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„Ausstellungspolitiken 1972 Werner Haftmann und Joachim Uhlitzsch interpretieren J. M. W. Turner“

Für ihre Masterarbeit am Institut für Kunst- und Bildgeschichte wurde Antonia Anna Maria Kölbl mit dem Humboldt-Preis 2022 ausgezeichnet

1972 fanden sowohl in Dresden als auch in West-Berlin zwei Ausstellungen statt, die erstmalig das Werk des britischen Künstlers J. M. W. Turner (17751851) umfassend in Deutschland präsentierten. Sie bildeten verspätet den Auftakt zu einer deutschen Rezeption des Malers und hätten unterschiedlicher nicht ausfallen können. Die Auswertung der Quellen in den Museums- und Staatsarchiven zeigt, in welcher Weise die Inszenierungen der verantwortlichen Museumsdirektoren Joachim Uhlitzsch in Dresden und Werner Haftmann in Berlin kulturpolitische Ziele im Kalten Krieg verfolgten.

Ermöglicht wurden die deutschen Turner-Premieren durch das Interesse der Londoner Tate Gallery an Leihgaben aus dem Bestand des Malers Caspar David Friedrich (17741840). Im Gegenzug schickte das Museum 25 Werke Turners zunächst in die Gemäldegalerie Neue Meister der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden und von dort in die West-Berliner Nationalgalerie.

Während Uhlitzsch, der nach verschiedenen kulturpolitischen Funktionen die Leitung der Gemäldegalerie übernommen hatte, Turner in seiner Zeit um 1800 verortete und nicht von einer aktuellen Relevanz der Werke ausging, stand genau diese für Haftmann Mitbegründer der documenta und Gründungsdirektor der Neuen Nationalgalerie, im Zentrum. Für ihn war Turner ein Wegbereiter der Abstraktion, die in seinen Augen nach 1945 in der US-amerikanischen Kunst auf einen Höhepunkt gelangt war. Turners Bilder dienten Haftmann als weiteres Argument für die von ihm in der documenta und in seinen Schriften propagierte Westanbindung der Kunstgeschichtsschreibung. Uhlitzsch hingege hatte ausschließlich das kulturpolitische Interesse seines Staates im Auge. Vor der Anerkennung der DDR durch die Bundesrepublik 1973 war die Zusammenarbeit mit Museen wie der Londoner Tate ein in dieser Hinsicht signalsetzendes, diplomatisch wichtiges Ereignis.

Aus den Archivquellen lässt sich nicht nur die unterschiedliche Turner-Rezeption in Ost und Westdeutschland rekonstruieren, sondern auch die wissenschaftliche und politische Selbstverortung zweier zur damaligen Zeit ungemein einflussreicher deutscher Museumsdirektoren. Seit 2000 ist die Stasi-Mitarbeit von Uhlitzsch bekannt, seit 2019 – für Fachwelt und Feuilleton gleichermaßen überraschend wurden die Mitgliedschaften und außerwissenschaftlichen Tätigkeiten Haftmanns im Nationalsozialismus publik.

Haftmanns über allem Politischen schwebendes, ahistorisches Kunstgeschichtsmodell hat seitdem einen Beigeschmack, begünstigt es doch das Übergehen seiner eigenen NS Verstrickungen. Der Ausstellungsvergleich zeigt, in welcher Weise Kunst nicht nur eine symbolische Rolle im außenpolitischen Streben der DDR nach Anerkennung spielte, sondern auch für die Westanbindung der Bundesrepublik ideenpolitische Bedeutung hatte.