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„Amtsverzicht – das wär’s gewesen“

Georg Essen, Leiter des Instituts für Katholische Theologie an der HU, über die Krise in der katholischen Kirche

DiFoto: Matthias Heydee katholische Kirche sei an einem „toten Punkt“, schrieb Reinhard Kardinal Marx im Mai an Papst Franziskus und bat ihn, angesichts des Missbrauchsskandals auf das Amt des Erzbischofs von München und Freising verzichten zu dürfen. Am 10. Juni hat der Papst den Rücktritt abgelehnt. Die Reaktionen von Fachkreisen, Betroffenen und Öffentlichkeit reichen von Anerkennung bis Unverständnis. Georg Essen im Gespräch über Verantwortung, Symbolpolitik und Reformbestreben in der katholischen Kirche.

Herr Essen, Kardinal Marx und Papst Franziskus berufen sich beide darauf,  die katholische Kirche müsse im Missbrauchsskandal endlich Verantwortung  übernehmen. Was ist dafür Ihrer Meinung nach der richtige Weg, Amtsverzicht oder nicht?

Sehr eindeutig wäre in meinen Augen der Amtsverzicht die geforderte starke Ausdruckshandlung. Der Erzbischof einer bedeutenden Diözese, der zugleich als Kardinal in der Weltkirche sehr einflussreich ist und obendrein zum engsten Beraterstab des Papstes gehört, bietet seinen Rücktritt an, um mit ihm auch eine Mitverantwortung für das strukturelle Versagen zu übernehmen, das den Missbrauch und seine Vertuschung allererst möglich gemacht hat. Die Wucht einer solchen Entscheidung entspräche dem Ausmaß der Katastrophe. Das wär’s gewesen!

Im Februar hatten Sie das Verhalten Kardinal Woelkis kritisiert, der trotz des Missbrauchsskandals im Erzbistum Köln im Amt bleiben will. Am Wochenende gab es Protestmärsche in Köln. Wird Kardinal Woelki jetzt doch noch zurücktreten müssen?

Die Süddeutsche Zeitung schrieb vor einigen Wochen über die Verhältnisse in Köln, dass Kardinal Woelki nur noch Macht besäße, seine Autorität hingegen längst verspielt habe. Das ist in meinen Augen der springende Punkt! Auch der Inhaber legaler Macht, die ein Erzbischof ja hat, ist nur so lange souverän, wie er der Zustimmung der ihm Anvertrauten noch gewiss und sicher sein darf. Die Proteste in Köln signalisieren, dass der Kardinal die Legitimität für seine Amtsführung eingebüßt hat. Ein solche Anerkennung kann er sich freilich nicht selbst geben, weil sie ihm als Zuspruch von Vertrauen frei gewährt werden muss.

Sie sagten auch: „Wer vom sexuellen Missbrauch in der Kirche spricht, muss ihre Sexualmoral zur Sprache bringen“. Es gehe auch um eine Korrektur des Frauenbildes. Spielt das in der aktuellen Diskussion überhaupt eine Rolle?

Es spielt eine große Rolle, zumindest für diejenigen, die bereit sind, die Strukturen kritisch mit in den Blick zu nehmen, die bereits im Keime Reformansätze verhindern. Alle Studien über den Missbrauchsskandal entlarven den in der Kirche herrschenden männerbündlerischen Klerikalismus, der ja nur noch peinlich wirkt und hier vor allem gerade auch auf Frauen. Auch decken diese Studien massive Defizite in den innerkirchlichen Leitungsstrukturen auf, die unter anderem deshalb dysfunktional sind, weil in ihnen bestimmte Umgangsformen und Kommunikationskulturen fehlen. Das wiederum hat auch damit zu tun, dass es keine Frauen in den Führungsetagen der Kirche gibt, die in einem rechtlich amtlichen Verständnis über Entscheidungs- und Leitungsvollmacht verfügen.

Viele Betroffene sehen in der Entscheidung von Papst Franziskus kirchenpolitische Symbolpolitik. Wie kann die Kirche zeigen, dass sie die Anliegen der Betroffenen ernst nimmt?

Jedenfalls nicht so, wie der Papst in seinem Brief diese Symbolpolitik inszeniert. Die Rollenprosa ist hier doch die Zwiesprache von Bruder zu Bruder, die wiederum durchherrscht wird vom Gehorsam, die der eine dem anderen schuldet. Ein frommer Brief über Schuld und Vergebung ist das Schreiben gewiss. Aber, wieder einmal, kommen die Opfer nirgends vor; deren Perspektive spielt zwar bei Kardinal Marx, nicht jedoch im päpstlichen Antwortschreiben eine Rolle.

Hat die Reaktion des Papstes den aktuellen Reformbestrebungen im „Synodalen Weg“ den Rücken gestärkt?

Das kann ich nicht einschätzen, weil alles andere als deutlich ist, wie denn nun die Zukunft von Kardinal Marx, immerhin einem der entschiedenen Befürworter des „Synodalen Weges“, aussehen wird. Keiner vermag zu sagen, wo im deutschen Katholizismus künftig sein Platz sein wird. Aber vielleicht ist es auch gar nicht an ihm, sich – erneut – konturenstark in der Öffentlichkeit zu positionieren. Man darf stattdessen sehr gespannt sein, ob die Deutsche Bischofskonferenz alsbald wieder sprachfähig wird und starke Zeichen in der Öffentlichkeit zu setzen vermag, mit dem sie deutlich signalisiert, dass der Kirche von Deutschland tatsächlich es ernst ist mit jener schonungslosen Aufarbeitung, von der bereits seit zehn Jahren gesprochen wird. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn die deutschen Bischöfe sich die Spiritualität des „toten Punktes“ zu eigen machen würden, die das Rücktrittsersuchen des Münchener Erzbischofs prägt.

Das Interview führte Cordula de Pous

Interview mit Georg Essen vom 25.02.2021: „Die Beschädigungen sind nachhaltig, der Vertrauensverlust bleibend“