„The Hopeful Science. A Transatlantic History of Business Forecasting, 1920-1960“
Für ihre Dissertation am Institut für Geschichtswissenschaften erhält Laetitia Lenel den Humboldt-Preis 2021.
Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Wirtschaftswissenschaftler:innen Rezessionen in der Regel nicht vorhersagen können. Dennoch haben ihre Prognosen nicht an Attraktivität und Bedeutung eingebüßt. Dieser Widerspruch bildet den Ausgangspunkt der Arbeit The Hopeful Science. In fünf Kapiteln verfolgt die Dissertation die Entwicklung der Konjunkturprognostik von ihren Anfängen im frühen zwanzigsten Jahrhundert bis in die 1960er Jahre. Anhand der Geschichte fünf unterschiedlicher Prognoseinstrumente und -techniken, ihrer Entstehung sowie transnationalen und zum Teil globalen Verbreitung, kann die Arbeit zeigen, dass sich nicht nur die Techniken, sondern auch die gesellschaftlichen Funktionen der Konjunkturprognostik verändert haben. Was anfangs dazu gedacht war, wirtschaftlichen Entscheidungsträger:innen gesichertes Wissen über die wirtschaftliche Zukunft und die vermeintlich zeitlosen Gesetze des Konjunkturzyklus zu vermitteln, avancierte bald zu einer Technik, um Erwartungen auszutauschen und zu koordinieren. So veränderten die neuen Daten, welche die Konjunkturprognostik generierte – Daten darüber, wie Agent:innen Erwartungen bilden, aber auch kontinuierlich revidieren – die Vorstellungen von wirtschaftlichem Wandel. Dadurch setzte sich schließlich die Auffassung durch, dass der Konjunkturzyklus nicht zeitlosen Gesetzmäßigkeiten folge, sondern das Ergebnis unzähliger, historisch kontingenter Transaktionen ökonomischer Akteur:innen sei.
Ironischerweise, und das ist eine Antwort auf den anfangs erwähnten Widerspruch, verstärkte die Vorstellung einer grundsätzlichen Offenheit der wirtschaftlichen Zukunft die Bedeutung der Prognostik auf lange Sicht. Wenn die Zukunft das Ergebnis der täglichen Transaktionen von Wirtschaftsakteur:innen war, wurde es für wirtschaftliche und politische Entscheidungsträger:innen umso wichtiger, die Erwartungen anderer Akteur:innen zu kennen. Als Reaktion auf diese Erkenntnis, aber auch auf Abweichungen zwischen Prognosen und den tatsächlich realisierten Bedingungen, veränderte sich die Funktion der Prognostik auf signifikante Weise. Von einem Instrument der Repräsentation verwandelte sie sich in ein interaktives Koordinationsinstrument, das politischen und ökonomischen Entscheidungsträger:innen ermöglicht, ihre Erwartungen zu koordinieren und die Zukunft auf diese Weise zu gestalten. Die Geschichte der Konjunkturprognostik unterstreicht damit die interaktive, aber auch historisch kontingente Natur ökonomischer Erwartungsbildung und belegt zugleich, dass die ökonomische Wissensproduktion eine entscheidende Rolle in der Produktion “der Wirtschaft” spielt.