Humboldt-Universität zu Berlin

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«. . . näher ans Leben»? Volksmusik in der bulgarischen Avantgarde zwischen Prager Frühling und dem Zweiten Kongress des Komponistenverbands 1980

Patrick Becker-Naydenov hat im Master Musikwissenschaften an der Humboldt-Universität studiert. Für seine Masterarbeit wurde er 2019 mit dem Humboldt-Preis ausgezeichnet.

Abstract

Während in Europa ein Eiserner Vorhang auf den Kontinent herabgelassen wird und die Welt dem atomaren Wettrüsten folgt, tritt im sozialistischen Bulgarien der frühen Nachkriegszeit eine junge Komponistengeneration an die Öffentlichkeit, die durch technisch ausgefeilte Verfahrensweisen auf sich aufmerksam macht. Was zunächst aussieht, als würde hier ein musikalischer Fortschritt stattfinden, der sich durch eine Zunahme an Komplexität der Werke auszeichnet, schlägt nach 1968 plötzlich ins Gegenteil um: Es taucht jenes musikalische Material aus der traditionellen bulgarischen Volksmusik in verschiedensten Werken auf, das zuvor noch verpönt war.

Aus der Perspektive dominierender Ansätze der Musikgeschichtsschreibung ist das Urteil über solche Entwicklungen klar: Es scheint sich um eine Regression zu handeln, um eine «Kunst des Kompromisses» (René Leibowitz), die in diesem Fall vor der kulturpolitischen Situation im Staatssozialismus einknickt und sich daran macht, staatliche Vorgaben zu erfüllen, wie sie in der zeitgenössischen Losung, «Mehr unters Volk, näher ans Leben!», anklingen.

Diese Arbeit geht stattdessen von der Frage aus, inwiefern das Interesse an der landeseigenen Volksmusik ab 1968 weniger durch kulturpolitische Forderungen als vielmehr durch Entwicklungsaspekte der Kompositionen selbst bedingt wird. Dazu werden hier zwei grundlegende Herangehensweisen verknüpft: Institutionenforschung und Kompositionsgeschichte. Diese methodische Stoßrichtung führt schließlich zu einer Reihe von Forschungsergebnissen, die auf Besonderheiten der bulgarischen Musikgeschichte in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts verweisen: Anstelle einer gleichmachenden Auffassung vom Musikleben im Staatssozialismus, in dem ost- und südosteuropäische Staaten in einem unterschiedslosen kommunistischen Ostblock amalgamiert werden, zeigt der Fall Bulgarien, dass eine quellenbasierte Untersuchung Überraschendes aufdecken kann. So dürfen im vorliegenden Fall die vielen Absichtsbekundungen von Musikfunktionären zur «vollständigen Kontrolle» des Musiklebens im Land auf Grund verschiedener personeller, institutioneller und finanzieller Ursachen nicht für bare Münze genommen werden. Diese «Unzulänglichkeit der Institutionen» erlaubt deshalb den in der Arbeit verfolgten Fokus kompositionsgeschichtlicher und musikanalytischer Untersuchungen.

Hier zeigt sich nun, dass die vermeintliche Regression, der Ausstieg aus dem Fortschrittsglauben der Nachkriegsavantgarde einerseits das Resultat genau dieser fortschreitenden künstlerischen Suchen und Experimente ist, die bulgarische Komponisten zuvor anstellten, und andererseits nach 1968 die Welt der bulgarischen Kunstmusik zwar auf den Kopf gestellt zu sein scheint, aber musikalische Analysen vorführen können, dass dieselben kompositorischen Verfahrensweisen weitergeführt wurden.