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Der Globetrotter

Im Fernsten das Anziehendste zu sehen - das war Alexander von Humboldts stärkster Antrieb

Dass der Nachruhm so wandelbar ist wie das Schicksal selbst, trifft auch auf Alexander von Humboldt zu. Allerdings verfügte er mit der Belastbarkeit seines Körpers über eine erstaunliche Konstante. Er setzte ihn als eine Art Ein-Mann-Labor ein, indem er die Wirkung von Gift, den Effekt von Elektrizität und den Druck von Wasser ausreizte und Belastungen einging, deren Torturen selbst die Einheimischen der Bergregionen Südamerikas nicht gewachsen waren. Den Chimborazo bezwang er nicht ganz, aber mit zum Schluss blutenden Lippen und porösem Zahnfleisch bis an die 6.000 Meter gestiegen zu sein, gehörte zur Unbedingtheit, mit der sich Alexander von Humboldt allen Anforderungen aussetzte. In der Höhe wie im Dschungel immer wieder eine Art Russisch Roulette spielend, war er selbst am stärksten überrascht, wie unversehrt er die Strapazen seiner Expeditionen überstand, während andere durch Krankheiten ihr Leben ließen. Noch im Alter von 60 Jahren legte er 1829 auf seiner letzten Expedition nach Russland in einem halben Jahr tausende Kilometer bis zur Grenze nach China zurück.

Liberale Ausbildung

1769 in Berlin als Sohn eines preußischen, dem König nahestehenden, Offiziers geboren, erhielt Alexander von Humboldt, wie auch sein um zwei Jahre älterer, nicht minder berühmt gewordene Bruder Wilhelm, eine vorzügliche, liberale Ausbildung. Die Rohdaten seines Lebens bilden sein 1790 beendetes Studium in Göttingen und Hamburg, sein Staatsdienst als Fachmann für den Bergbau, den er zwischen 1791 und 1795 in Technik, Ausstattung und Ausbildung revolutionierte, und, als ein früher Höhepunkt, seine von 1799 bis 1804 reichende Reise nach Amerika, die ihn die Gegend des Orinoco, die Anden und das präkolumbische wie koloniale Mexiko erforschen ließ. Von 1805 bis 1807 folgte ein privilegierter Staatsdienst in Berlin, während dessen er den Einzug Napoleons miterlebte. Die Konsequenzen führten ihn 1807 nach Paris zurück, wo er seine 30 Bände umfassende Publikation der Amerikanischen Reise bis 1827 schrieb. 1827 nach Berlin zurückberufen, blieb er hier bis zu seinem Tod 1859, Paris bisweilen nachtrauernd.

Diese Umrissdaten verbergen so gut wie alle Widersprüche und Konflikte. Um nur wenige zu nennen: Er trat wie vor ihm vielleicht nur Las Casas und Montaigne für die Rechte und die Bewahrung der Kultur indigener Völker ein, vergriff sich in seiner religiösen Unempfindlichkeit und aus Forschertrieb in Südamerika aber in zumindest einem Fall am Ahnenbesitz und entwendete Skelette; er verurteilte die Sklaverei, thematisierte dies aber nicht gegenüber dem Gegner der Sklaverei Thomas Jefferson, der selbst Sklaven unterhielt; er war Universalist, wurde hierfür aber ebenso wie sein Bruder Wilhelm von jungen nationalrevolutionären Aktivisten als „Vaterlandsverräter“ gebrandmarkt. Als homo politicus hat seine Wertschätzung zumindest in Amerika und insbesondere in Kuba und Mexiko jedoch niemals nachgelassen, und sein Ruhm kann nur mit dem des legendären Befreiers Simón Bolívar verglichen werden, den er in Paris traf und mit dem er weiterhin korrespondierte.

Humboldt als Künstler

Alexander von Humboldt als bedeutenden, aber ebenso roboterhaft beschränkten Naturwissenschaftler einzugrenzen, wie es Daniel Kehlmann in seiner „Vermessung der Welt“ vorgenommen hat, mag als Charakterisierung eines Typus nicht ohne Reiz sein, wird der Person aber kaum gerecht. Der Haupteinwand liegt in Humboldts Geltung als Künstler. Er wurde vom Direktor der Leipziger Kunsthochschule, Adam Friedrich Oeser, und vermutlich auch von Daniel Chodowiecki zum Graphiker ausgebildet; 1786 hat er an der Kunstausstellung der Berliner Akademie teilgenommen. Wie vor allem seine Tagebücher der Amerikareise (1799 bis 1804) ausweisen, ist das künstlerische Vermögen ein wesentliches Element seiner Arbeit geblieben.Das überragende Beispiel bietet die diagrammatische Darstellung der Pflanzengeographie der Anden aus dem Jahr 1807, in der die Erscheinungen des Bodens und der Luftverhältnisse mit eingeschlossen waren. Sie wurde zum Muster einer universalen Pflanzenkunde. Hier zeigt sich eine Methode der großräumlichen Erfahrung, die für die umweltbezogene Erschließung unbekannter Weltregionen von entscheidender Bedeutung war. Die Zeichnungen der Amerikareise sind Meisterwerke des graphischen Suchens und Reflektierens und vor allem: des problemorientierten Darstellens.

Die Aufnahmen der Botanik Amerikas von Alexander von Humboldt und seiner Mitarbeiter, kürzlich vom ehemaligen Leiter des Botanischen Gartens H. Walter Lack in einer überwältigenden Publikation vorgestellt, zeugen in ihrer Gegenüberstellung der gesammelten Exemplare mit den teils kolorierten Kupferstichen von der schier atemberaubenden Präsenz der dargestellten Naturobjekte. Das pure Wunder, dass auch eine Großzahl der gesammelten und sorgfältig katalogisierten Pflanzen überlebt haben, lässt im Vergleich erkennen, dass in jeder Handbewegung ein analytisches Vermögen sitzt, das den Gegenstand sowohl darstellt wie auch durchdringt.

Mikrokosmen kleiner Kunstkammern

Das Zusammenspiel von Objekt, Papier, Zeichnung und Druck in Alexander von Humboldts Arbeit steht in der Tradition der Papiermuseen, wie sie seit den Kompendien der römischen Academia dei Lincei zu Beginn des 17. Jahrhunderts begründet worden ist. Hierin zeigen sich die Praxis und Reflexion des Sammelns, ohne die Alexander von Humboldt kaum angemessen gewürdigt werden kann. Während seiner Reisen hat er immer wieder Mikrokosmen kleiner Kunstkammern zusammengestellt, in denen sich Naturobjekte, Kunstwerke und Arbeitsmittel begegnen. All dies hat ihn auch für die Museologie interessiert. Wenig bekannt ist, dass er im Jahr 1807 die Idee eines Berliner Universalmuseums unter der Obhut der Akademie der Wissenschaften konzipiert hat, in dem die Kunstkammer des Schlosses den Kernbestand ausmachen sollte. Diese Idee wurde Jahrzehnte später durch den Generaldirektor der Museen, Ignaz Franz Werner Maria von Olfers, mit der Errichtung des „Neuen Museums“ auf der Museumsinsel realisiert.

In seiner universalen Forschungstätigkeit von der Physik über die Chemie zur Botanik, Zoologie, Klimakunde, Ozeanographie und Astronomie bis hin zur von ihm mitbegründeten Humangeologie ist Alexander von Humboldt vielleicht allein mit Gottfried Wilhelm Leibniz zu vergleichen. Seinem kritischen Anspruch nach ist vor allem Johann Gottfried Herder, der als radikaler Anti-Nationalist den Begriff des „Weltbürgers“ prägte, ebenso als geistiger Anreger Alexander von Humboldts zu nennen wie sein Göttinger Lehrer Georg Christoph Lichtenberg. Auch die Freundschaft mit Georg Forster, auf die Rüdiger Schaper in seiner Biographie besonders hingewiesen hat, wirkte sich entscheidend auf Humboldts Denken aus. Forster, der mit James Cook die Welt umsegelt hatte, war als Künstler, Sammler und Naturforscher bereits ein Vorbild, als beide im Jahr 1790 eine gemeinsame Forschungsreise antraten, die sie vom Niederrhein bis nach England führte und die auf Alexander von Humboldt wie ein zweites Studium wirkte. Forsters Ruhm verdüsterte sich in Deutschland, als er sich als Sympathisant der Französischen Revolution nach Paris begab,wo er in der Zeit des Terreur unter elenden Bedingungen, vereinsamt und entkräftet, starb. Eben dieser Forster aber wurde von Alexander von Humboldt im Vorwort seines Pflanzenbuches als „Freund“ angesprochen, „dessen Namen ich nie ohne das innigste Dankgefühl ausspreche“.

Wiederkehr weltweiter Anerkennung

Eine enge Beziehung verband Alexander von Humboldt auch mit Goethe, von dem er das Vertrauen in die Aussage der Gestalt und damit der Morphologie geradezu aufsaugte. Hieraus entstand jene unauflösbare Bindung von Materie und Gestalt, die heute in den Materialwissenschaften erneut virulent wird. Charles Darwin hat Alexander von Humboldt als seine „zweite Sonne“ bezeichnet, aber nach Erscheinen von Darwins „Origin of Species“ sind Humboldts Ideen und Verfahrensweise über lange Zeit als anachronistisch bewertet worden, weil er den methodischen Zug, die Welt gleichsam auf kontextlose, pure, aus Spezialfeldern gewonnene Daten zu reduzieren, nicht vollzogen habe. Genau dies aber begründet die heutige Wiederkehr weltweiter Anerkennung der Humboldtschen Leistungen. Als Naturwissenschaftler ist er seit geraumer Zeit erneut der Forscher der Stunde, weil er die lange, bis in die Renaissance reichende Tradition, den Makrokosmos als Ganzen zu denken und bis in den Mikrokosmos zu verfolgen, in kaum wieder erreichter Weise modelliert hat. Seine Kosmos-Vorlesungen der Jahre 1827/28, das wohl größte Ereignis der Wissenschaft im Berlin des 19. Jahrhunderts, bleiben der unvergängliche Ansporn aller Überlegungen, die auf das Ganze zielen, ohne auf die Präzision im Detail zu verzichten.

Was Alexander von Humboldt antrieb, wird im letzten Moment auch ihm selbst unergründlich geblieben sein. Möglicherweise liegt die Essenz in der fast resignierten Begründung, zu versuchen, den Chimborazo trotz aller Lebensgefahr, trotz des nur geringen wissenschaftlichen Wertes, und obwohl die Einheimischen zurückblieben, zu besteigen: „Das, was unerreichbar scheint, hat eine geheimnisvolle Ziehkraft.“

Autor: Horst Bredekamp