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„Er schreibt in Inseln und Archipelen“

Wagemutig, wissbegierig und dabei stets empathisch: Humboldt-Kenner Ottmar Ette beschreibt den Ausnahmeforscher

Alexander von Humboldt bereiste von 1799 bis 1804 die heutigen Länder Venezuela, Kuba, Kolumbien, Ecuador, Peru, Mexiko und die USA. Die Reise machte ihn zum berühmtesten Wissenschaftler seiner Zeit. Er kam mit vielen bahnbrechenden Erkenntnissen über Flora, Fauna sowie Geologie und reich an Begegnungen mit unterschiedlichsten Menschen und Phänomenen der Natur nach Europa zurück. Ottmar Ette, Professor für Romanische Literaturwissenschaft an der Universität Potsdam, kennt Humboldt und seine über 4500 Seiten umfassenden Amerikanischen Reisetagebücher wie kein Zweiter. Kürzlich erschien sein Buch „Alexander von Humboldt: Das Buch der Begegnungen. Menschen – Kulturen – Geschichten aus den Amerikanischen Reisetagebüchern“ im Manesse Verlag.

Herr Professor Ette, in Ihrem neuen Buch vergleichen Sie Humboldts Schreibstil mit Inseln und Archipelen. Wie kann man sich das vorstellen?

Humboldt hat eine komplexe Schreibweise, da er nicht linear, sondern in Textinseln schreibt, die sich – verteilt über Hunderte von Seiten – immer wieder aufeinander beziehen. Oft lässt er 50, 60 Seiten Platz, um später an dieser oder anderer Stelle über ein Thema weiterzuschreiben. Diese Schreibweise hat einen guten Grund. Er erarbeitet sich einzelne Bereiche immer wieder neu, wirft neue Fragestellungen auf, setzt sie mit anderen Themen in Relation. Die Tagebücher sind ein Journal des ständigen Dazulernens. Dabei sind Begegnungen immer zentral.

Welche Themen kehren immer wieder?

Ein gutes Beispiel sind die immer neuen Aspekte zur Sklaverei. 1799 kommt Humboldt das erste Mal in Cumaná mit Sklaven, Sklavenhaltern und -händlern in Kontakt. Als er 1804 das zweite Mal auf Kuba ist, hat er einen ganz anderen Blick. In der Zwischenzeit hat er unterschiedlichste Sklavereien kennengelernt, die Sklavenrevolution auf Haiti wahrgenommen. Er weiß mehr über die Arbeits- und Lebensbedingungen, stellt die politischen Zusammenhänge her. Humboldt ist von Anfang an für die Abschaffung der Sklaverei, kommentiert und kritisiert die kolonialen Zustände vehement. Mit der Zeit geht er viel stärker auf die Rechte der Sklaven ein.

Wie erarbeitete sich Humboldt Themen?

Er interessiert sich für alles; Menschen, Phänomene der Natur, politische Zustände, er beschreibt die Fortschritte der Reise. Er hat einen sehr intensiven, präzisen, aber auch einfühlsamen Blick auf die Welt. Für ihn ist es zentral, Lebensbedingungen kennenzulernen, zu wissen wie jemand arbeitet und lebt. Er stellt erst ganz viele Fragen, bevor er schreibt. Er begegnet den Menschen dabei immer mit großer Achtung, zum Beispiel den Minenarbeitern in Mexiko. Er besucht mehrere Minen und macht Verbesserungsvorschläge. Dabei schildert er mehrfach, unter welchen Bedingungen die Minenarbeiter arbeiten müssen, dass sie ausgebeutet werden. Das Faszinierende ist, dass er Nähe durch Präzision erzielt.

In welchen Sprachen schrieb er?

Er nutzt Deutsch und Französisch in etwa gleich, außerdem Spanisch und indigene Sprachen. Alles zum Thema Bergwerk schreibt er auf Deutsch, Pflanzenbeschreibungen auf Latein. Nicht nur Wilhelm, auch Alexander beschäftigt sich intensiv mit Sprachen, notiert viel für seinen Bruder und andere Linguisten wie Schlegel oder Bopp. Er verkörpert eine radikale Vielsprachigkeit, wechselt von Abschnitt zu Abschnitt die Sprache, manchmal sogar in einem Satz.

Reisejournal
Journal des ständigen Dazulernens, so nennt Ottmar Ette
die Tagebücher von Alexander von Humboldt.
Oft ließ er 50, 60 Seiten Platz, um dort später über
dasselbe Thema weiterzuschreiben.
Foto: Staatsbibliothek zu Berlin – Preussischer Kulturbesitz
– VIa

Humboldt wird meist in Superlativen beschrieben, was für ein Mensch war er?

Er ist höchst empathisch,wenn er jemandem begegnet, versetzt er sich schnell in die Perspektive des anderen. Das erste Mal passiert das, als er auf den Kanaren ankommt und ein Fischer, der nicht weiß, wer da kommt, sich aus Angst versteckt. Humboldt reflektiert im Tagebuch: Was muss er von Leuten denken, die Kräuter sammeln, Temperaturmessgeräte in den Boden rammen und auf dem Bauch liegen, um etwas ablesen zu können. Man kann in den Reisetagebüchern sehen, mit welcher Vehemenz er immer wieder die Perspektiven wechselt und den Blick des anderen in die Beschreibung der Gegenstände einbindet.

Gab er die Quellen seiner Reflexionen an?

Es gab lange den Vorwurf, dass Humboldt nicht die Gewährsleute nennt, was nicht stimmt. Es gibt in den Amerikanischen Reisetagebüchern Hunderte von Verweisen auf entsprechende Quellen, größtenteils auch mit Namen. Er ist in Kontakt mit kreolischen Gelehrten, mit einigen verbindet ihn eine sehr enge Freundschaft wie mit Carlos Montúfar. In Mexiko-Stadt ist er mit Wissenschaftlern im Austausch und integriert deren Wissensstand in seine Beschreibungen.

Pflegte er während seiner Reise Freundschaften?

Er knüpft und pflegt Freundschaften – im Rahmen der Möglichkeiten, da er mehr oder minder immer in Bewegung ist. Er hat etwa 80, 90 Briefpartner, mit denen er während der amerikanischen Reise im regelmäßigen Kontakt steht. Er lernt außerdem Menschen in Lateinamerika kennen, die ihn auf der Reise begleiten, wie Carlos de Pino, mit dem er über einen langen Zeitraum zusammenarbeitet. Es gibt außerdem die Bewunderer Humboldts, die im kolonialen Getriebe sind. Er pflegt Kontakte zur gesellschaftlichen Spitze in Mexiko-Stadt, hat häufig Kontakt mit dem neu-spanischen Vizekönig und dessen Familie.

Man könnte Humboldt unmoralisches Verhalten vorwerfen, er setzte sich mit Machthabern, Sklavenhaltern, die er in den Tagebüchern kritisierte, an einen Tisch.

Nein, das kann man nicht. Er ist ein Reisender, der ein Gebiet durchquert und dabei Kontakte zu vielen Menschen hat, Machthabern, Militärs, Wissenschaftlern, einfachen Menschen, Sklaven, Minenarbeitern. Alexander von Humboldt ist immer daran interessiert, jedem möglichst nahe zu kommen, mit ihm zu diskutieren. Er geht dabei sehr behutsam und diplomatisch vor, das verändert aber nichts an seiner Position zur Inquisition oder Sklaverei. Für ihn zählt sein wissenschaftliches Werk, um darüber die Gesellschaft zu verändern. Letzteres ist aber nicht sein oberstes Ziel. Es ergibt sich automatisch.

In Lateinamerika wird er deswegen heute noch hoch geschätzt.

Die Kreolen sehen zu Recht in ihm einen der Väter der Unabhängigkeit, weil er Kritik an der kolonialen Verfasstheit dieser Länder übt. Als Humboldt 1814 anfängt zu veröffentlichen, beginnt auch die Unabhängigkeitsbewegung in Lateinamerika, die er von Europa aus in seinen Publikationen begleitet. Es gibt immer wieder Einfügungen, mit denen er die Leser auf den neusten Stand bringt. Er hat während seiner Reise Kontakt zu vielen, die zur Elite der Revolution gehören, und zehn Jahre später im Unabhängigkeitskampf fallen.

Der Ausnahmeforscher war auf seiner Reise mehrfach in Lebensgefahr. Wie ist er mit dem Tod umgegangen?

Er hat immer seinen eigenen Tod einkalkuliert. Im Buch der Begegnungen gibt es mehrfach Szenen, in denen er über Situationen schreibt, in denen er mit dem Leben abgeschlossen hat. Er legt dabei auf eines Wert: in seinen Schriften weiter zu leben. Es ist ihm ganz wichtig, dass, wenn er ums Leben kommt, seine Mitschriften erhalten bleiben, nicht mit ihm verschwinden. Dieser Glaube an die Schrift, die über den Tod hinausgeht, ist bei Alexander – auch später im Alter – ganz stark.

Humboldt machte eine Forschungsreise neuen Typs. Was genau war neu?

Cook und La Pérouse sind Weltreisende, die den Saum von Kontinenten und Inseln berühren. Humboldt dagegen geht ins Binnenland, überquert die Orinoco- Amazonas-Senke, durchquert die Anden nicht von Ost nach West, wie es jeder andere Sterbliche tun würde, sondern transversal von Nord nach Süd. Er durchläuft – zusammen mit Bonpland – ein komplettes Forschungsprogramm. Er hat nicht die Möglichkeit, es disziplinär aufzuspalten, sondern schreibt und vor allem denkt seine Erkenntnisse zusammen, ist auf die Wechselwirkung zwischen den einzelnen Disziplinen bedacht. Das ist die große wissenschaftliche Leistung Humboldts.

Das Gespräch führte Ljiljana Nikolic