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Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | Academic Freedom and Freedom of speech in the Public Sphere

Academic Freedom and Freedom of speech in the Public Sphere

veröffentlicht 15.04.2025
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Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | „In der biologischen Forschung gibt es eine große Reproduzierbarkeitskrise.“

„In der biologischen Forschung gibt es eine große Reproduzierbarkeitskrise.“

veröffentlicht 30.04.2025

Offene Forschung bietet viele Vorteile – trotzdem verbreiten sich Open Science-Standards nur langsam. Matthias König setzt sich als BUA Open Science Ambassador für mehr Transparenz in der Wissenschaft ein.



Matthias König

Matthias König ist einer der BUA Open Science
Ambassadors. Foto: Matthias König

Die Forschung nach Open Science-Standards bietet viele Vorteile. Doch warum etablieren sich diese Standards nur relativ schleppend? Welche Hürden gibt es für die Etablierung von Open Science in der Wissenschaft und was müsste passieren, damit das Thema Fahrt aufnimmt? Matthias König ist einer von 23 BUA Open Science Ambassadors, die für eine offene Forschungskultur an den Einrichtungen der Berlin University Alliance werben. Im Interview erzählt er, wie er und sein Team das Thema Open Science in der Biologie umsetzen.

Aktuell können sich Interessierte an allen Einrichtungen der Berlin University Alliance für die zweite Runde der Open Science Ambassadors bewerben. Als Botschafter*innen für offene Wissenschaft wirken die Open Science Ambassadors ab dem 1. August 2025 an der Umsetzung von Open Science in ihrer Community mit. Bewerbungen sind bis zum 2. Juni 2025 möglich. Mehr Informationen gibt es auf der Website der Berlin University Alliance oder bei der digitalen Informationsveranstaltung am 16. Mai 2025.

Wie sind Sie persönlich mit dem Thema Open Science in Kontakt gekommen?

Matthias König: Ich bin Gruppenleiter an der Humboldt-Universität und arbeite vor allem im Bereich Systemmedizin der Leber. Wir beschäftigen uns mit der Computermodellierung von biologischen und medizinischen Systemen, sogenannte Digitale Zwillinge. In diesem Kontext ist es eine große Herausforderung, eine Reproduzierbarkeit dieser Modelle zu haben – also dass auch andere Wissenschaftler*innen diese simulieren können und  die gleichen Ergebnisse erhalten. Das bedeutet, dass wir sehr auf offene Daten angewiesen sind, um diese Modelle zu füttern und unsere Vorhersagen zu überprüfen. Wir arbeiten auch viel mit offenem Code. In diesem Kontext bin ich stark mit den Themen Open Data und Open Science in Kontakt gekommen.

Was genau machen Sie als Open Science Ambassador?

König: Als Open Science Ambassador unterstütze ich die Arbeitsgruppen am Institut für Biologie dabei, ihre Computermodelle nach Open Science-Standards reproduzierbar zu machen. Das ist oftmals schwierig, weil es keine speziellen Ausbildungsprogramme oder Kurse dafür gibt. Meine Arbeit leistet da eine Hilfestellung, damit die Studierenden ihre Computermodelle möglichst offen gestalten können. Einerseits organisiert unsere Arbeitsgruppe Informationsveranstaltungen, um bestimmte Methoden, Computerbibliotheken oder Standards vorzustellen. Andererseits biete ich auch individuelle Beratung für Studierende an. Die Motivation dafür ist aus meiner eigenen Arbeit entstanden: Wir betreuen viele Studierende in unserer Gruppe, können deren Arbeit aber nur nachnutzen, falls sie sich an bestimmte Standards halten.

Damit meine Sie vor allem FAIRe Daten, richtig?

König: Genau. Die Daten sollten findable, accessible, interoperable und reusable sein. Vor ein paar Jahren haben wir uns beispielsweise im Rahmen einer EU-Initiative damit beschäftigt, Covid-Modelle, die den Verlauf der Pandemie vorhersagen, reproduzierbar und FAIR zu gestalten. Während der Covid-Pandemie gab es viel Förderung für Computermodellierung und dementsprechend viele Modelle, aber es war schwierig zu beurteilen, wie gut diese Vorhersagemodelle wirklich waren. Wir haben mehr als 30 Modelle in einen offenen Standard umgewandelt, damit jeder sie mit anderen Datensätzen wiederverwenden kann.

Wie steht es denn um Open Science in der Biologie – werden standardmäßig Modelle von anderen Forscher*innen reproduziert?

König: Das ist die Idee von Open Science – damit nicht jeder, der ein Projekt anfängt, bei null beginnen muss. Gerade in der biologischen Forschung gibt es jedoch eine große Reproduzierbarkeitskrise. Meistens ist es nicht möglich, die Daten einer bestimmten Publikation zu reproduzieren. Oftmals fehlen entweder die Methoden, genügend Informationen oder der Computer Code.

Ein weiteres großes Problem ist, dass vor allem in der Wissenschaft am Ende alles nach Publikationen bewertet wird. Deshalb wollen viele Forschungsgruppen ihre Datensätze oder Computermodelle nicht herausgeben, weil sie noch weitere Publikationen damit machen möchten.

Das hat ja auch etwas mit dem generellen Publikationsdruck in der Wissenschaft zu tun.

König: Genau. Meine persönliche Erfahrung ist, dass die Forschungs-Community zweigespalten ist. Auf der anderen Seite gibt es viele Personen, die die Vorteile von Open Science sehen: Wenn ich offener bin, werde ich häufiger zitiert, andere Wissenschaftler*innen verwenden meine Daten und ich bekomme neue Kollaborationen. Man kann dann gemeinsam versuchen, Forschungsprobleme zu lösen. Es gibt tatsächlich Studien, die zeigen: Umso offener die Daten sind, desto mehr werden auch die Publikationen zitiert.

Meine persönliche Erfahrung zeigt: Wenn die Daten nicht offen zugänglich gemacht werden, wird damit meistens nichts mehr gemacht, da die Studierenden und Forschende, die die Daten erzeugt haben, nicht mehr in der Arbeitsgruppe sind. Dieser Datensatz, der für die Forschungscommunity sehr wichtig und interessant wäre, geht dann verloren.

Für die Forschung wäre es also viel wichtiger, wenn man die Daten zur Verfügung stellt?

König: Genau. Es hat sich schon einiges in der Community getan, und auch in der Biologie wird die Forschung offener. Ein gutes Beispiel ist die Proteinstrukturanalyse. Schon vor Jahrzehnten wurde es zum Standard, dass man eine Struktur, die man aufgeklärt hat, in einer zentralen Datenbank ablegt. Dadurch gibt es heute eine sehr große Datenbasis und man kann heute keine Proteinstruktur mehr publizieren, wenn man diese nicht in die Datenbank ablegt. Das hat auch dazu geführt, dass in diesem Bereich mit Künstlicher Intelligenz gearbeitet werden konnte. Das hat das Feld der Proteinstrukturanalyse revolutioniert. Eine analoge Entwicklung wäre in allen Bereichen der Biologie und Medizin notwendig.

Sehen Sie das eher als Chance oder eher als Problem, dass auch die Künstliche Intelligenz auf diese Datensätze zugreifen kann?

König: Ich sehe das auf jeden Fall als Chance. Die künstliche Intelligenz sehe ich als Werkzeug, mit dem man neue Fragestellungen angehen kann. Sie wird die Wissenschaft nicht ersetzen. Die Herausforderung ist, dass viele Menschen nicht verstehen, was Künstliche Intelligenz eigentlich ist, und deshalb große Ängste haben. Das ist auch verständlich. Aber ohne Open Science und Open Data wird man die KI-Systeme nicht entwickeln können. Hier sind wir als Wissenschaftler*innen gefragt, aktiv zu zeigen, wie diese Technologien verantwortungsvoll eingesetzt werden können.

Welche Initiativen wären nötig, damit das Thema Open Science innerhalb der BUA noch mehr Fahrt aufnimmt?

König: Wir bräuchten alternative Evaluationskriterien für Research Outcome, für die Bewertungen von Wissenschaftler*innen und Lebensläufen, aber auch bei Einstellungen und Berufungen. In diesen Kriterien sollten die Faktoren Open Science und Engagement für die Community deutlich stärker gewichtet werden.

Da tut sich etwas, auch an der Humboldt-Universität, aber diese Prozesse gehen sehr langsam voran. Es ist natürlich schwierig, ein ganzes System von quantitativen Indikatoren hin zu alternativen Faktoren wie Engagement umzukrempeln. Diese sind deutlich schwieriger zu evaluieren und erfordern mehr Arbeit für die beteiligten Kommissionen. Deswegen geht dieser Prozess an Universitäten nur sehr langsam voran. Um einen internen Wandel zu schaffen, bräuchte es deutlich mehr Initiativen mit mehr finanziellen Mitteln. Diese Investition würde sich langfristig mehr als lohnen, durch die Mehrwerte, die durch Open Science erzeugt werden – von einer verbesserten Reproduzierbarkeit von Forschungsergebnissen bis hin zu einer stärkeren Zusammenarbeit in der wissenschaftlichen Community.

Wie sieht ihre weitere Tätigkeit als Open Science Ambassador der BUA aus?

König: Ich bin für ein Jahr, also noch bis zum Ende des Sommers Open Science Ambassador. Diese Zeit würde ich gerne um ein weiteres Jahr verlängern. An der Humboldt-Universität organisieren wir demnächst einen Workshop, um alle Modellierer*innen aus der lebenswissenschaftlichen Fakultät zusammenzubringen und die Grundlagen von Open Science zu vermitteln. Damit hoffen wir auf einen Multiplikatoreffekt, so dass die Wissenschaftler*innen und Studierenden  dem Thema Open Science mehr Aufmerksamkeit schenken.

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zuletzt geändert 30.04.2025
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zuletzt geändert 30.04.2025
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Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | Hochschulautonomie zum Wohle der Allgemeinheit

Hochschulautonomie zum Wohle der Allgemeinheit

veröffentlicht 01.05.2025

Die Wissenschaftsfreiheit hat nicht nur eine individuelle, sondern auch eine institutionelle Seite. Die Hochschulautonomie ist teils explizit in Verfassungstexten verankert, jedenfalls aber im Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit.



Matthias Ruffert

Prof. Dr. Matthias Ruffert,
Foto: Dr. Lennart Gau

Die Wissenschaftsfreiheit schützt nicht nur einzelne Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler, sie hat auch eine institutionelle Seite. Diese Gewährleistung folgt der historischen Erfahrung, dass sich freie Wissenschaft in dafür geschaffenen Institutionen entfaltet – zum Wohl der Allgemeinheit. In Deutschland, aber letztlich weit darüber hinaus, ist dies untrennbar mit der Universitätsreform Wilhelm von Humboldts verbunden. Die Wissenschaftsfreiheit der Institution Universität findet auch heute noch Niederschlag in Verfassungstexten. So gewährleisten manche Landesverfassungen ausdrücklich die universitäre Selbstverwaltung, und in der Charta der Grundrechte der Europäischen Union aus dem Jahr 2000, die 2009 Bestandteil des verbindlichen Europarechts geworden ist, heißt es: „Die akademische Freiheit wird geachtet.“ Der Gerichtshof der Europäische Union hat diese Gewährleistung bereits gegen Ungarn in Stellung gebracht, als es das Orbán-Regime dort unternahm, der Central European University die Arbeitsgrundlagen zu entziehen.

Dort, wo – wie in Berlin – das Landesverfassungsrecht die Selbstverwaltung der Universitäten nicht ausdrücklich nennt, wird sie aus der Wissenschaftsfreiheit abgeleitet, die in Art. 5 Abs. 3 GG (und wortgleich in Art. 21 der Verfassung von Berlin) festgeschrieben ist. Das Bundesverfassungsgericht hat hier früh vorausschauend den Ton gesetzt und schon 1973 ausgesprochen: „Art. 5 Abs. 3 GG ist … eine das Verhältnis der Wissenschaft zum Staat regelnde wertentscheidende Grundsatznorm. Danach hat der Staat im Bereich des mit öffentlichen Mitteln eingerichteten und unterhaltenen Wissenschaftsbetriebs durch geeignete organisatorische Maßnahmen dafür zu sorgen, dass das Grundrecht der freien wissenschaftlichen Betätigung soweit unangetastet bleibt, wie das unter Berücksichtigung der anderen legitimen Aufgaben der Wissenschaftseinrichtungen und der Grundrechte der verschiedenen Beteiligten möglich ist.“, und ferner: „Organisationsnormen müssen den Hochschulangehörigen, insbesondere den Hochschullehrern, einen möglichst breiten Raum für freie wissenschaftliche Betätigung sichern, andererseits müssen sie die Funktionsfähigkeit der wissenschaftlichen Hochschule und ihrer Organe gewährleisten.“ Diese Leitsätze hat das Gericht bis in die Gegenwart immer wieder hervorgehoben.

Was aber sind „geeignete organisatorische Maßnahmen“? Wenn die Gesetzgebung das Organisationsrecht der Hochschulen schafft, woran soll sie gebunden sein? Die Folgerechtsprechung aus Karlsruhe hat hierfür das Kriterium der „Wissenschaftsadäquanz“ entwickelt. Organisationsrecht sowie letztlich alle die Universitäten treffenden Regelungen müssen sich daran messen lassen, ob sie gleichsam dem Wissenschaftsbetrieb dienen. Tun sie dies nicht, bedarf es einer Rechtfertigung, einem Gemeinwohlgut von Verfassungsrang, das kompetenzgemäß und in verhältnismäßiger Weise geschützt werden soll. Manche Regelung hat die verfassungsgerichtliche Prüfung nicht überlebt, so z.B. ein Hamburgisches Gesetz zur Entmachtung der Fakultätsgremien zugunsten der Dekanate. Auch heute gibt es Regelungen, deren verfassungsrechtliche Haltbarkeit mit großen Fragezeichen versehen werden muss. Manchmal kann man das durch einen kurzen Blick in die bundesverfassungsgerichtliche Rechtsprechung feststellen wie beim viel diskutierten Eingriff in die Stellenstruktur der Universitäten durch das BerlHG (der Verfasser dieser Zeilen vertritt einen Normenkontrollantrag gegen diese Regelung). Manchmal sind die Eingriffe subtiler wie beim gegenwärtig in Nordrhein-Westfalen diskutierten „Hochschulstärkungsgesetz“, durch das die Landesregierung ein „Hochschulsicherheitsrecht“ mit eigenen Tatbeständen und Sanktionen einführen will, weil vermeintlich das Straf- und Disziplinarrecht nicht hinreichend seien. Ob die sog. „Viertelparität“, also die gleichmäßige Beteiligung aller Gruppen einschließlich der nichtwissenschaftlichen Mitarbeiter in den Gremien der Universitäten, verfassungskonform ist, steht noch nicht fest; hierzu ist ein Verfahren in Karlsruhe anhängig. Auch über manche Auswüchse des Personalvertretungsrechts könnte in diesem Zusammenhang nachgedacht werden. Eine Universität ist eben keine Fabrikhalle und auch keine Bezirksverwaltung.

Wenn ein Verfassungsprozess verloren geht, weil sich die Hochschulpolitik verrennt, ist das bedauerlich, aber korrigierbar, wenn das Verfassungsgericht die Korrektur nicht schon selbst mit Gesetzeskraft ausspricht. Der „Federstrich des Gesetzgebers“, der auf einen Schlag alles ändern (und auch einmal zum Guten wenden) kann, ist eine in der Juristerei geläufige Metapher. Der Verlust wissenschaftlicher Reputation und Exzellenz durch wissenschaftsrechtspolitische Fehlentwicklungen ist indes erheblich schwerer heilbar – und nicht durch die Politik selbst, sondern nur durch die Wissenschaft.

Matthias Ruffert ist Professor für Öffentliches Recht und Europarecht an der Humboldt-Universität zu Berlin
 

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zuletzt geändert 01.05.2025
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zuletzt geändert 02.05.2025
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Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | Wer sollte nicht an der Universität sprechen?

Wer sollte nicht an der Universität sprechen?

veröffentlicht 02.05.2025 , zuletzt geändert 15.05.2025

An Hochschulen führt die Ein- oder Ausladung politisch exponierter Sprecher*innen oft zu Kontroversen. Die Entscheidung, wer sprechen darf und wer nicht, sollte sich an den Aufgaben der Universität orientieren.



Alternativtext

Romy Jaster and Geert Keil. Fotos: Johanna Wick,
Michele Taruffo Girona, Evidence Week

An der Universität entzünden sich Kontroversen über Wissenschaftsfreiheit häufig an der Ein- oder Ausladung politisch exponierter Sprecher*innen. Zunächst ist wichtig, die unterschiedlichen Rollen der Akteur*innen im Auge zu behalten: Über die Einladung zu einer wissenschaftlichen Veranstaltung entscheiden die einladenden Wissenschaftler*innen im Rahmen ihrer eigenen Forschungs- und Lehrfreiheit. Hochschulleitungen müssen nicht gefragt werden und auch keine Erlaubnis geben. Ministerien haben keine Weisungen zur Besetzung von Veranstaltungen zu erteilen. In Fällen, in denen massive Störungen drohen, kann allerdings eine Umplanung einer Veranstaltung erforderlich sein, um ihren sicheren Ablauf zu gewährleisten. An dieser Stelle kommen Hochschulleitungen ins Spiel. Dabei versteht sich, dass Sicherheitsbedenken nicht bloß vorgeschoben sein dürfen.

Politische und zivilgesellschaftliche Akteur*innen dürfen Einladungen kritisieren, auch in scharfer Form. Es ist kein Eingriff in die Wissenschaftsfreiheit, beispielsweise die Meinung kundzutun »Es ist unerträglich, dass hier einer Antisemitin eine Bühne geboten wird«. Forderungen nach Ausladung sind ihrerseits kritisierbar und müssen sich gefallen lassen, auf ihre politische Motivation hin befragt zu werden. Nach einem berühmten Argument des Philosophen John Stuart Mill sind Dissens und Meinungsvielfalt grundsätzlich erkenntnisbefördernd. Schon deshalb bedarf es besonders starker Argumente, anderen den öffentlichen Raum zu bestreiten, den man für sich selbst in Anspruch nimmt.

Aus der Perspektive von Wissenschaftler*innen, die eine Veranstaltung planen, stellt sich das Problem nicht als rechtliches dar: Sie wissen schon, dass sie einladen dürfen, wen sie für geeignet halten. Sie fragen sich, wen sie (nicht) einladen sollten und von welchen Überlegungen sie sich dabei leiten lassen sollten. Nicht alles, was rechtlich erlaubt ist, ist auch gute wissenschaftliche Praxis.

Aus unserer Sicht ergibt sich der entscheidende Gesichtspunkt aus der Aufgabe der Universität: An Universitäten wird Wissenschaft betrieben, also methodisch kontrollierte, ergebnisoffene, fehlbare Erkenntnissuche. Dieses Geschäft erfordert bestimmte Tugenden und wird durch bestimmte Laster beeinträchtigt. Dabei handelt es sich wohlgemerkt nicht um moralische, sondern um epistemische Tugenden und Laster. Bestimmte Einstellungen, Haltungen und Verhaltensweisen sind der ergebnisoffenen Erkenntnissuche zuträglich, andere sind ihr abträglich. Untersucht wird das in der Tugenderkenntnistheorie (virtue epistemology).

Beispiele: Personen, die vorgebrachte Belege ignorieren, sich Nachfragen beharrlich entziehen, anderen das Wort im Mund umdrehen, in Bedrängnis das Thema wechseln oder ihre eigenen Auffassungen gegen Kritik zu immunisieren suchen, zeigen damit, dass sie keine klärungs- oder erkenntnisorientierte Debatte führen wollen. Man kann diese Verhaltensweisen und Untugenden unter dem Begriff der intellektuellen Unredlichkeit zusammenfassen. Wo auch immer sie ihren Platz haben: Der ergebnisoffenen Erkenntnissuche sind sie abträglich.

Für eine Einladung an die Universität disqualifiziert man sich aus unserer Sicht nicht durch bestimmte inhaltliche Positionen, auch nicht durch eine tatsächliche oder vermutete Unzumutbarkeit für Zuhörende. Die Universität schützt weder Rechtgläubigkeit noch moralische Rechtschaffenheit, sondern ihre eigene DNA: dasjenige Mindestmaß an intellektueller Redlichkeit, das für die wissenschaftliche Erkenntnissuche unerlässlich ist. Wer diese Suche durch sein epistemisches und diskursives Verhalten sabotiert, nimmt sich gleichsam selbst aus dem Spiel.

Weitere Informationen

Weiterführende Literatur

Romy Jaster und Geert Keil forschen und lehren am Institut für Philosophie der Humboldt-Universität.

 

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zuletzt geändert 02.05.2025
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Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | Wissenschaftsfreiheit unter Druck: Transatlantische Entwicklungen und Herausforderungen

Wissenschaftsfreiheit unter Druck: Transatlantische Entwicklungen und Herausforderungen

veröffentlicht 14.05.2025

Politikwissenschaftlerin Tanja A. Börzel, Freie Universität



Die aktuelle Entwicklung der Wissenschaftsfreiheit sorgt auf beiden Seiten des Atlantiks für Aufregung. Während der kürzlich wiedergewählte US-Präsident Donald J. Trump amerikanischen Universitäten die Gelder streicht – mit der Begründung, sie würden zu viel für Diversity, Inclusion and Equity (DIE) und zu wenig gegen Antisemitismus tun –, ist Deutschland im Academic Freedom Index (AFI) aus der Spitzengruppe herausgefallen.

Prof. Dr. Katrin Kinzelbach, die den AFI maßgeblich mitentwickelt hat, betont, dass Wissenschaftsfreiheit in Deutschland – anders als in den USA – verfassungsrechtlich geschützt ist. Der AFI erfasst anhand von Experteneinschätzungen die tatsächlich realisierte Wissenschaftsfreiheit, die in Deutschland insbesondere durch die Förderaffäre des Bundesforschungsministeriums und den Umgang mit propalästinensischen Protesten beeinflusst wurde. Politische Versuche der Politik, in die Autonomie deutscher Hochschulen durch die Kürzung von Fördermitteln, Antisemitismusresolutionen oder Exmatrikulationsklauseln einzugreifen, sind – im Gegensatz zu den Entwicklungen in den USA – auf breiten gesellschaftlichen Widerstand gestoßen.

Die Drittmittelabhängigkeit deutscher Universitäten mag hoch und vielleicht zu hoch sein, aber die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) ist eine Mitgliederorganisation der Universitäten und keine Bundeseinrichtung. Das bedeutet nicht, dass es in Deutschland keine Einschränkungen der Wissenschaftsfreiheit gibt. Vielmehr beobachten wir einen zunehmenden „Chilling-Effekt“, der weniger durch direkte politische Einflussnahme als durch Dynamiken innerhalb der Universitäten und den Einfluss von (sozialen) Medien sowie Polarisierungsunternehmern erzeugt wird. Eine repräsentative Umfrage des Deutschen Zentrums für Hochschul- und Wissenschaftsforschung (DZHW) konnte im letzten Jahr allerdings keine strukturelle Kultur des „Cancelns“ feststellen.

Im internationalen Vergleich bleibt die Wissenschaftsfreiheit in Deutschland resilient. Das Land verfehlte nur knapp die obersten zehn Prozent des AFI, während die USA bereits vor Trumps Wiederwahl in die Gruppe der 20 bis 30 Prozent abgerutscht waren und mittlerweile hinter Kanada und Israel sowie der Schweiz und dem Vereinigten Königreich rangieren, die zu der Gruppe der 30 bis 40 Prozent gehören. Trumps konservative „MAGA“-Bewegung nimmt Universitäten als vermeintliche Bollwerke liberal-progressiver Werte ins Visier. Das verheißt nichts Gutes für die Wissenschaftsfreiheit.

Vor diesem Hintergrund gibt es in Deutschland Forderungen, die Kooperation mit US-amerikanischen Universitäten zu überdenken. Allerdings existieren keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass akademische Boykotte oder Sanktionen politischen Einfluss auf Regierungen ausüben. Solange Wissenschaftler*innen in den USA – ebenso wie in Israel oder der Türkei – ihre Stimme gegen illiberale politische Entwicklungen erheben, erscheint akademische Solidarität und nicht Boykott als angemessene Reaktion. Deutsche Universitäten haben ihre Kooperationen mit russischen Hochschulen, die den Angriffskrieg gegen die Ukraine unterstützen, beendet. Aber selbst in diesem Extremfall halten wir aus gutem Grund an individuellem Wissenschaftsaustausch fest.

Besonders wichtig ist die Vermeidung einer Doppelmoral: Während die Zusammenarbeit mit US-amerikanischen Universitäten infrage gestellt wird, bauen deutsche Hochschulen ihre Kooperationen mit Indien aus – einem Land, das im AFI noch schlechter abschneidet als Russland – und setzen die Zusammenarbeit mit China fort, das am unteren Ende des Indexes rangiert. Eine konsequente Wissenschaftspolitik sollte diese Widersprüche reflektieren und wissenschaftliche Zusammenarbeit in einem globalen Kontext kritisch, aber differenziert bewerten.

 

Weitere Informationen

Website Prof. Dr. Tanja A. Börzel

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zuletzt geändert 14.05.2025
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Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Grenzen

Die Freiheit der Wissenschaft und ihre Grenzen

veröffentlicht 15.05.2025

Verfassungs- und Europarechtler Christian Calliess, Freie Universität



Unser Grundgesetz erklärt in Art. 5 Abs. 3 GG : "Kunst und Wissenschaft, Forschung und Lehre sind frei". Der besondere Schutz der Wissenschaft basiert auf dem auch vom Bundesverfassungsgericht immer wieder betonten Gedanken, dass eine von gesellschaftlichen Nützlichkeits- und politischen Zweckmäßigkeitsvorstellungen freie Wissenschaft Staat und Gesellschaft im Ergebnis am besten dient. In verfassungsrechtlicher Perspektive ist Wissenschaft durch den nach Inhalt und Form als ernsthaft und planmäßig anzusehenden Versuch zur Ermittlung der Wahrheit definiert. Daran knüpft die Unterscheidung zwischen Wissenschaft und anderen Formen der Erkenntnisgewinnung und Kommunikation an. Wissenschaft zeichnet sich aus durch Rationalität. Nicht vom Begriff der Wissenschaft erfasst werden damit zum Beispiel Verschwörungstheorien und Pseudo-Wissenschaften.

Forschungs- und Lehrfreiheit, Publikationsfreiheit und ihre Grenzen

Ganz im Sinne des Humboldt’schen Ideals schützt das Grundrecht der Wissenschaftsfreiheit zum einen die Forschung. Diese umfasst die freie Wahl der Fragestellung und Methode, die Bewertung der Forschungsergebnisse sowie deren Verbreitung in Form von Publikationen, Vorträgen und anderen Formaten. Zum anderen ist die Freiheit der Lehre geschützt, also die wissenschaftliche Vermittlung der gewonnenen Erkenntnisse. Lehrende sind damit grundsätzlich frei in der Bestimmung des Inhalts, des Ablaufs und der Wahl der methodischen Ansätze in ihren Lehrveranstaltungen.

Die Wissenschaftsfreiheit gilt für alle, die eigenverantwortlich in wissenschaftlicher Weise tätig sind oder tätig werden wollen. Geschützte Personen sind nicht etwa nur Professorinnen und Professoren, sondern auch Habilitierende, Promovierende und Studierende, etwa bei der Forschung im Rahmen einer Bachelor- oder Masterarbeit. Geschützte Räume sind nicht nur Universitäten, sondern auch außeruniversitäre Forschungseinrichtungen und Privathochschulen. Diese können sich aber nur gegenüber dem Staat auf ihre Wissenschaftsfreiheit berufen, nicht aber gegenüber ihren Forschenden und Lehrenden, denn im Verhältnis zu diesen sind die Hochschulen selbst verpflichtet, die Wissenschaftsfreiheit zu achten. Beispiele für rechtfertigungspflichtige Beschränkungen der Wissenschaftsfreiheit sind das Verbot bestimmter Forschungsprojekte bzw. -themen (z. B. Zivilklauseln), besondere Genehmigungserfordernisse für die Forschung (z. B. Ethikkommissionen) oder auch universitäre Vorschriften hinsichtlich der Verwendung einer bestimmten Sprache.

Zugleich trifft den Staat eine Schutzpflicht gegen Beeinträchtigungen der Wissenschaftsfreiheit durch private Dritte. Und schließlich hat der Staat ein unabhängiges und funktionierendes Wissenschaftssystem zu gewährleisten. Zugleich haben die Universitäten Rahmenbedingungen zu schaffen, unter denen freie Forschung und Lehre praktisch möglich ist.

Auf den ersten Blick wird die Wissenschaftsfreiheit im Grundgesetz zwar ohne Vorbehalte und damit scheinbar absolut gewährleistet. Grenzen können sich jedoch aus anderen Schutzgütern der Verfassung ergeben. Hierzu zählt beispielsweise der Schutz der Grundrechte Dritter oder auch der Umwelt- und Tierschutz. Gefordert ist dann eine Abwägung mit dem Ziel, einen schonenden Ausgleich der Interessen herbeizuführen. Einzig für die Lehrfreiheit gibt es mit der Verfassungstreue eine explizite Schranke, sodass Lehrveranstaltungen nicht über wissenschaftlich fundierte Kritik am Grundgesetz hinaus zur verfassungsfeindlichen Agitation missbraucht werden dürfen. Damit korrespondiert die politische Treuepflicht der verbeamteten Professorinnen und Professoren, die die geltende Verfassungsordnung als schützenswert anerkennen, sich zu ihr bekennen und für sie eintreten müssen. Hingegen kommt dem beamtenrechtlichen Mäßigungsgebot nur dort eine Bedeutung zu, wo sie sich jenseits ihrer Fachgrenzen äußern.

Abgrenzung zur Meinungs- und Versammlungsfreiheit: Leitlinien einer komplexen und sensiblen Gratwanderung

Zwischen Wissenschaftsfreiheit einerseits und der in Art. 5 Abs. 2 GG geschützten Meinungsfreiheit anderseits gibt es Überschneidungen, beide stellen für die Demokratie bedeutsame Kommunikationsgrundrechte dar. Eine Abgrenzung ist notwendig, da die Meinungsfreiheit im Vergleich zur Wissenschaftsfreiheit leichter eingeschränkt werden kann. Für den Staat und die Universität ist es „einfacher“ auf die Äußerung eines Wissenschaftlers zu reagieren, wenn es sich bei dieser um eine Meinung und nicht um eine wissenschaftliche Äußerung handelt. Problematisch ist beispielsweise, wenn von Professoren Verschwörungstheorien unter dem Schleier der Wissenschaftlichkeit verbreitet werden. Dabei ist eine Grenzziehung nicht einfach, was es auch für Hochschulleitungen schwierig macht, auf die Äußerungen ihrer Hochschulmitglieder – z. B. durch eine öffentliche Positionierung oder Distanzierung – zu reagieren. Meinungen sind in erster Linie Werturteile. Sie sind unabhängig davon geschützt, ob sie begründet oder grundlos, emotional oder rational sind oder als wertvoll oder wertlos, gefährlich oder harmlos eingeschätzt werden. Auch Tatsachenbehauptungen werden geschützt, soweit sie Voraussetzungen der Meinungsbildung sind und nicht bewusst unwahr als Lüge geäußert werden. Wissenschaftliche Äußerungen zeichnen sich demgegenüber gerade durch ihre Rationalität aus, sie haben einen objektiven Richtigkeitsanspruch, der eng mit der Expertise des Faches verknüpft ist. Äußert sich also z. B. ein Wissenschaftler außerhalb seiner eigenen fachlichen Qualifikation, deutet dies eher auf eine Meinungskundgabe, nicht aber auf eine wissenschaftliche Äußerung hin. Die Unterscheidung zwischen einer wissenschaftlichen Äußerung und einer Meinungskundgabe ist in einer Zeit, in der die Wissenschaft eine zunehmend präsente Rolle in der Öffentlichkeit einnimmt und es vermehrt dazu kommt, dass die Universität zum Austragungsort politischer Konflikte wird, von besonderer Relevanz.

Damit ist zugleich ein weiteres Spannungsverhältnis angesprochen, das das Verhältnis zwischen Wissenschaftsfreiheit und Meinungs- und Demonstrationsfreiheit im Kontext der Universität anspricht. Mit Protesten auf dem Campus oder im Hörsaal wenden sich Studierende mitunter gegen Lehr- oder Vortragsveranstaltungen, deren personale Zusammensetzung oder die darin geäußerten Ansichten, manchmal fordern sie dabei ein bestimmtes Verhalten der Universitätsleitung ein. Die Versammlungsfreiheit gilt auch auf dem Campus öffentlicher Universitäten, nicht aber in Hörsälen und Seminarräumen, jedenfalls wenn sie für Lehrveranstaltungen genutzt werden. Hier gilt "nur" die Meinungsfreiheit.

Maßnahmen gegen Studierendenproteste auf dem Campus der Universität seitens der Polizei greifen zwar in die Versammlungsfreiheit der Studierenden ein, sie können jedoch insbesondere dann gerechtfertigt sein, wenn sie dem Schutz der Wissenschaftsfreiheit vor Störungen in Vorlesungen oder Vortragsveranstaltungen dienen. Mit dieser staatlichen Schutzpflicht korrespondiert das Hausrecht der Universitätsleitung, das an die Fachbereiche und Professuren delegiert sein kann. Im Rahmen der Abwägung ist insbesondere das Ausmaß der Störung der Lehrveranstaltung miteinzubeziehen. Relevant ist beispielsweise, ob es sich um eine kurze Ansage vor oder nach einer Veranstaltung handelt oder aber deren Durchführung insgesamt gestört oder gar verhindert wird. Es geht um Verhältnismäßigkeit. Denn der demokratische Rechtsstaat prägt auch die Rahmenbedingungen der Wissenschaftsfreiheit.

Weitere Informationen

Website Univ.-Prof. Dr. Christian Calliess LL.M. Eur

Humboldt-Universität zu Berlin | Presseportal | Themen | „Es gibt nicht die eine gute Stadtentwicklung“

„Es gibt nicht die eine gute Stadtentwicklung“

veröffentlicht 20.05.2025

Was bedeutet Gute Mobilität und wie sieht die urbane Mobilität der Zukunft aus? Diesen Fragen geht die Geografin Tobia Lakes im Projekt „Transform Mobility“ nach. In diesem interdisziplinären Projekt entwickeln Wissenschaftler*innen der Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin Lösungen für bedürfnisgerechte und verantwortungsvolle urbane Mobilität.



Was bedeutet Gute Mobilität und wie sieht die urbane Mobilität der Zukunft aus? Diesen Fragen geht die Geografin Tobia Lakes im Projekt „Transform Mobility“ nach. In diesem interdisziplinären Projekt entwickeln Wissenschaftler*innen der Humboldt-Universität zu Berlin, Technischer Universität Berlin und Charité – Universitätsmedizin Berlin Lösungen für bedürfnisgerechte und verantwortungsvolle urbane Mobilität. Das Projekt ist Teil der Initiative „Next Grand Challenges“, mit der die Berlin University Alliance Forschung zu großen Zukunftsfragen der Gesellschaft unterstützt.

Hallo Frau Lakes, wie sieht ihre Arbeit als Geografin in diesem Verkehrsprojekt genau aus?

Tobia Lakes: Mich interessiert vor allem das Thema Gute Mobilität im räumlichen Sinne. Wir entwickeln verschiedene Szenarien, wie Städte mit guter Mobilität aussehen könnten. Der Begriff „Gut“ macht deutlich, dass es sehr unterschiedliche Wertesysteme und Verständnisse von Mobilität gibt. Mich interessiert, wie man diese Werte in Indikatoren und räumliche Daten übersetzen kann. Zum Beispiel: Welcher Flächenanteil steht welcher Mobilitätsform, etwa parkenden Autos oder Fußgänger*innen, zur Verfügung? Anhand dieses Indikators kann man dann diskutieren: Wie sollte die Verteilung eigentlich sein? Was heißt Gute Mobilität?

Die Frage ist ja auch: Gut für wen?

Lakes: Genau. Wir wollen diese unterschiedlichen Interessen herausarbeiten. Das schließt auch Aspekte mit ein, die sich historisch in der Stadtentwicklung manifestiert haben, wie zum Beispiel die Fahrbahnbreite. So wollen wir Szenarien entwickeln, um zu zeigen, wie Gute Mobilität in unseren Städten aussehen könnte.

Mich interessiert besonders der Aspekt der Co-Benefits. Bei urbaner Mobilität gibt es ganz viele Maßnahmen, die vorteilhaft für verschiedene Ziele sind, etwa vor dem Hintergrund des Klimawandels oder von gesunden Lebensräumen. Gute Mobilität kann zum Beispiel ebenfalls die Luftqualität verbessern oder die Aufenthaltsqualität im öffentlichen Raum. Diese Co-Benefits möchte ich herausarbeiten, um zu schauen, wo es Synergien oder auch Zielkonflikte bei Zielen und Maßnahmen gibt.

Das Team ist sehr interdisziplinär: Die Wissenschaflter*innen kommen aus den Technikwissenschaften, der Philosophie, der Geographie und der integrierten Verkehrsplanung. Warum ist das vorteilhaft für so ein Verkehrsprojekt?

Lakes: Das Projekt ist bewusst interdisziplinär. So wird zum Beispiel aus der philosophischen Perspektive analysiert: Was ist gut? Was ist gerecht? Methodisch gehen wir unterschiedlich an die Fragen heran, aber wir haben die gleichen Ziele.

Es gibt nicht die eine gute Mobilität oder die eine gute Stadtentwicklung, sondern es ist ein Aushandlungsprozess mit der Zivilgesellschaft, bei dem Machtstrukturen und historische Entwicklungen eine Rolle spielen. Dieser Prozess klappt nur, wenn wir die unterschiedlichen Perspektiven mit einbeziehen. Ein Aspekt, der mir persönlich wichtig ist, ist Inklusion: Wie kann man Barrierefreiheit und Teilhabe ermöglichen und in der Mobilität mitdenken?

Das Projekt möchte eine Zukunftsvision entwickeln, die nicht primär an der Problemlösung des aktuellen Verkehrs ausgerichtet ist. Welche Vorteile hat das?

Lakes: Auch als Wissenschaftler*innen sind wir manchmal gefangen in existierenden Strukturen und Denkansätzen. Durch diese Herangehensweise können wir frei denken und völlig neue Visionen entwickeln. Das zeigt einen größeren Handlungsspielraum auf und öffnet den Fächer der möglichen Szenarien.

Wie soll die Zivilgesellschaft in das Projekt eingebunden werden?

Lakes: Den Ansatz der Zusammenarbeit mit gesellschaftlichen Akteur*innen finde ich unglaublich wichtig. Wir arbeiten mit den Organisationen Fuß e.V., ADFC, Changing Cities und Paper Planes zusammen, die jeweils für verschiedene Gruppen sprechen. Gemeinsam wollen wir eine Kampagne umsetzen, in der wir die Berliner Öffentlichkeit zu ihren Wünschen zu Guter Mobilität befragen. Ich bin sehr neugierig darauf, welche Ergebnisse wir erhalten und wie wir diese in unsere Forschung einbinden können.

Im Mobilitätssektor gibt es in Deutschland seit Jahrzehnten kaum Fortschritte in Sachen Klimaschutz. Inwieweit würde die Vision von Transform Mobility daran etwas ändern?

Lakes: Diese Vision würde große Veränderungen bringen: Auf der Ebene der Klimafolgenanpassung wären das zum Beispiel Maßnahmen wie die Begrünung des öffentlichen Raumes zur Hitzeanpassung oder geänderte Fahrbahnen mit durchlässigen Belägen statt Vollversiegelung zur Starkregenvorsorge. Auf der Ebene der Mitigation, also der Bemühungen, den Klimawandel abzuschwächen, wäre das beispielsweise die Reduktion des Individualverkehrs zugunsten von aktiver Mobilität wie etwa Radfahren oder Zu-Fuß-Gehen. Auch die bereits erwähnten Co-Benefits würden für mehr Klimaschutz im Verkehr sorgen, etwa durch die verbesserte Luftqualität und die Lärmreduzierung.

Ich möchte gern die Methoden der Geoinformationsverarbeitung und den geographischen Mensch-Umwelt-System Blick mit einbringen in das Projekt, denn es ist mir ein persönliches Anliegen, dass sich die Berliner Verkehrssituation weiterentwickelt. Wie kann es sein, dass man seit Jahren so viel weiß über nachhaltigere Mobilitätsformen, aber sich so wenig verändert?

Wie wollen Sie die Ergebnisse des Projekts in die Politik tragen, um etwas zu verändern?

Lakes: Die zwei Jahre Projektlaufzeit sind dafür sehr kurz. Aber dieses BUA-Projekt ist eingebettet in ein größeres Projekt an der TU Berlin, das fortgeführt werden soll. Mit unserer Kampagne versuchen wir, verschiedene Zielgruppen zu erreichen. Ich finde, dass gerade beim Thema Mobilität der Druck auch aus der Gesellschaft kommen kann, um etwas zu bewegen. Wenn man sich anschaut, welche Schwerpunkte aktuell in der Berliner Verkehrspolitik gesetzt werden, frage ich mich schon: Ist das die Berliner Gesellschaft, die das möchte? Ich glaube nicht. Dort setzt unser Projekt an und stößt einen Austausch mit der Gesellschaft an, um gemeinsam zu überlegen, wie eine neue Art der Mobilität aussehen könnte.

Interview: Ina Friebe

 

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zuletzt geändert 22.05.2025
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