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„Es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht gamifiziert ist“

In virtuellen Welten fühlt sich Christian Stein zuhause, ein VR-Headset ist sein wichtiges tägliches Arbeitsmittel. Warum das so ist und was er damit macht, erzählt er in der fünften Folge unserer Reihe „Die BUA und ich – Protokolle aus dem Exzellenzverbund“.


„Die BUA und ich“ – Folge 5 mit Dr. Christian Stein, Exzellenzcluster Matters of Activity

In das Innere von Wolken und Steinen reisen oder eine Schulklasse in Kenia besuchen – das und noch viel mehr ist ganz einfach über ein VR-Headset möglich. Dr. Christian Stein entwickelt am Exzellenzcluster Matters of Activity die virtuellen Umgebungen für diese digitalen Ausflüge. Er erforscht, wie Nutzer*innen damit interagieren und wie Gamification dabei hilft, Wissen auf neue Weise zu vermitteln.

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Dr. Christian Stein erforscht im Exzellenzcluster
„Matters of Activity“, wie mit Virtual Reality Wissen
vermittelt werden kann. Foto: Stefan Klenke

Ich habe Germanistik und Informatik studiert, in den Literaturwissenschaften promoviert und bin gerade im Endspurt meiner Habilitation in der Kulturwissenschaft. Damit bin ich so etwas wie ein interdisziplinäres Mischwesen. Es gibt aber ein Thema, das mich fachübergreifend seit vielen Jahren fasziniert: das Spielen. Spielen ist für mich die wichtigste Kulturtechnik des Menschen. Wir alle spielen zu fast jeder Zeit – auch wenn wir es oft gar nicht erkennen. Spielen kann Wissen vermitteln und erzeugen. Spiele erreichen und berühren uns intensiver als Musik, Texte oder Filme. Und es gibt kaum einen Bereich unseres Lebens, der nicht gamifiziert ist.

Im Exzellenzcluster Matters of Activity arbeite ich im Projekt „Object Space Agency“, in dem es um spielerische Formate des Wissensaustauschs zwischen Forschung und Gesellschaft geht. Wir entwickeln innovative Ausstellungsformate, die nicht nur Ergebnisse präsentieren, sondern das Forschen selbst in die Ausstellung hineinbringen. Natürlich nehmen Elemente und Prinzipien aus dem Spiel dabei eine große Rolle ein. Uns beschäftigt die Frage, welche Anknüpfungspunkte für gesellschaftliche Debatten die Wissenschaft bietet, wie Besucher*innen sich mithilfe von neuen Konzepten der Wissensvermittlung an der Forschung beteiligen können. Wir wollen zeigen: Wissenschaft ist eine Geisteshaltung, zu der auch Zweifeln, Irren, Scheitern und Nichtwissen gehören. Damit können wir in eine andere Art des Dialogs eintreten, der für unsere Gesellschaft ganz wichtig ist.

Mit VR mittendrin im Geschehen

Das VR-Headset ist für mich ein wichtiges tägliches Werkzeug. Mit Virtual Reality erweitern wir den physischen Raum und bauen einen virtuellen Raum mit ganz neuen Möglichkeiten auf. Wir können Dinge haushoch zeigen, die eigentlich unvorstellbar klein sind. Oder sehr langsam ablaufende Prozesse wie die Verwitterung von Gestein so beschleunigen, dass Jahrhunderte innerhalb weniger Sekunden ablaufen und somit von Menschen beobachtet werden können. Ich kann sogar die Größe eines Wassermoleküls einnehmen und mich in eine Wolke katapultieren, um sie von innen zu betrachten. Oder in einen Stein. Alles ist möglich.

Menschen sind räumliche Wesen und verstehen die Welt sehr stark über die Raumwahrnehmung. Das gilt auch für abstrakte Konzepte. Das VR-Headset ist wie ein räumlicher Computer, in den ich eintauchen kann und der ganz neue Lerneffekte erzeugt. Um solche virtuellen Räume zu erschaffen, arbeiten wir mit sogenannten Game Engines – das sind Entwicklungsumgebungen, die die notwendigen technologischen Grundlagen für dreidimensionale Räume liefern. Mit diesen Anwendungen kann man quasi alles programmieren und räumlich gestalten, was man sich vorstellen kann.

In einer VR-Umgebung sitzt man nicht vor einem Bildschirm, sondern man befindet sich mittendrin im Geschehen. Das verändert die Möglichkeiten von Interaktionen radikal. In der VR kann ich mit meinem Kopf in verschiedene Richtungen blicken, mit den Händen greifen, werfen oder tasten und so mit verschiedenen Objekten interagieren. In diesem Setting erforsche ich, an welchen Stellen die Nutzer*innen durch dieses neue Medium neugieriger werden und mehr über die vorgestellten Themen wissen wollen. Wie können wir die Umgebungen so gestalten, dass sie diese Neugier fördern und Interesse wecken und verstärken? Wo liegt der Mehrwert gegenüber bisherigen Formaten der Wissensvermittlung?

Das Digitale und das Materielle verbinden

Eine unserer Ausstellungen haben wir kürzlich in Buenos Aires gezeigt und dabei eng mit einer Künstlerin zusammengearbeitet. Die Besucher*innen konnten an einer virtuellen Reise teilnehmen und mit einem Fahrstuhl auf sechs verschiedene Etagen fahren. Jede Etage zeigte verschiedene aktive Materialien: eine digitale Abbildung von Bimsstein aus realen Daten eines CT-Scans, Gestein, das gerade verwittert und dabei an Echtzeitdaten des Wetters in Berlin gekoppelt ist oder Wolkenstrukturen, die unglaublich formenvielfältig sind und sich je nach Temperatur und Luftbewegungen verändern. Wir haben mit einer Vernebelungsmaschine und Ventilatoren sogar echte Wolken erzeugt.

Dabei wurde mit Sensoren gemessen, wie sich die Personen in der VR-Umgebung bewegten. Aus diesen Bewegungsdaten erschuf die Künstlerin mit Fäden live eine netzartige, gewobene Struktur. Damit entstand eine Verbindung zwischen dem Digitalen und dem Materiellen. Nach zwei Wochen hatten wir lange Warteschlangen, die bis vor das Museum reichten. Viele Menschen wollten an dieser Performance teilnehmen. Offenbar haben zahlreiche Besucherinnen und Besucher von ihrer Erfahrung erzählt und andere Menschen dafür begeistert.

In dieser Ausstellung entstanden zahlreiche spannende Gespräche zwischen den Besuchenden, den Kurator*innen und der Künstlerin. Was bedeutet eigentlich aktive Materie? Wie sehen wir die Welt um uns herum? Wie sehen wir uns selbst? In unserer kulturell tief verwurzelten Perspektive ist das Leben aktiv, die Materie dagegen leblos und passiv. Im Exzellenzcluster Matters of Activity verschieben wir diese Perspektive und fragen, welche Eigenaktivität Materie besitzt und wie sie unsere Welt gestaltet. Damit verschwimmen die wahrgenommenen Grenzen zwischen lebendig und nicht lebendig.

Virtuelle Formate für den Unterricht

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Eine Schulstunde in Kenia erleben oder als Wassermolekül mit den Wolken
reisen? Mit einem VR-Headset und der passenden VR-Umgebung ist das
möglich. Foto: Stefan Klenke

Eine unserer erfolgreichsten VR-Anwendung haben wir gemeinsam mit dem Verein „Wasser für Kenia e.V.“ für Schulen erarbeitet. Viele Tausende Schülerinnen und Schüler haben sie bereits genutzt. Wenn die Schüler*innen die Headsets aufsetzen, sitzen sie mit kenianischen Kindern in einer Klasse, erleben den Unterricht, lernen Wasserbauprojekte kennen, erkunden die Umgebung und erfahren, wie man vor Ort Wasser spart und speichert. Anschließend wird der Stoff in einer Unterrichtseinheit aufgearbeitet. Für dieses Projekt, das seit 2018 läuft, sind drei Koffer mit Klassensets von VR-Headsets kontinuierlich im Einsatz und bleiben jeweils einige Wochen an den Schulen.

Nach dieser Unterrichtseinheit veranstalten die Schulen Sponsorenläufe. Für jeden Kilometer, den die Schüler*innen laufen, zahlen die Familien einen Euro für Wasserprojekte in Kenia. Dabei haben wir einen überraschenden Effekt beobachtet: Wenn die Schüler*innen vor dem Sponsorenlauf an der Unterrichtseinheit mit dem VR-Lernmaterial teilgenommen haben, liefen sie durchschnittlich doppelt so weit. Durch das immersive VR-Erlebnis waren sie viel motivierter und engagierter.

Ein ähnliches Format entwickeln wir gerade für eine Unterrichtseinheit zum Thema Klimawandel. Mit einer 360 Grad-Kamera machen wir dafür Aufnahmen an Schulen in Kenia, in denen holzsparende Öfen gebaut werden. Diese Öfen, mit denen das Schulessen zubereitet wird, verbrauchen nur etwa halb so viel Holz wie traditionelle Öfen und mindern damit den Ausstoß von Treibhausgasen. Das Filmmaterial bauen wir in eine App ein, die für den Unterricht an Schulen in Deutschland genutzt wird.

Versteckte Schätze mit interaktiven Formaten heben

Um solche Projekte zu verwirklichen, arbeiten wir mit vielen Partnerinnen und Partnern aus dem Gamedesign, der Programmierung, Anthropologie, Architektur, den Materialwissenschaften oder der Kunstgeschichte zusammen. Und es kommen natürlich Partner*innen aus der Praxis dazu: aus Museen und Theatern, aus Schulen und Vereinen. Bei einem weiteren Projekt kooperieren wir derzeit mit Mediziner*innen aus der Charité. Hier filmen wir mit Spezialkameras neurochirurgische Operationen und entwickeln daraus Lehrmaterial. In virtuellen Umgebungen können junge Mediziner*innen damit die schwierigen Operationen üben.

Der gesamte Kulturbereich ist eine weitere Goldmine für interaktive Systeme. Museen haben unfassbar spannende Kulturschätze, die aber häufig gar nicht mehr richtig wahrgenommen werden, oft in Archiven versteckt sind oder keine zeitgemäßen Repräsentationsformen haben und damit viele Nutzer*innen ausschließen. Mit neuen interaktiven Formaten können wir kulturelle Teilhabe auf ein anderes Niveau heben. Wissensvermittlung kann spannend sein und zu einem richtigen Abenteuer werden – dieses Gefühl wollen wir wiedererwecken und weiterentwickeln.

Dafür sind technische Hilfsmittel hilfreich, aber gar nicht zwingend notwendig. Wichtiger ist die Perspektive auf das Spiel, das für mich das wichtigste Medium unserer Zeit ist. Es wird unsere globale Gemeinschaft künftig stark prägen und verändern. Damit sind natürlich starke kommerzielle Interessen verbunden und es haben sich mächtige Akteure auf diesem Feld positioniert. Alle Institutionen müssen darauf reagieren und überzeugende Anwendungen entwickeln. Gerade deshalb sollte sich auch die Wissenschaft intensiv mit dem Medium beschäftigen, Herausforderungen und Chancen erkennen, Orientierung bieten und beispielsweise Richtlinien für Entwickler*innen im kulturellen Bereich erarbeiten.

Zum Exzellenzcluster Matters of Activity

Was können wir von der Natur und traditionellen Kulturtechniken lernen?  Wie kann man die Eigenaktivität von Materialen gezielt nutzen, um nachhaltigere, widerstandsfähigere und gerechtere Herstellungs-, Produktions- und Lebensweisen zu erforschen und zu beeinflussen? Damit beschäftigen sich Forschende aus mehr als 40 Disziplinen im Exzellenzcluster Matters of Activity. Biologie und Technik, Geisteswissenschaften und Material, Natur und Kultur verschränken sich dabei auf neue Art und Weise und bringen überraschende Lösungen hervor.

Über die Reihe „Die BUA und ich“ – Protokolle aus dem Exzellenzverbund

Die Humboldt-Universität bildet gemeinsam mit der Freien Universität Berlin, der Technischen Universität Berlin und der Charité – Universitätsmedizin Berlin den Exzellenzverbund Berlin University Alliance (BUA). In der Reihe „Die BUA und ich“ berichten Forschende und Mitarbeitende der HU von ihren Projekten, die mit Exzellenzmitteln gefördert werden.

„Die BUA und ich“ – Folge 1: Dr. Yong-Mi Rauch

„Die BUA und ich“ – Folge 2: Prof. Dr. Manuela Bojadžijev

„Die BUA und ich“ – Folge 3: Dr. des. Desirée Hetzel

„Die BUA und ich“ – Folge 4: Bharath Ananthasubramaniam