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„Ich glaubte, dass ich nirgends besser studieren kann als hier“

Thomas Oberender, geboren 1966 in Jena, ist Autor, Dramaturg, Essayist und Intendant der Berliner Festspiele. Er studierte zwischen zwei Systemen - von 1988 bis 1994 - Theaterwissenschaften an der Humboldt-Universität, wo er 1999 promovierte. Er erinnerte sich vor einiger Zeit in einem Interview wie folgt:
Thomas Oberender

Thomas Oberender, Foto: Heike Zappe

Thomas Oberender, Sie begannen Ihr Studium der Theaterwissenschaften ein Jahr vor dem Fall der Mauer...

Thomas Oberender: Ich hab das Gähren im Land in der Armee wie unter der Käseglocke erlebt. Die war ja ein geschlossener Kosmos, der die Welt draußen komprimiert zeigte, auch wenn er versuchte, sich von ihr zu isolieren. Doch selbst in den Kasernen hat sich die Bewegung des Landes spürbar gemacht; viele Kameraden sprachen freier, als ich das vorher kannte. Als ich '88 rauskam, war klar, dass was Abenteuerliches im Gang ist.

Können Sie die Situation in Berlin und speziell an der Uni beschreiben?

Oberender: Im Studiengang prägten geistig sehr liberale Leute die Atmosphäre. In diesem Theoriestudium gab es Strukturen und Studienbedingungen, die eigentlich einer Kunsthochschule entsprachen. Wir waren zwölf Studenten. In West-Berlin waren es tausend. Man hatte ein sehr intimes Verhältnis zu den Lehrern. Die waren zwar alle in der Partei; aber alle auch irgendwie clever, offen, ein bisschen verschwurbelt, also um zwei linke Ecken denkend, aber eben so, dass dahinter ein freies Feld lag. Wie zum Beispiel mein Doktorvater, Professor Fiebach, der in Afrika unterwegs war. Sie hatten Reiseerlaubnis und haben sich mit Lyotard wie mit der Westberliner Schaubühne beschäftigt, sie führten uns ins intellektuelle Exil.

Der Parteileitung waren die progressiven Geister der Sektion Ästhetik/Kunstwissenschaften offenbar nicht recht; Ende der 80er Jahre drohte die Sektion wegen „Gorbatschowinismus“ abgewickelt zu werden.

Oberender: Gespürt habe ich ein Aufatmen unter der Dozentenschaft in der Wendezeit, denn intellektuell waren sie ja eh längst schon dissident, schrieben uns „Giftscheine“ für die Bibliotheken aus und ermunterten uns zu freier Rede, aber zugleich waren die Chefs nun nicht eben das, was man Straßenkämpfer nennt. Der ängstliche Parteisekretär - froh, endlich habilitiert zu sein - würde nicht in erster Reihe mitdemonstrieren, das war klar. Dennoch war an der Uni zu spüren, dass Frechwerden geht: dass das zum Erwachsenwerden gehört. Dazu sind wir ermuntert worden, zum Selberdenken, und ich danke ihnen dafür bis heute.

Wie schlug sich der politische Umbruch in den Studieninhalten nieder?

Oberender: Meinen allerersten Text, einen Essay über Heiner Müllers Inszenierung „Der Lohndrücker“, durfte ich in den Dramaturgischen Blättern des Deutschen Theaters veröffentlichen. Das war ziemlich verrückt, da ich ein Student des ersten Studienjahres war, ... In diesem Text sagte ich, dass es einerseits gut ist, wenn ein lange Zeit tabuisiertes Stück aus den Gründerjahren der DDR nun endlich gespielt werden kann. Wichtiger aber wäre, dass dieser Vorgang Folgen hat, die über die Aufführung hinausgehen – dass sich das Land verändert. Nur ästhetische Folgen oder Erfolge fand ich zu wenig. Und das konnte ich mehr oder weniger damals so schreiben, und es wurde gedruckt.

Hatte es für Sie Folgen an der Uni?

Oberender: Im Gegenteil: Unser Dramaturgieprofessor, Herr Kautz, befreite mich fortan von allen Prüfungen – als Erstsemestler (lacht)! Dozenten wie er waren Leute, die ihr Akademikerdasein als Lebensfreiraum genutzt haben. Im Grunde fand er uns zu recht ziemlich blöd, weil wir ahnungslos waren, und er doch immerhin schon die Nazizeit und die Stalinjahre überlebt hatte – und zwar mit Humor, also durch Schmerz geschärfte Intelligenz. Das wurde eben, wo es ging, weitergegeben. Insofern war da schon immer ein Loch in der Mauer.

Mit dem Mauerfall ergaben sich für Sie völlig neue Perspektiven...

Oberender: Das eine war, dass sich uns die Welt öffnete. Wir konnten nun auch Lehrangebote in Westberlin nutzen. Andererseits kamen auch Westberliner Studenten an die HU. Es sprach sich herum, dass es ein interessantes Studium ist und auch deutlich progressiver als im Westen. Auf einmal waren wesentlich mehr Studenten in der Universitätsstraße 3b. Statt aller zwei Jahre zwölf Leute waren es auf einmal 120, und bald wurden es drei- oder vierhundert.

Und Ihr Jahrgang?

Oberender: Wir blieben in der kleinen Gruppe bis zum Abschluss. Wir haben jedoch einen Unterschied in der Lehrkultur erlebt. Zuvor hat man die Lehrkräfte gesiezt und andersherum. Nun kamen sonnengebräunte, gut gelaunte junge Dozenten, die ihre Stühle selber in den Seminarraum trugen und mit unseren Kommilitoninnen flirteten (lacht). Das waren die '68er Einflüsse, es politisierte sich schnell wieder, allerdings in einem anderen Sinne, der viel mit Arbeitsbedingungen und Berufswegen zu tun hat.

Gleichzeitig begannen Sie ein Studium an der Hochschule der Künste, der heutigen UdK.

Oberender: Meine künstlerische Neigung führte dazu, dass ich mit dem Studiengang Szenisches Schreiben ein zweites, künstlerisches Studium in West-Berlin aufgenommen habe. Zwei Studien parallel studieren, das ging im Ausland nicht. Viele meiner Kommilitonen sind für ein oder zwei Semester ins Ausland gegangen, aber ich fand es immer viel zu aufregend, hier zu studieren.

Sie hätten auch in Wien, Westeuropa oder Amerika weiter studieren können. Warum entschieden Sie sich, das Studium an der HU in Ost-Berlin abzuschließen?

Oberender: Sie dürfen nicht vergessen, ich habe mir dieses Studium ja auch irgendwie erlitten. Die drei Jahre Wehrdienstzeit waren ein Opfer, das ich dafür gebracht habe. Ich war, als es endlich losging, so hungrig – ich habe sogar das Luftholen meiner Dozenten mitgeschrieben. Ich wollte alles wissen, das war mein Lebenstraum. Und ich war hochmütig genug zu glauben, dass ich das, was mich dort interessiert, sowieso nirgends besser studieren kann. Und vielleicht stimmte das sogar.

Das Gespräch führte Heike Zappe

Foto: Heike Zappe

Lesen Sie das vollständige Interview und sehen Sie sich das Video in Auszügen an.