Humboldt-Universität zu Berlin

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„Gefährdete Grenzen. Über Gestalt und Funktion von Ekel, Abscheu und Horror im christlich-antijudaistischen Diskurs im Alten Reich (1475-1550)“

Arndt Wille wurde für seine Masterarbeit am Institut für Geschichtswissenschaften mit dem Sonderpreis „Judentum und Antisemitismus“ ausgezeichnet.

Die Masterarbeit fragt nach Gestalt, Funktion und Zusammenhang von Motiv- und Aussagefeldern innerhalb des christlich-antijüdischen Diskurses um 1500, die intensiv mit Gefühlen des Ekels, des Abscheus und des Horrors operierten und frühneuzeitliche Juden (seltener auch Jüdinnen) als  verabscheuungswürdige „Andere“ innerhalb der christlichen Dominanzgesellschaft inszenierten. Im Zentrum der Arbeit stehen dabei neben den dehumanisierenden „Judens*u“-Darstellungen vor allem die sich seit Hoch- und Spätmittelalter ausbildenden narrativen Konstrukte rund um Ritualmord, Hostienschändung und Brunnenvergiftung. Untersucht wird, warum diese gänzlich fiktiven und dämonisierenden Diffamierungserzählungen so eng an verstörende Körperbilder, insbesondere die Überschreitung der Hautgrenze gebunden waren – sei es in Form des Durchstechens und Aufschneidens der christlichen Ritualmordopfer, des Vergiftens von Trinkwasser oder Arznei, der Zerstörung der Hostie und damit des Leibes Christi oder durch kannibalistische Praktiken. Der Körper und insbesondere die Haut wurden in den phantasmatischen Szenerien und Narrativen zu Projektionsflächen, auf denen sich –  so die leitende These der Arbeit – die Ängste und Unsicherheiten der christlichen Dominanzgesellschaft, ihre brüchigen Identitäten und Ordnungsvorstellungen (bspw. in Bezug auf Abendmahl und Transsubstantiationslehre) besonders effektiv verhandeln und stabilisieren ließen. Dabei wurden jüdische Gemeinschaften einerseits zum negativen Spiegelbild der christlichen Dominanzgesellschaft zurechtgemacht, andererseits fungierten sie aber auch als fantasierte Agenten eines für die christliche Mehrheit tabuisierten Genießens (Sadismus, Kannibalismus, Gotteslästerung etc.) und beglaubigten darüberhinaus als Zeugen von Wunderphänomenen schließlich die religiösen Überzeugungen des Christentums.

Neben einer breiteren Einordnung der entsprechenden Narrative u.a. in ihre Entwicklungsgeschichte, die sie bedingenden theologischen, politischen, medizinischen und künstlerischen Diskurse, den engeren Zeitkontext der Jahrhundertwende (inklusive zeittypischer Phänomene wie Buchdruck und Reformation) untersucht die Arbeit v.a. repräsentative Fallbeispiele und ihren situativen Kontext. Ausgewählte Quellen werden dabei einem detaillierten Close Reading unterzogen, das auch bisher unerklärliche oder teils bizarre Aussagekomplexe zu entschlüsseln versucht. Methodisch-theoretisch stützt sich das Projekt dabei einerseits auf die Überlegungen der Sozialanthropologin Mary Douglas zur ordnungsstabilisierenden Funktion von Reinheitsvorstellungen. Andererseits wird mithilfe psychoanalytischer Konzepte gezeigt, wie die entsprechenden Vorstellungen als institutionalisierte psychische Abwehrangebote mit stark projektivem Charakter begriffen werden können, die sich vor allem durch ihre starke Überdeterminiertheit und Vielschichtigkeit auszeichneten. Die Arbeit versteht sich dabei auch als Beitrag zur Erforschung wirkmächtiger (teils antisemitischer) Verschwörungserzählungen der Gegenwart, welche auf die Erzeugung von Ängsten vor körperinvasiven Angriffen abzielen.