Humboldt-Universität zu Berlin

Paula Zwolenski

„Sensible Tonaufnahmen aus dem Archiv. Kommunikationsversuche und Selbstverortung in den Tonaufnahmen des indischen Kriegsgefangenen Baldeo Singh“

Während des Ersten Weltkrieges zeichnete die sogenannte Königlich Preußische Phonographische
Kommission hunderte deutsche Kriegs- und Zivilgefangene phonografisch auf, mit dem Ziel,
linguistische Sprachbeispiele zu produzieren. Die Aufnahmen folgten klaren Vorgaben der kolonialen
Wissensproduktion, bei der den Sprechenden jegliche Subjektivität und politische Ausdrucksfähigkeit
abgesprochen wurde.

In meiner Bachelorarbeit beschäftige ich mich mit den Tonaufnahmen des indischen
Kriegsgefangenen Baldeo Singh und widme mich der Fragestellung, inwiefern Baldeo Singh die
inszenierte Aufnahmesituation als Akt der Selbstverortung und Kommunikation nutzte.

Um die Bedingungen der Sprechsituationen zu verstehen, wird zuerst die Geschichte der
Phonographischen Kommission erläutert und koloniale Verflechtungen sowie rassistische und
eurozentristische Ansichten der deutschen Wissenschaftler aufgezeigt. In einer Analyse der
asymmetrischen Machtverhältnisse zwischen den Kommissionsmitgliedern, Lagerkommandanten und
Kriegsgefangenen wird die subalterne Position der Sprecher verdeutlicht. Kriegsverbrecherische
Methoden, wie das systematische Aushungern, werden diskutiert, um die vermeintliche Freiwilligkeit
der Teilnahme der Gefangenen am Forschungsprojekt zu widerlegen.

In der kritischen Auseinandersetzung mit den Praktiken des Archivierens, Transkribierens und
Übersetzens von historischen Stimmaufnahmen werden Problematiken im Umgang mit sensiblen
historischen Dokumenten identifiziert und Lösungsstrategien diskutiert. In enger Zusammenarbeit
mit Vertreter*innen der Herkunftsgesellschaft wird der Versuch gewagt, eine Re-Subjektivierung des
Sprechers vorzunehmen, und sein Leben zu rekonstruieren.

Der Arbeit ist es gelungen, die aufgenommenen Sprechinhalte historisch und kulturell einzuordnen
und versteckte Botschaften zu entschlüsseln. Es wird bewiesen, dass Baldeo Singh im Subtext
kritisiert, appelliert und kommuniziert, und Schweigen performativ einsetzt, um die Bedeutung des
Gesagten dramaturgisch zu verändern. Des Weiteren wird aufgezeigt, wie Baldeo Singh durch das
unaufgeforderte Aufsagen seines Namens und einem Ausruf auf Deutsch die Kontrolle über die
Sprechsituation übernimmt und sich als individueller Sprecher und ebenbürtiger
Kommunikationspartner mit subjektiver und politischer Ausdrucksfähigkeit positioniert

Während meiner Nachforschungen stieß ich auf die Schellackplatte einer für verschollen geglaubten
Tonaufzeichnung von Baldeo Singh, was die Relevanz der weiteren Erforschung der Archivbestände
verdeutlicht. In einem Exkurs werden Thesen zum vermeintlichen Verlust der Schellackplatte
diskutiert und sich kritisch mit kolonialen Praktiken des Archivierens, wie dem systematischen
Unterschlagen, auseinandergesetzt. Die Digitalisierung der Tonaufnahme soll einen Beitrag zur
Dekolonialisierung des Archivs leisten.