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EIN BIOTOP JÜDISCHER MEHRHEITSGESELLSCHAFT: Zum Zusammenhang zwischen jüdischer Schulbildung und Identitätskonstruktion am Beispiel der Absolventinnen und Absolventen der Jüdischen Oberschule in Berlin

Sandra Anusiewicz-Baer hat an der Humboldt-Universität ein Promotionsstudium in Erziehungswissenschaften absolviert. Für ihre Dissertation wurde sie mit dem Sonderpreis „Judentum und Antisemitismus“ des Humboldt-Preises 2017 ausgezeichnet.

Sandra Anusiewicz-Baer
Foto: privat

Zusammenfassung

Im Jahre 1993 konnte die Jüdische Gemeinde zu Berlin erstmals seit dem Ende des Nationalsozialismus wieder eine Jüdische Oberschule (JOS) einweihen. Als Bildungsinstitution der Gemeinde dient die Oberschule neben der Vermittlung säkularen Wissensstoffes vor allem dazu, junge Jüdinnen und Juden wieder an die jüdischen Traditionen heranzuführen. Die Schule startete mit 27 Kindern. Heute besuchen mehr als 400 junge Menschen das Gymnasium, 40 Prozent von ihnen sind nichtjüdisch. Für viele Jahre blieb diese Einrichtung die einzige jüdische Schule in Deutschland, die zur Allgemeinen Hochschulreife führte. Aus diesem Alleinstellungsmerkmal und dem an die Schule formulierten Anspruch bzw. der Hoffnung, jüdischem Leben in Deutschland ein festes Fundament zu geben, resultierte die Frage: Welche Rolle spielen jüdische Schulen bei der Stiftung jüdischer Identität, speziell welche Nachhaltigkeit kann der Besuch der Jüdischen Oberschule und die damit einhergehende Erfahrung eines spezifisch schulischen Milieus entwickeln?

Zur Beantwortung dieser Fragen widmet sich die Dissertation 23 Ehemaligen der Jüdischen Oberschule, indem diese in problemzentrierten Interviews über ihre Schulwahl, ihre Erfahrungen während der Schulzeit und schließlich zu ihrem nachschulischen Werdegang befragt werden. Die Arbeit ist methodisch fest im Bereich der qualitativen Sozialforschung verankert. Der Blick ist auf die Adressaten der Erziehungs¬bemühungen gerichtet – auf die ehemaligen Schülerinnen und Schüler – und rückt die Perspektive der handelnden Subjekte konsequent in den Vordergrund. Theoretisch fußt sie auf der Annahme, dass Schule eine zentrale Sozialisationsinstanz darstellt und begreift Identität als fortwährenden Konstruktionsprozess.

Zentraler Befund der Untersuchung ist, dass die Jüdische Oberschule eine Bildungsgemeinschaft begründet. Die erhoffte Wiederbelebung findet nicht im Rituellen statt, sondern in der geistigen Auseinandersetzung mit dem jüdischen Erbe. Denn die sehr heterogene Schülerschaft zeichnet sich vor allem durch die Beschäftigung mit jüdischen Themen aus, die bei vielen weit über die Schulzeit hinausreicht und oft den Anstoß gibt für ein berufliches Engagement mit Bezug zum Judentum. Die Schule vermag die Jungen und Mädchen mit einer belastbaren Wissensbasis auszustatten, ohne dabei normativ-dogmatisch zu wirken und bietet damit einen sicheren Ort – das Biotop jüdischer Mehrheitsgesellschaft -, an dem die Jugendlichen mit ihren jeweiligen Identitätsentwürfen Anerkennung finden. Sie fungiert damit gleichzeitig als Lebensraum und (jüdischer) Familienersatz.

Die Arbeit verbindet das Forschungsgebiet der adoleszenten Persönlichkeitsentwicklung mit der Schulforschung und einer Milieu- bzw. Gruppenforschung. Sie analysiert die Bedeutung von Bildungsabschlüssen (auch am Beispiel der russisch¬sprachiger Absolventinnen und Absolventen) im Zusammenspiel mit der Schulform Privatschule. Des Weiteren zeigt sie nicht nur, die pluralen Ausdrucksmöglichkeiten jungen jüdischen Lebens in Deutschland heute, sondern gibt für die soziologische Biographieforschung Aufschluss darüber, welche Effekte eine jüdische Schulbildung für nichtjüdische Jugendliche zeitigen kann.