein Internet-Provider für die Verteilung von Inhalten verantwortlich gemacht werden kann, die von Dritten eingestellten wurden. Dadurch waren solche Firmen keine publisher mehr, sondern nur noch neutrale Vermittler. Der Boom der Tech-Unternehmen setzte ein. Nach dem Platzen der Dotcom-Blase 2000 wurde der Markt bereinigt, die großen Quasi-Monopolisten wie Google und Facebook entstanden. Zudem fand man ein Ei des Columbus im Geschäft mit Information. Da Information – wie die Ökonomen sagen – ein nichtrivalisierendes Gut ist, also durch Gebrauch nicht verknappt werden kann, lässt sie sich nur durch strikte Asymmetrierung profitabel verwerten. Das heißt: den Nutzern werden kostenlose Dienste angeboten unter der Bedingung, dass sie selbst keinen Zugang zu den von ihnen produzierten Rohstoffen, zu den Daten und Metadaten erhalten. User produzieren, was Plattformen verkaufen. Also: Privatisierung öffentlicher Infrastrukturen, Unternehmen, die für ihre Produkte nicht haften, und die Kapitalisierung von Information – so sind die neuen Meinungsmärkte entstanden.

Das heißt, die gleichen privaten Unternehmen, auf denen die Meinungsmärkte stattfinden, verdienen auch Geld mit unseren Äußerungen?

Genauer gesagt gibt es einen engen Zusammenhang zwischen Finanzindustrie und Plattformen. Einerseits sind Plattformunternehmen aller Art für Finanzinvestoren besonders attraktiv – kaum Kosten für Fixkapital, drastische Senkung von Lohnkosten, nicht-lineares Wachstum, systematische Steuervermeidung. Anderseits funktionieren Finanzindustrie und Digitalwirtschaft – und insbesondere soziale Medien – nach denselben Modellen.

Hier wie dort handelt es sich um Daten-Brokerage, um algorithmische Marktoperationen, automatische Reaktionszyklen und maschinelle Relevanzbewertung. Finanzmärkte und die Erregungen auf den digitalen Meinungsmärkten sind analog strukturiert. Am Horizont stehen dann Konzerne mit dem Verlangen, das Soziale insgesamt unternehmerisch zu bewirtschaften. Dabei geht es nicht nur um die Privatisierung öffentlicher Kommunikation, um die private Einrichtung von Währungssystemen, wie das Diem-Projekt von Facebook, oder um das Hereindrängen in staatliche und parastaatliche Aufgaben wie Polizeiarbeit und Gesundheitswesen, ein Unternehmen wie Palantir macht das vor.

Es geht vielmehr um die kommerzielle Produktion von Erregungs- und Pseudogemeinschaften, mit politischen Konsequenzen. Falschmeldungen verbreiten sich in sozialen Medien sechs Mal so schnell und hundert Mal so häufig wie überprüfbare Nachrichten. Und Facebook hat sich zurecht damit gebrüstet, 2014 einem Hindu-Nationalisten in Indien , 2016 einem rabiaten Republikaner in den USA und 2018 einem Rechtsextremen in Brasilien  zur Wahl verholfen zu haben. Solche Unternehmen haben die Infrastruktur für ‚Infodemien‘, für soziale und politische Mobilisierungen geschaffen, welche rechtstaatliche, demokratische Institutionen und Prozeduren aushöhlen.

Interview: Artur Krutsch