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Politiker, Bildungsreformer, Sprachforscher

Von den vielen Facetten Wilhelm von Humboldts

Wilhelm von Humboldt
Wilhelm von Humboldt auf einem Gemälde von Gottlieb Schick
(1808/1809), Abbildung: bpk / Deutsches Historisches
Museum / Arne Psille

Potsdam im Sommer 1767. Friedrich II., König in Preußen und Kurfürst von Brandenburg, gestaltet die Stadt von einem Garnisonsstandort in eine Residenz um: Das Stadtschloss ist bereits umgebaut, der Alte Markt in eine italienische Piazza verwandelt, Sanssouci steht, jetzt folgt das Neue Palais, und auch unter der Adresse Neuer Markt 1 gibt es Neuerungen. Erst 1765 hat der König seinen Neffen und Kronprinzen Friedrich Wilhelm II. und dessen Frau in das Gebäude im typisch friderizianischen Barockstil einziehen lassen – in jenem Sommer ist es „eine halbe Baustelle“, weiß Thomas Wernicke, Leiter im Bereich Ausstellungen und Projektplanung der Brandenburgischen Gesellschaft für Kultur und Geschichte. Zwei Stockwerke, ein Mezzanin, alles „relativ herrschaftlich eingerichtet, aber insgesamt bescheiden“, so Wernicke bei seiner Führung durch die Räume, von denen heute nur noch wenig Originales erhalten ist, am ehesten die steil gewundene Eichentreppe und der erste Stock.

Distanziertes Verhältnis zu den Eltern

In diese Zeit und an diesen Ort – und laut Historiker Wernicke „höchstwahrscheinlich“ in diesem Haus – wird am 22. Juni 1767 Wilhelm von Humboldt geboren. Denn sein Vater Alexander Georg war nach dem verletzungsbedingten Ausscheiden aus dem Militär ab 1765 als Kammerherr für die persönlichen Angelegenheiten von Friedrich Wilhelm II. zuständig – „ein hohes Hofamt, das nur dem Adel zustand. Alexander Georg war die zentrale Vertrauensperson“, erklärt Wernicke.

Wilhelms Mutter, die verwitwete Marie-Elisabeth von Holwede, geborene Colomb, hatte er im Jahr zuvor geheiratet. Über den Alltag in der jungen Familie ist wenig überliefert. Welche Traditionen und Rituale gab es? Inwiefern wirkten sich das Militär väterlicherseits, die südfranzösischen, hugenottischen Wurzeln mütterlicherseits aus? Lebte Wilhelms Halbbruder Heinrich Friedrich Ludwig Ferdinand von Holwede ebenfalls hier? Diese Fragen bleiben unbeantwortet. Was man jedoch weiß: Die Mutter galt als streng, spröde und kränklich, der Vater als lebensbejahend und heiter. „Es war ein distanziertes Verhältnis zu den Eltern, auch weil Alexander Georg früh starb“, fasst Wernicke zusammen. Und: Wenn man so will, hat der Vater den Titel – sein Vater wiederum war 1738 in den Adelsstand erhoben worden –, die durch Erbschaften vermögende Mutter das Geld mit in die Ehe gebracht.

Eigentliche Kindheit spielt sich in Tegel ab

Schon 1769 enden Wilhelms Kleinkindjahre in Potsdam. Die Ehe des Kronprinzen wird geschieden, der Kammerherr verliert seine Anstellung und zieht mit seiner Familie auf das Gut in Tegel. Im Winter wohnt man in der Jägerstraße 22 in Berlin, wo sich heute die Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften befindet. Wie Stefan Fröhling und Andreas Reuß in ihrem Band „Die Humboldts. Lebenslinien einer gelehrten Familie“ schreiben, handelt es sich beim Gut um ein ursprünglich kurfürstliches Jagdschloss aus dem 16. Jahrhundert, die Stadtwohnung liegt eine dreistündige Kutschfahrt davon entfernt. Das Potsdamer Geburtshaus wird, nachdem Friedrich Wilhelm II. 1786 König wird und ins Stadtschloss umzieht, Sitz der Königlichen Ingenieurs-Akademie, später unter anderem des königlichen Kabinetts, daher auch der heutige Name Kabinetthaus.

Anno 2017 befinden sich am Neuen Markt 1 die Büros der Tourismus- Marketing Brandenburg GmbH mit rund 40 Mitarbeitern – und eine Gedenktafel links vom Eingang. Die eigentliche Kindheit und Jugend Wilhelm von Humboldts spielen sich in Tegel ab. 1769 kommt sein Bruder Alexander zur Welt, die beiden werden ein freundschaftliches, aber kein enges Verhältnis haben, schreiben Fröhling und Reuß. Vor allem werden sie sich auf geradezu komplementäre Weise ergänzen: Wilhelm wird der Bildungsreformer, Sprachforscher, Literatur-und Kulturwissenschaftler und Diplomat, Alexander der Naturforscher und Geograf.

Wilhelm, der „jugendliche Geistesaristokrat“

Wie Jan-Hendrik Olbertz, Professor für Erziehungswissenschaft an der Humboldt-Universität, ausführt, waren die Brüder „symbiotisch, ein Gespann, das man sich einzeln fast nicht denken kann, obwohl sie keine Zwillinge waren“. Alexander habe Wilhelm immer wieder „geerdet“ und Wilhelm Alexanders Blick für Relevanz und philosophische Tiefe geweitet – was er bei der Auswertung seiner weltweiten Expeditionen gut gebrauchen konnte. Doch zunächst erwerben die Humboldts ihr Wissen bei zahlreichen, renommierten Hauslehrern wie Joachim Heinrich Campe oder Gottlob Johann Christian Kunth, der den Privatunterricht in Fächern wie Naturrecht, Nationalökonomie, Statistik und natürlich den Fremdsprachen ab 1777 koordiniert. Auch weil Wilhelm mit 13 fließend Latein, Französisch und Griechisch spricht, nennt ihn sein Biograf Otto Harnack einen „jugendlichen Geistesaristokraten“. „Die Kenner ihres Faches“, resümieren Fröhling und Reuß, „weihen die Brüder Humboldt zugleich in die Strömungen der Zeit ein.“

Unkonventionelle Ehe zwischen Wilhelm und Caroline

Die in Berlin vorherrschende Strömung ist die Aufklärung, vorangetrieben wird sie in literarischen Salons und sogenannten Tugendbünden, in welchen Juden und Frauen im Gegensatz zur gesellschaftlichen Realität eine wichtige und vor allem gleichberechtigte Rolle spielen. Hier verkehren die Brüder ab 1785, hier lernt Wilhelm 1788 Caroline von Dacheröden kennen, die er 1791 heiratet. Die beiden führen eine nicht nur für damalige Verhältnisse ungewöhnliche Ehe: harmonisch, mit beiderseitigen Freiheiten, mehrmals getrennt, nicht zuletzt als Fernbeziehung aufgrund seiner beruflichen Stationen.

Welche Persönlichkeiten trafen in dieser Konstellation aufeinander? „Zwei sehr selbstbewusste, die sich auf einem intellektuellen Level begegneten“, erläutert Prof. Olbertz. „Ihr Lebenskonzept sollte mehr beinhalten als kuschelige Zweisamkeit – als aufgeklärten Geistern hätte das auch gar nicht zu ihnen gepasst.“ Caroline und Wilhelm werden acht Kinder haben, von denen drei früh sterben. Zu dieser Zeit studiert Wilhelm nach einem enttäuschenden Semester an der Brandenburgischen Universität Frankfurt – noch dienen die preußischen Hochschulen hauptsächlich zur Ausbildung von Staats- und Kirchendienern – nun Philosophie, Geschichte und Alte Sprachen an der Georg-August-Universität Göttingen.

Freundschaft mit Goethe und Schiller

Er ist weltoffen, neugierig, wissensdurstig, fleißig, so Fröhling und Reuß. Bei Harnack ist vom „Interesse eines ernstlich nach Bildung eigener Weltanschauung strebenden jungen Mannes“ die Rede. Reisen führen ihn nach Paris, Spanien und Weimar, wo er sich mit Goethe und besonders Schiller anfreundet. Als Richter und Diplomat tritt er in den Staatsdienst ein, seine erste berufliche Station wird im Frühjahr 1803 die des preußischen Gesandten in Rom, das er aufgrund seiner Begeisterung für die Antike besonders aufmerksam wahrnimmt. Später wird er in Königsberg, London und Wien wirken und so zu einem modernen Europäer werden, bevor es Europa im heutigen politischen Sinn gibt, denn, so Olbertz, „in einer nationalen Begrenzung hat er nie gedacht“.

Zurück nach Berlin beordert, leitet Wilhelm von Humboldt ab 1809 als Geheimer Staatsrat und Direktor der Sektion für Kultus und Unterricht im Innenministerium eine dringend notwendige, rasche und umsichtige Reform des preußischen Bildungswesens ein; das humanistische Gymnasium, einheitliche Schulcurricula und Abiturprüfungen sowie die Gründung der Berliner Universität gehen ausgerechnet auf ihn, der nie eine öffentliche Schule besucht und nie als Lehrer gearbeitet hat, zurück.

Laut Jan-Hendrik Olbertz sei das kein Widerspruch. „Humboldt hat seine eigene klassisch bildungsbürgerliche Biografie institutionell reproduziert, das ist vielmehr eine interessante Folgerichtigkeit.“ Vor allem stecke hinter seiner Reform die Idee einer allgemeinen und charakterlichen Selbstbildung, denn Bildung sei ja immer Selbstbildung, „genau genommen kann man niemanden bilden, man kann nur die Voraussetzungen dafür schaffen, dass er oder sie es selber tut“, so der Erziehungswissenschaftler.

Werkausgabe umfasst 17 Bände

Seit den 1780er Jahren hat Humboldt Dutzende Werke verfasst, etwa zu Politik, Geschichte, Philosophie und Ästhetik oder Übersetzungen aus dem Griechischen. Die Werkausgabe umfasst 17 Bände, dazu kommen Briefwechsel mit Alexander oder auch Caroline, allein letzterer umfasst sieben Bände, so dass sich die Frage stellt, welche man gelesen haben sollte. Olbertz überlegt. „Das kommt darauf an, wofür man sich interessiert.“ Ihm am Herzen liegen die Gründungsdokumente der HU, vor allem Humboldts Schriften über die höheren wissenschaftlichen Anstalten in Berlin.

Eine Sonderstellung nehmen die sprachwissenschaftlichen und -philosophischen Texte ein, denn beide Brüder haben erkannt, „dass Sprache und Denken untrennbar miteinander verbunden sind“, sagt der Professor. „Aus der Komponiertheit des Lateinischen etwa kann man diszipliniertes und strukturiertes Denken ableiten.“ Und das Verständnis fremder Kulturen basiere auch darauf, sich zuerst mit deren Sprache auseinanderzusetzen. Von dieser These ausgehend, erlernt Wilhelm weitere Sprachen wie Baskisch, Ungarisch oder Litauisch, linguistisch setzt er sich mit dem Hawaiianischen, Birmanischen oder Japanischen auseinander. Diese Arbeiten bestimmen die letzten Lebensjahre des Gelehrten, die er ab 1820 auf dem Tegeler Gut, das er von Karl Friedrich Schinkel zu einem kleinen Schloss ausbauen lässt, verbringt.

„Humboldt eine Metapher, ein Prinzip und eine Denkhaltung“

Schwer getroffen vom Tod seiner Frau 1829, altert er schnell, sein Körper zeigt Parkinson- Symptome. Am 8. April 1835 stirbt Wilhelm im Alter von 67 in Tegel, wie Fröhling und Reuss berichten im Beisein seines Bruders. Was mit Bezug auf die Universität bleibt, ist vor allem ein Mythos. „Es ist erstaunlich“, konstatiert Olbertz, „dass sich die hehren Ideale der Einheit von Lehre und Forschung oder der Bildung durch Wissenschaft in dieser Wortwahl in seinen Schriften überhaupt nicht finden lassen – aber man kann sie ableiten, die Texte geben sie gedanklich her.“ So sei die Humboldtsche Universitätsidee, wie wir sie heute verstehen, zum größten Teil der Rezeptionsgeschichte entlehnt – „und insofern eine Erfindung, wenn auch mit hoher Faktizität in der Wirkung“.

Die historische Person und ihr Werk werden also bewusst überhöht. Warum schreibt man dieses Narrativ fort? Olbertz: „Weil Humboldt wie ein Inkubator für die fortwährende Entwicklung von Ideen ist, und das ist ausgesprochen produktiv.“ Er sei eine Metapher, ein Prinzip, eine Denkhaltung, und dass diese Universität die Namen der Brüder tragen dürfe, ein „Riesenglück“.

Autor: Michael Thiele