Humboldt-Universität zu Berlin

Mia‐Marie vom Bruch

„Zwischen Kunstfreiheit und antisemitischer Bildsprache am Beispiel der documenta fifteen. Aktuelle Herausforderungen im Umgang mit Antisemitismus in Kunst und Kultur“

Bereits mehrere Monate vor Ausstellungsbeginn der documenta fifteen – im Januar 2022 – weist das Kasseler Bündnis gegen Antisemitismus (BgA) auf Sympathien von documenta-Verantwortlichen für die Boykottbewegung Boycott, Divestment, Sanctions (BDS) hin. Mit der Enthüllung des Triptychons People’s Justice des indonesischen Kollektivs Taring Padi konkretisiert sich schließlich zur Ausstellungseröffnung die Sorge um Antisemitismus. Antisemitische Narrative, die unter anderem tradierte Stereotype mit Bezug auf Israel reaktualisieren, werden in weiteren Exponaten sichtbar. Die Reaktion der Verantwortlichen auf die Vorwürfe, geprägt von Problemverschiebung und Kritikabwehr, offenbart einen blinden Fleck im Umgang mit Antisemitismus auf der documenta. Die Kontroverse um die documenta fifteen wirft nun Fragen um die Vereinbarkeit von Antisemitismus- und Rassismuskritik, um Kunstfreiheit, um den Umgang mit Antisemitismus in Kulturbetrieben, um Verantwortung und Präventionsmaßnahmen auf.

Die Verstrickungen innerhalb der Debatte scheinen ambivalent, weshalb die Untersuchung im Rahmen der Arbeit aus kulturwissenschaftlicher Perspektive zwei Ebenen miteinbezieht – sowohl eine werkanalytische als auch eine diskursive Ebene. Auf Grundlage des sprachlich-semantischen Ansatzes nach Schwarz-Friesel und Reinharz[1] wird sich der Vielschichtigkeit des Konflikts im Spannungsverhältnis von antisemitischer Bildsprache und verbalen Antisemitismen genähert. Aufbauend auf der begrifflichen Klärung der zentralen Erscheinungsformen von Antisemitismus, der antisemitischen (Bild-)Sprache und der Begutachtung antisemitischer Beispiele innerhalb der Institutionsgeschichte der documenta, werden antisemitische Bildelemente decodiert und diskursive Strukturen erörtert. Vor diesem Hintergrund wird abschließend die Frage nach Ansätzen für eine antisemitismuskritische Praxis im Kunst- und Kulturbetrieb diskutiert.

Innerhalb von Debatten um Antisemitismus im Kulturbereich in Deutschland, die sich durch die Kontroverse um Achille Mbembe und um die documenta fifteen zuspitzen, wird vermehrt das Verhältnis von Erinnerungskultur und Erinnerung an koloniale Gewalt ausgehandelt. Die Konkurrenz des Erinnerns, die auf wissenschaftlicher Ebene aktuell von Rothbergs „multidirektionalen Erinnerns“[2] und von Sznaiders Gegenperspektive der Fluchtpunkte der Erinnerung[3] ausgetragen werden, ist auch in Kassel sichtbar. In der Auseinandersetzung mit den Vorwürfen von Antisemitismus wird immer wieder auf den postkolonialen Ansatz ruangrupas verwiesen. Der Vergleich von jüdischen Erfahrungen mit kolonialen Erinnerungen verhindert eine ausdifferenzierte Auseinandersetzung mit den einzelnen Phänomenen in ihrer Partikularität. Das Gemeinsame liegt wohl eher in der spezifischen Komplexität der einzelnen Gewaltgeschichten. Mit der Ausstellung antisemitischer Werke auf der documenta fifteen riskiert man schließlich eine wachsende Resilienz von Zeig- und Sagbarem. In Anlehnung an Max Czollek lässt sich abschließend sagen, dass „die Frage der Trauer eine ist, in der keine Konkurrenz existiert. Es ist genug Trauer für alle da.“[4]

 

[1] Schwarz-Friesel, Monika und Jehuda Reinharz: Die Sprache der Judenfeindschaft im 21. Jahrhundert, Berlin ; Boston: De Gruyter 2013 (Europäisch-jüdische Studien Beiträge 7).

[2] Rothberg, Michael: Multidirektionale Erinnerung. Holocaustgedenken im Zeitalter der Dekolonisierung, Berlin: Metropol 2021.

[3] Sznaider, Natan: Fluchtpunkte der Erinnerung Über die Gegenwart von Holocaust und Kolonialismus, Erscheinungsort nicht ermittelbar: Carl Hanser Verlag GmbH & Co. KG 2022.

[4] Czollek, Max und Ibou Diop: „Regulierte Emotionen. Gewalt, Solidarität und Vulnerabilität in der radikal vielfältigen Gesellschaft“, Becoming vulnerable. Ambivalenzen der Solidarität. Entanglements zwischen Antisemitismus, Kolonialrassismen und Holocaust in Geschichte und Erinnerungspolitik, Berlin 2022; siehe auch Rauchfuß, Sarah: „CPPD in den Medien: MAX CZOLLEK, STAUFFENBERG UND DIE DEUTSCHE ERINNERUNGSKULTUR“, in: Dialogue Perspectives (01.08.2021), https://www.dialogueperspectives.org/de/blog/max-czollek-stauffenberg-und-die-deutsche-erinnerungskultur/ (abgerufen am 21.10.2023).