„Verfassungsgerichtliche Entscheidungsfindung und ihre Folgen: Das Türkische Verfassungsgericht zwischen Mehrheitslogik und Konsensverfahren (1962 – 2012)“
Verfassungsgerichte treffen Entscheidungen, die unsere politische und gesellschaftliche Ordnung unmittelbar betreffen, indem sie die Verfassung, die „Meta-Regeln“ unseres Zusammenlebens, letztverbindlich interpretieren. Aber wie diese Entscheidungen zustande kommen, was hinter dem „Schleier des Beratungsgeheimnisses“ passiert, ist wenig erforscht. Dabei sind diese Erkenntnisse zentral, um die Entscheidungsergebnisse zu verstehen. Unter anderem gibt es Gerichte an denen sogenannte abweichende Meinungen, in denen Richter*innen individuell begründen, weshalb sie im Ergebnis oder der Begründung der Entscheidung abweichen, häufig sind. An anderen Gerichten ist ein solches Hervortreten einzelner Richter*innen hingegen selten oder gar verboten, die Gerichte erscheinen eher als einheitlicher „Spruchkörper“. Ausgehend von diesen Beobachtungen werden in der Arbeit zunächst zwei idealtypische Modelle der höchstrichterlichen Entscheidungsfindung entwickelt. Zum einen gibt es eine Entscheidungslogik, die Mehrheitsprinzipien folgt (paradigmatisch: US Supreme Court), zum anderen eine Konsenslogik, die auf Konsens und Ausgleich ausgerichtet ist (paradigmatisch: Bundesverfassungsgericht). Dazu gibt es passende kollektive Entscheidungsverfahren, die diesen beiden Logiken jeweils angemessen sind.
In der Arbeit rekonstruiere ich den Entscheidungsprozess und seine Folgen am Türkischen Verfassungsgericht durch quantitative und qualitative Urteilsanalysen sowie die Auswertung von Interviews mit ehemaligen Richter*innen des Gerichts, die im Rahmen einer dreimonatigen Feldforschung in Ankara geführt wurden. Die zentrale These ist, dass es am Türkischen Verfassungsgericht zu einer ungünstigen Kopplung kommt: Dort verbinden sich eine Entscheidungslogik, die Mehrheitsprinzipien folgt und ein Verfahren, das Konsenswillen und Kompromissbereitschaft voraussetzt, um adäquat zu funktionieren. Ich untersuche die historischen Ursprünge dieser Kopplung und zeige, wie diese Verbindung seit seiner Gründung 1962 den Entscheidungsprozess, die Rechtsprechung und indirekt die Fähigkeit des Gerichts institutionelle Autonomie und Autorität zu gewinnen, beeinträchtigt hat.
Die beiden Entscheidungslogiken lassen sich auch auf andere Gerichte anwenden und helfen dabei, die Entscheidungsfindung und Entscheidungen anderer Verfassungsgerichte zu verstehen. Damit leistet die Arbeit einen wichtigen Beitrag zu einer Grundfrage der vergleichenden politikwissenschaftlichen Institutionenforschung und liefert Hinweise darauf, was es bei der Reform von Gerichten zu beachten gilt. Mit dem Türkischen Verfassungsgericht widme ich mich einem der ältesten Verfassungsgerichte Europas, das trotz seiner großen politischen Bedeutung sehr einseitig erforscht ist. Arbeiten zum internen Prozess existieren bislang keine. Damit ist die Arbeit auch für die zeitgenössische, sozialwissenschaftliche Türkeiforschung bedeutsam. Schließlich ist die Arbeit ein wichtiger Beitrag zu einer interdisziplinär geschulten politikwissenschaftlichen Gerichtsforschung.