Sonderforschungsbereich 626
Ästhetische Erfahrung im Zeichen der Entgrenzung der Künste
Den Ausgangspunkt des neuen Sonderforschungsbereichs, der am 1.1.2003 eingerichtet wurde, bilden zwei in jüngerer Zeit zu beobachtende Entwicklungen: zum einen die zunehmende intermediale Vernetzung der Künste untereinander, zum anderen – im Zuge einer durchgreifenden Ästhetisierung der Lebenswelt – die Tendenz zur Aufhebung die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst.
Entgrenzung der Kunst …
Es gehört zur Signatur der Moderne, die Grenze zwischen Kunst und Nicht-Kunst beständig in Frage zu stellen und wieder neu zu ziehen. In jüngster Zeit ist jedoch zu beobachten, dass das Interesse an der Grenze selbst bzw. an der ‚Grenzperformanz’ der Kunst abzunehmen scheint. Eines der Anzeichen hierfür ist der Wunsch von Künstlern und Kuratoren, dem eigenen Tun, das der leeren Spielerei in einem autonomen, aber wirkungslosen ‚Betriebssystem Kunst’ verdächtigt wird, eine neuerliche Relevanz zu verleihen. Beispielhaft manifestierte sich dieser Wunsch in den Konzeptionen der beiden letzten „Documenta“-Ausstellungen. Ihr explizites Anliegen bestand darin, die Kunst aus ihrer Autonomie zu lösen und dem politischen und soziologischen Diskurs anzunähern. Die in diesen Ausstellungen sichtbar gewordene Ausweitung der Kunst auf die Felder von Soziologie, Politik, Ökonomie oder gar Wissenschaft hat eine Parallele in einem Weltzugang, der, über die Kunst hinaus, zunehmend ästhetisiert erscheint. Die Ästhetisierung der Lebenswelt erfasst dabei alle Lebensbereiche, vom Umgang mit dem eigenen Körper bis zur Vermittlung politischer Inhalte. Indem der pragmatische Weltzugang in wachsendem Maße von einem ästhetischen Weltzugang überlagert wird, wächst aber auch das Desiderat, Inhalt, Verlaufsform und Funktion ästhetischer Erfahrung zu begreifen.
… und der Künste
Eine zweite, sich in der jüngsten Vergangenheit beschleunigende Entgrenzungstendenz betrifft das Verhältnis der Künste untereinander. Die meisten der Kunstformen, die seit den 1960er Jahren entstanden – Konzeptkunst, Performance, Videokunst, Klanginstallation, neuerdings Computer- und Netzkunst –, zeichnen sich durch mehr oder minder ausgeprägte Intermedialität aus und entziehen sich der Zuordnung zu den klassischen künstlerischen Disziplinen. Die Entwicklung scheint dahin zu gehen, den Plural der Künste – mit den zusätzlichen Binnendifferenzierung in einzelne Gattungen – durch den material und medial schwer zu definierenden Singular der Kunst zu ersetzen.
Ziele
Angesichts dieser Entgrenzungstendenzen zwischen den Künsten einerseits, zwischen Kunst und Nicht-Kunst andererseits stellt der Sonderforschungsbereich (Sfb) die gegenläufige Frage, ob und inwieweit von der Eigenart ästhetischer Erfahrung die Rede sein kann, ob es innerhalb des Ästhetischen eine Eigenart der Kunsterfahrung, und schließlich, ob es innerhalb der Kunst eine besondere Erfahrung der einzelnen Künste gibt. Das Ziel besteht darin, die Ursachen und Motivationen, aber auch die Konsequenzen der skizzierten Entgrenzungstendenzen zu ergründen. Zugleich geht es dem Sfb um die Frage, wie die Kunstwissenschaften angemessen auf eine Entwicklung reagieren können, die die Kunst der Zuordnung zu den verschiedenen Kunstwissenschaften zunehmend entzieht. Ein erster Schritt stellt die interdisziplinäre Struktur des Sfb selbst dar. Er führt die in der universitären Praxis verstreut und zumeist ohne gegenseitige Kenntnis vorangetriebenen Forschungen, die sich auf die verschiedenen Künste beziehen, unter einem gemeinsamen Dach zusammen. So wird der Austausch zwischen ihnen intensiviert, ja in manchen Fällen überhaupt erst hergestellt. Indem zugleich das Konzept der ästhetischen Erfahrung in den Mittelpunkt gerückt wird, lassen sich die älteren und der Gegenwartskunst nicht mehr angemessenen essentialistischen, formalistischen oder normativen Definitionen des künstlerischen Gegenstandes überwinden. Denn aus dieser Sicht meint ‚das Ästhetische’ oder ‚die Kunst’ weniger eine bestimmte Eigenschaft von Objekten als vielmehr einen spezifischen Umgang mit den Objekten.
Kunst- und Kulturwissenschaften
Mit seinem methodischen Ansatz versucht der Sfb der Tendenz entgegenzuwirken, die Kunstwissen-schaften – und weiter noch: die Geisteswissenschaften – in der Sammeldisziplin der Kulturwissenschaften aufgehen zu lassen. Auf den ersten Blick scheint mit dem Konzept ‚Kulturwissenschaften’ zwar eine überzeugende Antwort auf die Entgrenzungsproblematik gefunden zu sein. Die damit einhergehende Deprivilegierung der Hochkultur gewinnt den gesamten Bereich der Populär- und Subkultur, der Medien und der Technik sowie der außereuropäischen Kulturen als legitimen Untersuchungsgegenstand hinzu. Der ‚cultural turn’ schließt einen Paradigmenwechsel innerhalb der einzelnen Disziplinen ein, der sowohl deren Vernetzung wie deren Öffnung auf Hervorbringungen und Phänomene der Lebenswelt ermöglicht. Zugleich aber favorisieren die Kulturwissenschaften eine Herangehensweise, welche die untersuchten Objekte vornehmlich als ‚Text’ versteht, d.h. als ein Ensemble lesbarer Zeichen. Diese Favorisierung von Zeichenhaftigkeit und Kognition muß die Dimensionen von Wahrnehmung, Erfahrung und Sinnlichkeit notwendigerweise vernachlässigen – und damit gerade jene Zugänge zum künstlerischen Objekt, die in der künstlerischen Praxis der Gegenwart mehr und mehr in den Vordergrund treten. Die kulturwissen-schaftliche Perspektive fasst Werke tendenziell als Dokumente auf und behandelt Formaspekte als solche der Aussage. Ästhetische Erfahrung bestimmt sie als die eines Gehalts und versteht sie kognitiv und diskursiv als Wissen. Aus dieser Perspektive lässt sich die Frage nach der Eigenart ästhetischer Erfahrung sowie nach der Eigenart der Kunst als eines besonderen Bereichs innerhalb des Ästhetischen gar nicht stellen. Damit aber blenden die Kulturwissenschaften von vornherein eine Dimension des Weltzugangs aus, deren Status und Eigenart erst noch zu bestimmen ist.
Zur Struktur des Sonderforschungsbereichs
Die Destablisierung der Konzepte der Kunst und des Ästhetischen zwingt dazu, die Fragen und Probleme in Verbindung ganz unterschiedlicher Perspektiven anzugehen. Am Sfb, den der Kunsthistoriker Prof. Dr. Werner Busch als Sprecher leitet, arbeiten folgende Disziplinen zusammen: die Philosophie, die Kunstwissenschaften – also Literatur-, Kunst-, Musik-, Theater- und Filmwissenschaft –, die Klassische Philologie, die Indologie, die Wissenschaftsgeschichte sowie die Wahrnehmungs- und Kognitions-psychologie. Insgesamt 13 Teilprojekte sind in drei Projektbereichen zusammengeschlossen: der erste Bereich widmet sich den Transformationen der ästhetischen Erfahrung seit dem späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart, der zweite der Spezifik der ästhetischen Erfahrung in den einzelnen Künsten, der dritte der Reichweite des Konzepts der ästhetischen Erfahrung in philosophischer, historischer, empirischer und kulturkomparatistischer Hinsicht. Am Sfb beteiligen sich – neben der FU Berlin als Sprecheruniversität – die Humbolt Universität Berlin, die Universität Potsdam und das Max-Planck-Institut für Wissenschaftsgeschichte Berlin. Die Deutsche Forschungsgemeinschaft fördert den Sonderforschungbereich in der ersten, vierjährigen Laufzeit mit insgesamt 4,2 Mio. Euro. Zusammen mit dem Interdisziplinären Zentrum für Kunstwissenschaften und Ästhetik, das an der FU Berlin bereits im Frühjahr 2002 eingerichtet wurde, hat er ein Haus in unmittelbarer Nähe zum Botanischen Garten in Berlin-Dahlem bezogen.
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