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Wege jüdischer Wanderung: „Das zweite transportable Vaterland“ des Publizisten Alfred Hirschberg in Brasilien

Kristin Kaufmann wurde für ihre Masterarbeit am Insitut für Kulturwissenschaft, Zentrum Jüdische Studien mit dem Humboldt-Preis 2020 ausgezeichnet.

Alfred Hirschberg (1901-1971) verschrieb sein Leben, im wörtlichen Sinne, der Schrift, dem Schreiben für jüdische Interessen und der Erinnerung an die jüdische Geschichte. Über ein halbes Jahrhundert widmete er sich der jüdischen Arbeit und wirkte als Journalist, Publizist und Herausgeber in Europa und Lateinamerika. Die Masterarbeit rekonstruiert Hirschbergs Biografie und befasst sich mit seinem reichhaltigen Nachlass, welcher nicht nur eine individuelle jüdische Erfahrung, sondern auch deutsch-jüdische Geschichte bezeugt, widerspiegelt und dokumentiert, die durch die Barbarei des Nazismus gewaltsam einen Abbruch fand. Diese Geschichte verlängerte sich jedoch in der Diaspora in Lateinamerika und die Zeiterfahrungen manifestierten sich in einem geistigen und kulturellen Erbe aus Deutschland. Die Arbeit leistet damit einen Forschungsbeitrag zur transkulturellen Geschichte des Judentums und ermöglicht Erkenntnisse zur Transformation diasporischer Kondition jüdischer Existenz in der Moderne.

Als assimilierter deutscher Jude setzte sich Hirschberg ab den 1920er Jahren in der größten jüdischen Vereinigung Deutschlands, dem Centralverein deutscher Staatsbürger jüdischen Glaubens (CV), für die Verteidigung und Vollendung der Emanzipation der jüdischen Minderheit ein. Die erzwungene Auswanderung nach São Paulo (1940) über Paris und London, bedeutete zunächst einen Bruch in seiner Biografie. Doch in der Einwanderung von über 100.000 Jüdinnen und Juden nach Lateinamerika und mit dem Kulturtransfer des liberalen Judentums, sah Hirschberg auch die Chance, „Pioniere beim Aufbau einer neuen jüdischen Diaspora“ zu werden.

Anhand der Analyse von bisher kaum wissenschaftlich ausgewerteten Primärquellen seines Nachlasses im Arquivo Judaico in São Paulo und selbstgeführten Interviews mit Zeitzeug_innen, rekonstruiert die Arbeit den in Europa abgebrochenen und in Lateinamerika fortgesetzten Lebensweg Alfred Hirschbergs. Auf dieser Basis zeigt sich, dass das deutsch-jüdische Erbe zum einen in der Fortführung jüdischer Arbeit als Profession bestand, die den Aufbau und die Pflege gemeinschaftlicher und institutioneller Strukturen bedeutete. Auch in Lateinamerika sollte eine Identifikation mit und die Zugehörigkeit zu einer lebendigen jüdischen Diaspora für die folgenden Generationen geschaffen werden. Zum anderen beinhaltete das Erbe die Wahrung des kulturellen Vermächtnisses der vorangegangenen Gemeinschaften, um die Werte einer aufgeklärten Gesellschaft und die Lehren eines aufgeklärten Judentums weiterzugeben. Als Chefredakteur der CV-Zeitung (Berlin) und der Crônica Israelita (São Paulo), sowie durch sein berufliches und ehrenamtliches Engagement bei (internationalen) jüdischen Institutionen und Organisationen, schaffte Hirschberg ein umfangreiches schriftliches Vermächtnis. Die Untersuchung verdeutlicht, dass die Begründung der jüdischen Existenz über das jüdische Schrifttum nicht nur im säkularisierten Europa des 19. und 20. Jahrhunderts, sondern auch im lateinamerikanischen Exil das Leben in der Diaspora legitimierte. Für Hirschberg war die jüdische Gemeinde, die er als „[d]as zweite transportable Vaterland“ bezeichnete, die Basis, um nach der Vertreibung und Vernichtung in Europa, erneute Lebenskraft als jüdisches Kollektiv in der Diaspora zu finden.