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„Putins Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf Europa“

Prof. Dr. Susanne Frank und Prof. Dr. Silvia von Steinsdorff sprechen im Interview unter anderem über die Gründe von Russlands Angriff auf die Ukraine, die Wirksamkeit von Sanktionen sowie die Rolle der Kirchen.

Prof. Dr. Susanne Frank ist die Leiterin des Fachgebiets Ostslawische Literaturen und Kulturen an der Humboldt-Universität. Prof. Dr. Silvia von Steinsdorff ist seit Februar 2009 Inhaberin der Professur für Vergleichende Demokratieforschung und die politischen Systeme Osteuropas an der Humboldt-Universität zu Berlin.

 

Warum hat Russland die Ukraine angegriffen? Welche Absicht verfolgt Putin hinter diesem Angriff?

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Prof. Dr. Silvia von Steinsdorff
Foto: Stadtgören Fotografie

Prof. Dr. Silvia von Steinsdorff: Für den massiven Überfall auf die gesamte Ukraine lässt sich keine rationale Begründung finden. Offenbar hat Putin seine längerfristige Strategie plötzlich aufgegeben und die rational nicht nachvollziehbare Entscheidung zur dramatischen Eskalation der Situation getroffen. Wenn man hierfür überhaupt Gründe nennen kann, dann ist der offene Krieg allenfalls als Reaktion darauf zu deuten, dass die langfristige Strategie des kalkulierten Konflikts, der die Ostukraine schon seit Jahren destabilisiert hat, und die Drohkulisse gegen die EU und die Nato nicht die erwarteten Resultate gebracht haben.

Langfristig gesehen, verfolgt Putin zwei Ziele: ein außenpolitisches und ein innenpolitisches. Geopolitisch geht es ihm um die Stärkung der Rolle Russlands in der Welt und um die Wiederbelebung einer imperialen russischen Großmacht. Dabei spielen die wahrgenommenen Verletzungen und Verlustgefühle nach der Auflösung der Sowjetunion eine wichtige Rolle, die auch mit dem Verhalten westlicher Länder gegenüber Russland zu tun haben. Das rechtfertigt aber natürlich keinesfalls die gegenwärtige kriegerische Aggression. Und in dieser langfristigen Strategie Putins, Russland wieder zu einer Weltmacht zu machen, spielt die Ukraine eine zentrale Rolle.

Die Ukraine wird aber auch innenpolitisch als Bedrohung empfunden. Seit den pro-europäischen Massenprotesten auf dem Maidan 2013/14 besteht die Befürchtung, die zunehmend unzufriedene russische Bevölkerung könnte sich hier ein Beispiel nehmen. Gleiches gilt für die Orientierung des Landes Richtung Westen, Richtung Europa, und für die Liberalisierung der Gesellschaft. Russische Bürgerinnen und Bürger haben viele Kontakte in die Ukraine. Das kann man mit einer noch so effektiven Propaganda nicht komplett ausblenden. Insofern sind es auf jeden Fall auch innenpolitische Gründe, die dazu geführt haben, der eigenständigen, pro-europäischen Politik der Ukraine quasi einen Riegel vorzuschieben.

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Prof. Dr. Susanne Frank
Foto: privat

Prof. Dr. Susanne Frank: Putin hat seit langem die Vision der Wiedererrichtung des vorrevolutionären russischen Imperiums. Aus seiner Sicht war die Sowjetunion auch bereits ein Fehler. Und zwar deshalb, weil den Republiken, zumindest auf dem Papier, Unabhängigkeit bzw. eine weitgehende Autonomie zugesagt wurde. Putins Vision hat viel mit seinem Glauben und mit seiner Identifikation mit der orthodoxen Kirche zu tun, was man auch an vielen anderen außenpolitischen Äußerungen und Verbrüderungen, etwa mit Serbien, sieht. Aus dieser Perspektive ist für ihn Kiew die heilige Wiege Russlands und daher ein integraler Bestandteil Russlands und gehört gewissermaßen zum Kerngebiet dessen, was er als Russland versteht.

Prof. Dr. Frank, Sie haben Putins Glauben erwähnt. Welche Rolle spielen die Kirchen in diesem Angriffskrieg?

Frank: Die Beziehungen zwischen Ukraine und Russland sind sehr kompliziert. Die Ukraine ist ein sehr großes Land. Es gibt große Unterschiede zwischen dem Westen und dem Osten, der auch kulturell sehr nahe an Russland ist. Es gibt auch große Unterschiede was die Kirche betrifft.

Die Kirchenlandschaft in der mehrheitlich orthodoxen Ukraine ist ziemlich komplex. 2018 hat der Patriarch von Konstantinopel der Orthodoxen Kirche der Ukraine den Status einer autokephalen, also nicht dem Patriarchat unterstehenden Kirche zugebilligt. Daneben gibt es traditionell die Ukrainisch-Orthodoxe Kirche Moskauer Patriarchats, der auch das Höhlenkloster, das wichtigste und größte Kloster im historischen Kern von Kiew angehört, und schließlich die sogenannte unierte Kirche, die den Papst anerkennt. Auch aufgrund der kirchlichen Situation, gibt es viele Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich mit Russland verbunden fühlen. In der aktuellen Situation bedeutet das jedoch nicht automatisch die Übereinstimmung mit der Politik Putins. Gerade der Metropolit der Ukrainisch-Orthodoxen Kirche, Onufrij, hat kürzlich vehement Putins Angriffskrieg verurteilt und sich damit dezidiert vom Moskauer Patriarchen Kirill distanziert, der im Gegensatz dazu Putin die religiöse Rechtfertigung dieses Krieges liefert.

Warum ist die Ukraine so wichtig für Russland?

Von Steinsdorff: Zum einen ist die Ukraine die Brücke nach Westen. Und zum anderen ist die Ukraine die Wiege der russischen Identität. Es gibt eine tausend Jahre alte kulturelle und politische Verbundenheit zwischen diesen beiden Ländern. Die Ukraine ist für Russland aus strategischer, geopolitischer sowie kultureller und historischer Sicht bedeutsam.

Frank: Einfach gesagt, besitzt die Ukraine aus Sicht von Russland einen unüberschätzbaren hohen symbolischen Status. Es geht Putin sicherlich auch um Expansion oder um Macht gegenüber der NATO, aber diese symbolische Rolle der Ukraine ist sehr zentral.

Welche Auswirkungen wird der Angriff auf die Kultur haben?

Frank: Putins Angriff auf die Ukraine ist ein Angriff auf Europa. Aus seiner „eurasianistischen“ geopolitischen Perspektive erscheint Europa als Teil eines „westlichen“, atlantischen Bündnisses. „Westlich“ bedeutet für Putin: homosexuell aka moralisch verkommen, politisch inakzeptabel weil liberal und vor allem „Feind“ und „Bedrohung Russlands“. „Russophobie“ ist Putins Kampfbegriff, mit dem er den Westen in den Augen der russischen Bürgerinnen und Bürger als durch und durch russlandfeindlich malt. Tatsächlich wird Putins Angriff zur Folge haben, dass es nun im Westen wieder eine Tendenz geben wird, Russland insgesamt als barbarisch zu verurteilen. Es wird nicht nur so sein, dass keine Visa mehr vergeben werden, sondern russische Literatur wird noch weniger als in den letzten Jahren übersetzt werden und es wird Vorurteile gegen alle Menschen mit russischem Pass geben. Gerade auch für Russinnen und Russen selbst hat dieser Krieg schon jetzt katastrophale Folgen. Aber von Putin ist diese Konfrontation intendiert, da der europäische Geist, wie gesagt, aus Putins Sicht, verkommen ist und Russland von dieser „Pest Europa“ quasi bewahrt werden muss.

Es ist aber sehr wichtig zu sehen, dass Putin nicht gleich Russland ist! Bislang wurde in mehr als 60 russischen Städten gegen die militärische Aggression protestiert, tausende wurden deswegen in den Hauptstädten festgenommen. Vor allem für festgenommene Studierende haben diese Proteste schwerwiegende Konsequenzen, sie verlieren dann ihren Studienplatz. Zahlreiche wichtige Intellektuelle – allerdings vor allem solche, die gerade im Ausland sind – haben sich sofort mit mehr als deutlichen Reden gegen diesen unfassbar schlimmen Völkerrechtsbruch geäußert und nicht mit dem an dieser Stelle wirklich auf der Hand liegenden Vergleich mit der Aggression der Nazis 1941 verglichen und darauf hingewiesen, dass dieser Schritt unweigerlich in einer Anklage des internationalen Gerichtshofs und einer Verurteilung nach dem Vorbild der Nürnberger Prozesse resultieren wird.

Welchen Erfolg versprechen die verhängten Sanktionen gegenüber Russland?

Von Steinsdorff: In der Forschung gibt es viele Belege dafür, dass Wirtschaftssanktionen in den seltensten Fällen wirklich den beabsichtigten Erfolg erbringen. Nach der Annexion der Krim gab es westliche Sanktionen – auch wenn sie im Vergleich zu heute relativ mild waren. Die Sanktionen haben verschiedene Branchen in Russland unterschiedlich stark getroffen, aber sie haben insgesamt dazu beigetragen, dass das russische Wirtschaftswachstum stark zurückgegangen ist.

Zum Teil liegt die schwindende Unterstützung für Putin im eigenen Land sicher auch daran, dass Putins „Gesellschaftsvertrag“ – ein immer besseres Leben für Russinnen und Russen im Gegenzug für die politische Unterstützung seines Kurses – durch diese Sanktionen immer schlechter funktioniert. Andererseits hat die russische Wirtschaft, gerade im Bereich der Konsumgüterproduktion, durchaus von den Sanktionen profitiert, weil die Konkurrenz der westlichen Importe weggefallen ist. Etwas Neues sind die Sanktionen, die jetzt einzelne Repräsentanten des Systems persönlich treffen sollen. Das sind nicht nur die klassischen Oligarchen, die in den meisten Fällen inzwischen ohnehin nicht mehr in Russland leben. Es geht vor allem um die Führungselite des „Systems Putin“, deren Kinder keine westlichen Schulen mehr besuchen können, und die keinen Urlaub in Südfrankreich mehr machen können. Das hat sicher einen symbolischen Effekt, aber es wird nicht dazu führen, dass der Krieg aufhört.

Wird sich Russland jetzt verstärkt China zuwenden?

Von Steinsdorff: Dass eine Allianz zwischen Russland und China entsteht, konnte man schon seit einiger Zeit beobachten. China profitiert von dieser Allianz. Gleichzeitig gibt es aber durchaus auch Interessenkonflikte zwischen Russland und China. Es entsteht wohl keine unverbrüchliche Freundschaft zwischen diesen beiden Ländern, sondern eher ein Zweckbündnis, das mehr China als Russland nutzen wird.

Frank: Für Russland ist es natürlich extrem wichtig, mit China befreundet zu sein oder zu kooperieren. Und das tun sie ja auch wirtschaftlich. Ich glaube jedoch nicht, dass China sich Putin anschließen wird, aber ich denke, dass sie aus dieser Situation Vorteile für sich ziehen werden.

Die Fragen stellte Kathrin Kirstein.

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