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„Gesellschaft wird von uns allen gemacht“

In der zweiten Folge unserer Reihe „Die BUA und ich – Protokolle aus dem Exzellenzverbund“ erklärt Prof. Dr. Manuela Bojadžijev, wie Solidarität mit Gesundheitsversorgung, Klimawandel und digitalen Infrastrukturen verbunden ist.


Die BUA und ich – Folge 2 mit Prof. Dr. Manuela Bojadžijev

Manuela Bojadžijev ist Professorin für Migration in globaler Perspektive am Institut für Europäische Ethnologie und am Berliner Institut für empirische Integrations- und Migrationsforschung (BIM). In der von der Berlin University Alliance (BUA) geförderten Forschungsgruppe „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“ untersucht sie, wie Solidarität in den Feldern Arbeit, Gesundheit und Wohnen ausgehandelt, ermöglicht oder verhindert wird.

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Die Wissenschaftlerin Manuela Bojadžijev erforscht in der
Forschungsgruppe „Transforming Solidarities. Praktiken und
Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“
Fragen der Solidarität, Foto: Stefan Klenke

Ich bin der tiefen Überzeugung, dass eine Gesellschaft nur unter solidarischen Bedingungen gelingen kann. Daraus ergeben sich eine Reihe von wissenschaftlichen Fragen: Warum etwa ist Solidarität keine selbstverständliche gesellschaftliche Orientierung? Wie wird Solidarität verhandelt, ermöglicht oder gar verhindert? Welche solidarischen Infrastrukturen braucht sie? Und wie verändern solidarische Praktiken die Gesellschaft? In der interdisziplinären Forschungsgruppe Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft, die von 2020 bis 2024 von der Berlin University Alliance gefördert wird, arbeiten Forschende aus der Architektur, den Sozialwissenschaften, der Philosophie, der Medizin, der Antisemitismusforschung und der Europäischen Ethnologie aus unterschiedlichen Blickwinkeln an diesen Fragen. Wir konzentrieren uns dabei auf die drei zentralen Felder der Daseinsvorsorge Arbeit, Wohnen und Gesundheit und versuchen, neue Perspektiven auf die großen gesellschaftlichen Fragen unserer Migrationsgesellschaften zu finden.

Aus dieser gemeinsamen Arbeit ist eine besondere Methode entstanden: der Kiosk der Solidarität, der von unseren Partner*innen um den Architekten Dr. Moritz Ahlert von der Technischen Universität Berlin gebaut wurde. Dieser hat inzwischen zwei Design-Preise gewonnen. Worum geht es? Im Sommer 2023 nutzten elf Berliner Initiativen und Projekte den mobilen Kiosk nach ihren eigenen Vorstellungen an unterschiedlichen Orten in Berlin. Er war Gesprächs- und Anlaufpunkt für ganz verschiedene Menschen und brachte solidarische Praktiken für eine kurze Zeit direkt in den Stadtraum – etwa in ein besetztes Haus in Berlin-Mitte oder an die Universität der Künste in Charlottenburg.

Limonade gegen Sorgen

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„Wohnung zu finden“ steht auf dem leeren
Limonadenbecher, den ein Teilnehmer im Projekt
„Limonade gegen Sorgen“ beschriftet hat.
Foto: Stefan Klenke

Eine der Initiativen, die den Kiosk für sich nutzen konnte, ist das Gesundheitskollektiv Neukölln, in dem sich Ärzt*innen, Krankenpfleger:innen, Psycholog*innen und andere aus dem medizinischen Bereich organisiert haben, um die Gesundheitsbedingungen der Neuköllner Bevölkerung zu verbessern. Wir als Forschungsteam überließen den Kiosk dieser Initiative für eine Nutzung nach ihrer eigenen Vorstellung. Das Gesundheitskollektiv stellte den Kiosk an die Sonnenallee – eine der Hauptverkehrsadern Neuköllns – und startete das Projekt „Limonade gegen Sorgen“. Den Menschen, die zum Kiosk kamen, wurde eine Limonade angeboten. Im Gegenzug wurden sie gebeten, ihre Sorgen auf den Pappbecher zu schreiben. Aus der Ethnographie wissen wir, dass Menschen oft sehr zurückhaltend sind und sich fragen: Warum sollen wir wissenschaftliche Fragen beantworten, unsere Zeit opfern und von unserem Leben erzählen? Was haben wir davon? Das war hier anders. Der Kiosk hat geholfen, diese Hemmschwelle zu überwinden. Er ist ein Medium, mit dem Forschende, Akteur*innen aus gesellschaftlichen Initiativen und Menschen aus Berliner Kiezen zwanglos miteinander ins Gespräch kommen. Wir stellen also mithilfe eines architektonischen Objekts eine Kommunikation mit verschiedenen Akteur*innen im Stadtraum her. Und das ist neu.

Auf einem der Limonadenbecher steht der Wunsch „eine Wohnung finden“ – und Wohnungsnot ist in Berlin tatsächlich ein sehr aktuelles und drängendes Thema. Es gibt viele Obdachlose in der Stadt, besonders nach Corona sind die Zahlen noch einmal stark angestiegen. Auch die Mieten sind stark gestiegen und es gibt insgesamt zu wenig Wohnraum oder er wird falsch genutzt. Die Wohnungsfrage und Gesundheit sind eng miteinander verknüpft: Wer keine Wohnung hat, kann sich nur schwer um seine Gesundheit kümmern. Die Probleme auf dem Wohnungsmarkt betreffen nicht nur eine bestimmte Bevölkerungsgruppe, sondern sehr viele Menschen in der Stadt. Die Wohnbedürfnisse ändern sich in verschiedenen Lebensphasen: Viele Studierende leben in Wohngemeinschaften und suchen später eine kleine Wohnung mit Partner. Wenn Paare Kinder bekommen, brauchen sie größere Wohnungen, und wenn die Kinder aus dem Haus sind, suchen viele ältere Menschen wieder kleinere Wohnungen. Derzeit ist es aber kaum möglich, die Wohnform zu wechseln und etwa eine zu große Wohnung aufzugeben, weil es einfach keinen preiswerten Wohnraum mehr gibt und man am besten dort bleibt, wo man ist, wenn man eine Wohnung hat. Das führt zu einer systematischen Fehlsteuerung in der Stadt, die physische und psychische Probleme verursacht.

Gedanken und Forderungen der Menschen werden dokumentiert

Die Sorgen, Nöte, Geschichten und Wünsche der Bewohnerinnen und Bewohner finden über den Kiosk der Solidarität nicht nur den Weg in die Wissenschaft, sondern vor allem auch zu den verschiedenen sozialen Initiativen wie dem Gesundheitskollektiv, dessen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter die Gespräche sammeln und auch für ihre Arbeit auswerten. Welches Wissen ist daraus für sie entstanden, das es vorher nicht gab? Gleichzeitig konnte die Bevölkerung durch das Gesundheitskollektiv direkt auf der Straße beraten werden. Und der Kiosk hat sich im Laufe des vergangenen Sommers weiterentwickelt und die Erkenntnisse seiner Reise durch die Stadt aufgenommen. Auf dem Dach und an den Wänden kleben Slogans, Fragen, Plakate und Fanzines, die während seiner Wanderung durch Berlin gesammelt wurden. So dokumentiert und transportiert er die Forderungen, die die Menschen an den verschiedenen Standorten geäußert haben und die wir aufbereitet haben. Nun ist der Kiosk Teil unserer bis Mitte Januar erfolgreich laufenden Ausstellung „Spaces of Solidarity“ im Deutschen Architektur Zentrum (DAZ) und vermittelt diese Erkenntnisse noch einmal in anderer Form und für ganz andere Interessengruppen und Multiplikator*innen. Vielleicht ergeben sich daraus Denkanstöße, wie solidarisches Wohnen – vielleicht auch im Zusammenhang mit Arbeit und Gesundheit – in Berlin organisiert oder gebaut werden könnte.

Natürlich werten auch wir als Wissenschaftler*innen die gesammelten Daten aus und publizieren unsere Erkenntnisse. Dazu nutzen wir die aus der Ethnographie bekannten Methoden der „teilnehmenden Beobachtung“ und der „dichten Beschreibung“. Wir schauen genau hin und versuchen, die Situation ganzheitlich zu erfassen und zu interpretieren. Das geht weit über rein statistische Daten der Gesprächspartner*innen wie Alter, Geschlecht oder Staatsangehörigkeit hinaus. So können wir die sozialen Zusammenhänge und Bedingungen viel genauer beschreiben, interpretieren und auch theoretisieren. Auch diejenigen, die den Kiosk als soziale Initiative genutzt haben, wurden von uns in die Studie einbezogen.

Migration steht im Mittelpunkt

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Der „Kiosk der Solidariät“ ist noch bis zum 21. Januar in der
Ausstellung „Spaces of Solidarity“ im Deutschen Architektur
Zentrum (DAZ) zu sehen. Foto: Stefan Klenke

Das Engagement der sozialen Initiativen ist ambivalent zu sehen – und so sehen sie es auch selbst. Es zeigt zum Beispiel, dass unser Gesundheitssystem in eine Krise geraten ist und der Staat die Daseinsvorsorge teilweise nicht mehr gewährleistet. Es gibt zu wenig Personal in den Krankenhäusern, schlechte Arbeitsbedingungen und viele andere Probleme, die eine gute Gesundheitsversorgung gefährden. Gesellschaftliche Kräfte werden aktiv, um die Lücken zu füllen und die Missstände auszugleichen. Diese Erosion solidarischer Beziehungen in unserer Gesellschaft hängt auch eng mit der Globalisierung und Digitalisierung, mit finanziellen und logistischen Fragen zusammen. Es ist ein sehr komplexes Bild, das wir anhand von konkreten Schicksalen und Beispielen aus dem Alltag untersuchen können. Welche Mechanismen, Interessen und Akteur*innen verschlechtern die Solidaritätsbeziehungen?

Bei uns steht die Frage der Migration im Mittelpunkt und damit verbunden die feste Überzeugung, dass wir grundsätzlich von mobilen Bevölkerungen ausgehen. Berlin ist für uns eine Art Labor, weil sich hier das Zusammenleben in der Migrationsgesellschaft an vielen Stellen zeigt. Die Stadt wächst sehr schnell, gleichzeitig ziehen viele Menschen weg. Das Thema Flucht ist in dieser Stadt sehr aktuell – nehmen wir nur die Menschen, die vor dem Krieg in der Ukraine hierher geflohen sind. Es gibt die alteingesessene Migrationsbevölkerung und die junge Migrationsbevölkerung, die nach 2015 gekommen ist. Und es gibt die Exilbevölkerung, die in Berlin einen großen Anteil ausmacht. Viele Intellektuelle – etwa aus der Türkei, Israel oder dem Iran – sind hierhergekommen, weil sie in ihrer Heimat politisch oder religiös verfolgt werden oder weil sie hier eine demokratischere Gesellschaft vorfinden. In Berlin hatten sie lange Zeit viele Freiräume und die Möglichkeit, so zu leben, wie sie es wollten. Natürlich gibt es auch Streit um Migration. Bestimmte Diskurse finden auffällig oft vor anstehenden Landtagswahlen statt. Bei all dem ist die Frage der solidarischen Beziehungen ganz zentral. Wir müssen darüber nachdenken, wie Gesellschaft unter den Bedingungen einer mobilen Bevölkerung im 21. Jahrhundert neu verfasst werden muss. Darum haben wir auch zum Anlass unserer Konferenz die „Berliner Erklärung in Verteidigung der Migrationsgesellschaft“ verfasst und eine Veranstaltung mit wichtigen Stimmen aus der Gesellschaft am Theater „Hebbel am Ufer“ dazu organisiert.

Auch der Klimawandel ist eine Frage von Solidarität

Es gibt viele offene Fragen, die wir in Zukunft weiter erforschen wollen. Welche Rolle spielen zum Beispiel digitale Infrastrukturen bei der Veränderung des Verständnisses und der Praxis von Solidarität? Diese Kommunikations- und Technologieformate vernetzen viele Menschen weltweit, tragen aber auch zur Verbreitung von Fehlinformationen bei. Beeinflusst und verändert diese Art der Kommunikation unsere Vorstellungen davon, wer wohin gehört und wer welche Zugehörigkeit einnimmt? Auf der einen Seite werden alte, verkrustete Vorstellungen aufgeweicht, auf der anderen Seite wird durch destruktive, entsolidarisierende Diskurse viel zerstört. So müssen wir auch das Thema Klimawandel unter Solidaritätsaspekten betrachten. Denn er betrifft viele Ressourcen, die gemeinschaftlich bewirtschaftet werden – wie Wasser oder Boden. Das Beispiel der Firma Tesla in Grünheide zeigt, wie schnell das im Berliner Umland zu Konflikten führen kann. Wie also wird Wasser in Zukunft unter solidarischen Bedingungen bewahrt und verteilt? Viele Ressourcen sind begrenzt, manche müssen anders organisiert werden und wir müssen als Gesellschaft entscheiden, wie wir damit umgehen. Auch die Frage, wie städtische Infrastrukturen klimaneutral gebaut werden können, ist eine Frage der Solidarität.

Bei der Eröffnung unserer Ausstellung „Spaces of Solidarity“ sagte mir ein Zuschauer, er sei sehr beeindruckt, wie viele solidarische Initiativen es in Berlin gibt. Das macht deutlich: Gesellschaft ist nicht eine Frage des Appells an Zusammenhalt. Eine dynamische Gesellschaft wird von uns allen gestaltet. Aus unserer Zusammenarbeit mit den gesellschaftlichen Akteur*innen und Initiativen haben wir wichtige Erkenntnisse gewonnen. Diese gilt es nun in konkretes Handeln umzusetzen, auch in der Weise, wie wir wissenschaftlich zusammenarbeiten. Interdisziplinäres Arbeiten ist besonders wichtig und reicht von den Studien im Stadtraum, über den Bau von methodischen Instrumenten wie dem Kiosk, der gleichzeitig schon die solidarische Arbeit aufnimmt, bis hin zu gesellschaftstheoretischen Konzeptualisierungen. Das ist eine der wichtigsten Lehren, die ich bisher aus unserem Projekt ziehe: wie Wissenschaft auf diese Weise viel in der Gesellschaft bewirken kann.

Zum Projekt

Die Forschungsgruppe „Transforming Solidarities. Praktiken und Infrastrukturen in der Migrationsgesellschaft“ wird von 2020 bis 2024 als Exploration Project der BUA in der Grand Challenge „Social Cohesion“ gefördert. Beteiligt sind alle vier Verbundpartnerinnen der BUA.

Weitere Informationen

Zum Projekt

Zum Video „Berlin: Labor der Migrationsgesellschaft“

Über die Reihe „Die BUA und ich“ – Protokolle aus dem Exzellenzverbund

Die Humboldt-Universität bildet gemeinsam mit der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Charité – Universitätsmedizin den Exzellenzverbund Berlin University Alliance (BUA). In der Reihe „Die BUA und ich“ berichten Forschende und Mitarbeitende der HU von ihren Projekten, die mit Exzellenzmitteln gefördert werden.

„Die BUA und ich“ – Folge 1: Dr. Yong-Mi Rauch