Humboldt-Universität zu Berlin

„Totalität und Bruch: Die Montage in der "Bloch-Lukács-Debatte“

Für ihre Bachelorarbeit am Institut für deutsche Literatur wurde Erika Meibauer mit dem Humboldt-Preis 2022 ausgezeichnet.

Gegenstand der Arbeit ist die quellenbasierte Rekonstruktion eines Streits um die künstlerische Technik der Montage zwischen den marxistischen Philosophen Ernst Bloch und Georg Lukács im Jahre 1938. In der bisherigen Forschung wurde diese Montage-Diskussion weitgehend vernachlässigt; die Arbeit zeigt jedoch, dass ihr im Kontext der Expressionismusdebatte eine paradigmatische Rolle zukommt. 

Die Expressionismusdebatte, eine der wichtigsten ästhetischen Auseinandersetzungen der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurde 1937/38 von deutschsprachigen Intellektuellen in der sowjetischen Exilzeitschrift Das Wort ausgetragen. Verhandelt wurde dabei, welche Aspekte der Kunst der Weimarer Republik für eine zukünftige antifaschistische bzw. sozialistische Kunst genutzt werden könnten. Der Moskauer Kreis um Lukács lehnte die Kunst der Avantgarde zugunsten seines Konzepts eines sozialistischen Realismus ab, das zur kulturpolitischen Leitlinie unter Stalin avancierte. Dagegen forderten verschiedene Stimmen aus der UdSSR, die zunehmenden Repressionen ausgesetzt waren, und dem sonstigen außerdeutschen Exil – darunter prominent Bloch – die Akzeptanz avantgardistischer Kunstwerke als ‚Erbe‘ für die sozialistische Kunst. 

Die Analyse mehrerer theoretischer Texte dieser Hauptopponenten der Expressionismusdebatte ergibt, dass die Montage als ästhetisches Verfahren im Zentrum ihrer Auseinandersetzung steht. Das Kernkorpus bilden ein Abschnitt aus Blochs Abhandlung Erbschaft dieser Zeit (1935), dessen Aufsatz „Diskussionen über Expressionismus“ (1938) sowie Lukács'Replik „Es geht um den Realismus“ (1938). Die Montage, die Anfang des 20. Jahrhunderts wegen ihrer ausgestellten Fragmentierung mit ästhetischen Traditionen brach, gilt oft als Kennzeichen der Kunst der Avantgarde. Ihre unterschiedliche Bewertung ergibt sich in der ‚Bloch-Lukács-Debatte‘ aus erkenntnistheoretischen und geschichtsphilosophischen Überlegungen: Bloch betrachtet die Montage als (künstlerisches) Abbild des bruchstückhaften modernen Gesellschaftszustands und schreibt ihr eine kritische Funktion zu. Lukács übernimmt diese Einordnung der Montage als Epochenmerkmal unter umgekehrten Vorzeichen: In seiner polemischen Argumentation ist sie Ausdruck der Unfähigkeit der avantgardistischen Künstler*innen, die Wirklichkeit in ihrer Totalität darzustellen und somit negatives Gegenstück zum auf Organizität abzielenden sozialistischen Realismus. ‚Totalität‘ und ‚Bruch‘ erscheinen daher als begriffliche Pole der Auseinandersetzung

Damit wirft die Arbeit neues Licht auf einen wesentlichen Teil der komplexen Diskurse um die Avantgardebewegungen in der Zwischenkriegszeit. Die Befunde tragen zum tieferen Verständnis des Problems der Bewahrung von kulturellem Erbe an der Schnittstelle zwischen ästhetischer Philosophie und (dogmatischer) Kulturpolitikbei, das auch im Nachkriegsdeutschland wichtig sein sollte. Darüber hinaus regen sie die ideengeschichtliche Erforschung des – keineswegs immer zielführenden – geistigen Umgangs mit Krisensituationen an: Der Streit um die Montage zwischen Bloch und Lukács ist nicht zuletzt ein Zeugnis für die Fraktionskämpfe zwischen marxistischen Intellektuellen in der Zwischenkriegszeit, die ein produktives gemeinsames Vorgehen gegen den Faschismus behinderten.