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„Bis heute immer wieder neue Anregungen“

Ein Gespräch mit Dr. Thomas Meyer über Georg Wilhelm Friedrich Hegel, dessen Geburtstag sich am 27. August 2020 zum 250. Mal jährt. Der Philosoph gilt als wichtigster Vertreter des deutschen Idealismus.

Herr Meyer, von Hegel stammt das Zitat „Die Freiheit ist das Denken selbst; wer das Denken verwirft und von Freiheit spricht, weiß nicht, was er redet.“ – Wie hätte Hegel auf die Beschränkungen in Zeiten der Corona-Pandemie reagiert und wie hätte er mit Kritiker*innen dieser Beschränkungen diskutiert und argumentiert?

Einerseits ist es ein Merkmal Hegels praktischer Philosophie, dass er sich konkreten normativen Fragen nicht direkt bzw. nicht als Philosoph gewidmet hat. Insofern wäre es ihm wohl auch nicht in den Sinn gekommen, sich als Philosoph in die Debatte um Corona-Maßnahmen einzumischen. Andererseits ist der freie Wille ein zentraler Begriff in seinem Welt- und Gesellschaftsbild – womit sich einige Implikationen für die aktuellen Debatten ergeben.

Den freien Willen betrachtete Hegel sowohl bezogen auf Individuen, als auch bezogen auf die gesamte Gesellschaft: etwa unsere politischen, sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse. Eine zentrale Frage lautet dabei: Wie stabil muss die Struktur dieses gesamten Systems sein, um Freiheit zu realisieren? Vor diesem Hintergrund würde Hegel wohl Einschränkungen wie Masken-Pflicht und Abstandsgebote befürwortet haben, um die Gesundheitsversorgung zu stabilisieren. Hier scheint die freiheitsstabilisierende Funktion des Gesamtsystems die Einschränkung individueller Entscheidungs- und Wahlfreiheit für Hegel klarerweise zu übertrumpfen. Er hätte aber wohl auch einen Blick auf die drohende Krise für die Wirtschaft geworfen, die durch zu starke Einschränkungen Gefahr läuft, destabilisiert zu werden. Eine Auseinandersetzung mit den verschiedenen Formen von Freiheit – individuell wie gesamtgesellschaftlich –, die Hegel beschreiben hat, ist also nach wie vor spannend – auch wenn man bedenken sollte, dass die Verhältnisse zu Beginn des 19. Jahrhunderts in vielerlei Hinsicht anders waren, als heute.

Hegel beschreibt im Kapitel Herrschaft und Knechtschaft aus der „Phänomenologie des Geistes“ den Kampf um das Selbstbewusstsein, den der Knecht gegenüber seinem Herrn erringen möchte. Es geht dabei um Anerkennung und Abhängigkeit. Ein Thema was auch heute noch aktuell ist: prekäre Beschäftigungen, Proteste in den USA, soziale Unruhen etc. Was können wir heute daraus von Hegel lernen? Wie wichtig ist Anerkennung heutzutage – und warum?

Hegel hat sich dabei mit einem Thema auseinandergesetzt, das auch heute noch aktuell ist – bei allen Unterschieden zwischen der frühen Industrialisierung zu Hegels Zeiten und dem heutigen rasanten Wandel durch Digitalisierung. Wie damals tut sich auch heute noch ein gesellschaftlicher Widerspruch auf: Vor dem Gesetz sind wir als Bürger*innen alle gleich, wirtschaftlich sind wir das durch ungleiche Verteilung nicht. Mit dem Bild von Herr und Knecht hat Hegel allerdings keine realen Herrschaftsverhältnisse beschrieben, sondern abstrakte Strukturen.

Mit dem Begriff „Selbstbewusstsein“ bezeichnete er das Wissen eines Menschen um sich selbst. Laut Hegel kann ein Mensch diese Fähigkeit nur durch ein Gegenüber mit demselben Potenzial entwickeln: A muss von B anerkannt werden – und umgekehrt. Dieser Kampf um Anerkennung prägt unsere Gesellschaft, gibt eine Person gegenüber einer anderen nach, entsteht ein asymmetrisches Verhältnis. Das kann sich etwa in diskriminierenden Gesetzen äußern. Bei Gleichheit vor dem Gesetz kann die Ungleichheit in gesellschaftlichen Strukturen externalisiert sein. Ein interessanter Aspekt ist, dass Hegel dem Knecht eine privilegierte Position zuspricht. Als arbeitender, also produktiver Mensch erfährt der Knecht seine Selbstständigkeit. Der Herr hingegen genießt bloß das Produkt und verliert die Erfahrung seiner Selbstständigkeit.

Hegel betrachtet „Recht“, „Moralität“ und „Sittlichkeit“ als Bestandteile des freien Willens und umfasst diese als Formen des gesellschaftlichen Lebens. Würde er das heute auch noch so sehen – und warum hat Marx das kritisiert?

Wenn wir Hegels Verständnis von diesen Begriffen folgen, ist diese Beschreibung auch heute noch schlüssig. Mit „Recht“ meine der Philosoph in diesem Zusammenhang vor allem Privatrecht: Eine Person zu sein, bedeutet, Verträge abschließen und Eigentum erwerben können. Mit „Moralität“ begeben wir uns in eine sehr formale, abstrakte Handlungstheorie. Da geht es um Reflexion über die eigenen Bedürfnisse, das Abwägen von Vor- und Nachteilen. „Sittlichkeit“ meint konkrete Verhältnisse, die unser Leben prägen: politisch, ökonomisch, sozial – bis hin zur Familie. So bildet die bürgerliche Gesellschaft Märkte, schafft sich eine ihr gemäße Rechtsprechung und Exekutive. All das sind Selbstverwirklichungen des freien Willens in einem überindividuellen Sinne.

Hegel meinte nicht, dass sich da ein paar Leute zusammentun und beschließen: So machen wir das jetzt! Die Struktur entsteht unbewusst, die Reflexion darüber kommt erst nachträglich. Die Kritik an Hegels Philosophie lautete, dass er ein bürgerlicher Philosoph sei, der den Nachweis liefern wolle, dass die bestehende bürgerliche Gesellschaft vernünftig sei. Dass Hegel ein Recht auf Privateigentum als Voraussetzung für den freien Willen betrachtete, stieß Marx auf. Marx argumentierte, dass ökonomische Verhältnisse das Bewusstsein prägten, weshalb der bürgerliche Hegel voreingenommen und zu einem objektiven Blick nicht fähig sei. Nun kam aber auch Marx aus bürgerlichen Verhältnissen: Hätte er Recht, stünde die Frage im Raum, wie Marx dann die Kritik an Hegel hat schreiben können. Die bürgerliche Gesellschaft jedenfalls ist uns bis heute erhalten geblieben. An ihren Widersprüchen arbeiten wir uns nach wie vor ab. Ein Blick in Hegels Werk gibt bis heute immer wieder neue Anregungen.

Interview: Lars Klaaßen

Dr. Thomas Meyer ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrbereich für Klassische Deutsche Philosophie. 2018 promovierte er an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster im Fach Philosophie mit einer Arbeit über „Verantwortung und Verursachung in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts“.