Humboldt-Universität zu Berlin

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„Wir wussten nicht, dass wir unsere Freiheit für die nächsten sechs Jahre verloren hatten.“ Erinnerungen jüdischer Flüchtlinge an ihre Erfahrungen in niederländischen Flüchtlingslagern 1938-1940.

Niels Pohl studiert Geschichtswissenschaften an der Humboldt-Universität. Für seine Bachelorarbeit wurde er mit dem Humboldt-Preis 2019 ausgezeichnet.

Zusammenfassung

Ausgehend von dem Postulat, dass jüdische Fluchtgeschichten in der Zeit des Nationalsozialismus als integraler Bestandteil der Holocaustforschung zu verstehen sind, hat die vorliegende Arbeit die Darstellung und Auswertung von Erinnerungen jüdischer Flüchtlinge an ihre Erfahrungen in niederländischen Flüchtlingslagern 1938-1940 zum Gegenstand.

Seit 1933 wurde die Niederlande für viele Juden ein wichtiger Zufluchtsort und später bedeutendes ‚Transitland‘ in Richtung des rettenden Exils in Übersee. Die niederländische Regierung verfolgte jedoch eine restriktive Politik: Juden sollten sich – wenn überhaupt – nur in geringer Zahl und unter Kontrolle des Staates temporär im Land aufhalten dürfen. Zu diesem Zweck wurden ab 1938 diverse Flüchtlingslager errichtet. Streng bewacht und zumeist isoliert von der Umgebung wurden hier Geflüchtete, separiert nach ihrem „legalen“ oder „illegalen“ Aufenthaltsstatus, interniert. Ende 1939 wurde schließlich ein zentrales Flüchtlingslager errichtet. Die Geschichte dieses Lagers, das 1942 von den deutschen Besatzern zum „Polizeilichen Judendurchgangslager Westerbork“ transformiert wurde, ist umfänglich erforscht. Hingegen fehlen detaillierte Untersuchungen zu den insgesamt über 50 früheren Internierungslagern für Flüchtlinge. Ein Ziel dieser Arbeit ist daher, sich diesem Desiderat der Forschung anzunähern.

In der Untersuchung werden insgesamt acht Interviews mit Überlebenden analysiert, die in derartigen Flüchtlingslagern interniert waren. Ergänzt werden sie durch Dokumente, etwa Anordnungen und Rapporte der Lagerleitungen. Die Methode der Oral History hilft dabei, die komplexe Quellengattung der Zeitzeugeninterviews zu bearbeiten. So werden die heterogenen Erfahrungen und Wahrnehmungen als Elemente einer multiperspektivischen Geschichte präsentiert. Gleichzeitig werden Analogien in den Erzählungen herausgearbeitet. So beschreiben etwa alle Zeitzeug*innen die Überwachung und den Freiheitsentzug als besonders irritierende und einschneidende Erfahrung. Dass Erzählungen von Zeitzeug*innen durch ihre Lebensgeschichten, aber auch durch gesellschaftliche Narrative geformt werden, verdeutlicht ein weiterer Befund der Arbeit: Die eigenen Erfahrungen in den Flüchtlingslagern werden angesichts des weiteren Verlaufs des Holocaust als wenig relevant dargestellt. Während einige Menschen auf ihre eigenen Erlebnisse in NS-Konzentrationslagern verweisen, äußern sich jene ohne derlei Erfahrungen ebenfalls gehemmt. Ihre Zurückhaltung fügt sich in die bis heute verbreitete gesellschaftliche Wahrnehmung des Holocaust ein, in der die Trias von Deportation, Konzentrationslager und Vernichtung der Juden dominiert und den weiteren Facetten dieser Geschichte wenig Raum lässt.

So bemüht sich die Studie darum, eine bislang weniger beachtete Periode der Geschichte des Holocaust in den Niederlanden stärker in den Fokus der Aufmerksamkeit zu rücken. Methodologisch zeigt sie überdies auf, dass die Oral History einen sinnvollen Ansatz in der Geschichtswissenschaft darstellt und zu einem multiperspektivischen Geschichtsverständnis beizutragen vermag.