Der Zeichner
Ein mit ewigem Schnee bedecktes Gebirge an der Grenze von Tibet ist nach ihm benannt, ein Gletscher in Grönland und ein Meeresstrom des Pazifiks. Aber auch Pflanzen und Tiere heißen nach ihm, darunter eine Kakteen-, eine Pinguin- und eine Skarabäenart: Der Name Humboldt hat sich auf der ganzen Erde ausgebreitet wie Samen im Wind, nach keinem Menschen sind mehr Orte benannt als nach dem preußischen Universalgelehrten. Als Entdeckungsreisender und Naturforscher, als Geograph, Ökologe, Klimatologe und Botaniker gelangte er zu weltweiter Bekanntheit, im 19. Jahrhundert war Alexander von Humboldt nach Napoleon sogar die berühmteste Person überhaupt. Umso mehr überrascht es, dass eine seiner Begabungen nur wenig registriert wurde. Kann es wirklich etwas im Schaffen dieses Wissenschafts-Superstars geben, das noch nicht erforscht, beschrieben, vermessen wurde?
„Sein künstlerisches Werk wurde bis vor kurzem kaum gewürdigt“, sagt Horst Bredekamp, Professor für Kunstgeschichte an der HU, „es ist sehr selten thematisiert worden, dass Alexander von Humboldt eine vorzügliche Ausbildung als Grafiker genossen hat.“ Immerhin war der Direktor der Leipziger Kunsthochschule, Adam Friedrich Oeser, sein Lehrer und wahrscheinlich auch Daniel Chodowiecki, der bedeutendste Kupferstecher, Grafiker und Illustrator seiner Zeit. Humboldts Tagebücher enthalten viele Skizzen, von denen er manche in Europa von Kupferstechern, Druckern und Zeichnern ausfertigen ließ. Es waren die großen Leistungen des vielfältigen Forschers auf den anderen Gebieten, die bisher auf seine Zeichnungen einen so mächtigen Schatten warfen wie der Chimborazo auf die Gipfel unter ihm, jener Berg, der damals als der höchste der Welt galt und den Humboldt bestieg. „Seine Vernachlässigung als Zeichner ist erst in jüngerer Zeit beseitigt worden: Durch Petra Werners Untersuchung zur Beziehung Alexander von Humboldts zu Künstlern, Oliver Lubrichs und Sarah Bärtschis Ausgabe des ,Graphischen Gesamtwerkes’ sowie durch die Publikation ‚Alexander von Humboldt – Bilder-Welten.’ von Ottmar Ette und Julia Maier“, sagt Bredekamp. Damit sei Humboldt als Zeichner erstmals angemessen gewürdigt worden.
Zeichnungen, die ins Staunen versetzten
Dabei hatten es seine Skizzen und Zeichnungen schon immer verdient, Beachtung zu finden. Mit Stift oder Feder bildete Humboldt die Natur ab: Er zeichnete Pflanzen, Tiere und Menschen, Landschaften, Steine, Flussläufe, Vulkane und Gebirge, ebenso wie Gebäude und Alltagsgegenstände, Wetter- und Landkarten. Er stellte den Zitteraal im Querschnitt dar, den Orinoco, den Axolotl, einen mexikanischen Schwanzlurch, geöffnet mit freiliegenden Muskeln, Kiemen und Organen, einen Durchschnitt der Küstenkette Venezuelas, Pflanzen, ihre Blätter und Samen, oder den Andenkondor mit weißer Halskrause, Kamm und faltigen Kehllappen. Seine Zeichnungen versetzten seine Zeitgenossen in Staunen über die Fremdheit, Vielfalt und Pracht der Natur in Lateinamerika. Aber Humboldt war das Zeichnen mehr als Dokumentation. Um die Phänomene der Natur zu verstehen und zu durchdringen, studierte er die verborgenen Schichten wie ein Anatom, unterzog sie seinem geübten, sezierenden Blick. „Seine Art zu zeichnen ist nicht nur Wiedergabe, sondern vor allem Erkennen“, sagt Horst Bredekamp. „In dem Sinn gehört zum Gesamtbild Humboldts seine Fähigkeit, Diagramme zu bilden, Landschaften abzuzeichnen oder auch Pflanzen zu skizzieren, unabdingbar dazu. Das schöpferische Denken, das Alexander von Humboldt auf das höchste Niveau gebracht hat, wird durch Zeichnungen in besonderer Weise angeregt und geordnet zugleich.“ Insofern seien seine Zeichnungen auch ein Modell für schöpferisches Denken überhaupt, in ihrer Doppelfunktion, Phänomene wiederzugeben und sie verstehend zu erfassen. Humboldt kletterte auf hohe Berge – und entdeckte höhere Gesetze.
Aus der Vogelperspektive auf die Welt
Um ihnen auf die Spur zu kommen, versuchte er auch aus der Vogelperspektive auf die Welt zu blicken. Im Juni 1802 stieg er auf den Chimborazo und stieß mit seinen Begleitern in bisher unerreichte Höhen vor. Auch den erloschenen Andenvulkan im heutigen Ecuador, 6267 Meter hoch, zeichnete er. Humboldt hatte erkannt, dass es globale Vegetationszonen gibt, je nach Klima und Höhenlage. Denn beim Aufstieg hatte er gesehen, wie sich die Pflanzen änderten, dabei aber jenen ähnelten, die er in den gleichen Klimazonen und Höhenlagen auf anderen Teilen der Welt schon einmal gesehen hatte. Diese Einsicht verknappte und veranschaulichte er, indem er den Berg Chimborazo im Profil zeichnete und ihm Vegetationszonen wie Ringe umlegte: Das dunkle üppige Grün am Fuß des Berges ließ er, je höher es hinaufging, immer dünner und heller werden. Bekannter geworden ist aber eine andere Zeichnung des Vulkans, die auch auf dem Einband des Bestsellerromans „Die Vermessung der Welt“ von Daniel Kehlmann abgebildet ist. Das „Tableau physique des Andes et Pays voisins“ aus seinem „Essai sur la géographie des plantes“ hat er mit den Namen von Pflanzen und anderen Informationen versehen. In diesem Blatt hat er das Ökosystem in seiner Komplexität gewürdigt und dabei doch so verknappt veranschaulicht, dass es vom Betrachter erfasst werden konnte. „Alexander ist gemacht, Ideen zu verbinden, Ketten von Dingen zu erblicken, die Menschenalter hindurch, ohne ihn, unentdeckt geblieben wären“, urteilte sein Bruder Wilhelm 1793 über ihn, sechs Jahre vor der Amerikareise Alexanders. Letzterer spürte den großen Zusammenhängen nach und seine künstlerische Ausbildung kam ihm dabei zugute.
Datenvisualisierung nach Humboldt
„Der Mensch erkennt zeichnend, unabhängig von jedem Medium, und daher sucht die digitale Auseinandersetzung mit der Welt das Zeichnen in den Cyberspace zu integrieren“, sagt Horst Bredekamp. Dies folge der Grunderkenntnis, dass der Mensch als Anthropos denkt, indem er nicht nur Worte formuliert, sondern auch zeichnet. So hat Humboldt in seinen Skizzen die wissenschaftlichen Daten, die er gesammelt hat, kognitiv greifbar gemacht. Er ist ein früher Meister ihrer einprägsamen, gezeichneten Aufbereitung, der Datenvisualisierung vor dem Internetzeitalter. „Big Data erklärt sich keinesfalls aus sich heraus. Solche Datensätze müssen visualisiert werden, weil die Datenmengen zu groß sind, um auch nur ansatzweise durchdacht zu werden.
Die modernen Natur- wie auch zum Beispiel die Sozialwissenschaften haben daher die Erkenntnisqualität von Zeichnungen teils neu erfunden.“ Dabei abstrahierte Humboldt den Gegenstand seiner Skizzen so weit, bis er ihn verstand und sein Wesen gleichsam herausgemeißelt hatte. „Wenn Sie eine Silhouettenlinie einer geologischen Formation haben, dann ist das einerseits Grafik, als Diagramm, und andererseits Vedute, also die naturgetreue Wiedergabe einer Landschaft. Beides miteinander zu verbinden, also auf der Grenze zwischen Grafik und Vedute zu argumentieren, das ist eine Besonderheit Humboldts.“ Seine Bücher wurden berühmt, und so hatten auch seine Zeichnungen große Wirkung. Weil viele Künstler seinen Spuren nach Südamerika folgten, hat Humboldt auch die Landschaftsmalerei des 19. Jahrhunderts beeinflusst. „Er regte an, die Landschaft so zu malen, dass sie wiedergegeben und zugleich in ihrem Wesen erfasst wird“, sagt Bredekamp, „nach Humboldts Grundprinzip also.“
Autorin: Vera Görgen