The normativity of rationality
Laudatio
Benjamin Kiesewetter bekommt den Humboldt-Preis für seine philosophische Dissertation. In seiner Dissertationsschrift, die auch im internationalen Vergleich allerhöchste Maßstäbe wissenschaftlicher Exzellenz erfüllt, beschäftigt sich Herr Kiesewetter mit einem der meistdiskutierten Probleme der gegenwärtigen praktischen Philosophie: der Frage, ob unsere alltäglichen Beurteilungen von Verhalten und Einstellungen als „rational“ und „irrational“ als normative Parameter dienen können.
Zusammenfassung
Manchmal sind wir irrational. Der eine glaubt, dass er – alles in allem betrachtet – mit dem Rauchen aufhören sollte, bildet aber nicht die Absicht aus, dies auch zu tun. Der nächste beabsichtigt zwar, mit dem Rauchen aufzuhören, ergreift dann aber nicht die Mittel, die er zu diesem Zweck für notwendig erachtet. Ein Dritter glaubt an die Evolutionstheorie, und glaubt auch, dass die Evolutionstheorie mit der Bibel nicht vereinbar ist, glaubt aber dennoch weiter an die Bibel. Ist daran eigentlich etwas auszusetzen? Sollten wir rational sein und Irrationalität vermeiden?
Gewöhnliche Zuschreibungen von Irrationalität scheinen vorauszusetzen, dass diese Frage nach der normativen Verbindlichkeit der Rationalität mit „ja“ zu beantworten ist. Denn wenn wir eine Person als irrational bezeichnen, kritisieren wir sie, und damit sagen wir auch, dass ihr Zustand der Überprüfung und Änderung bedarf. Es gehört zu unserem Selbstverständnis als vernunftbegabte Lebewesen, dass wir unser Denken und Handeln an rationalen Kriterien orientieren sollten. Zugleich ist diese Annahme auch zentraler Bestandteil wichtiger Theorieentwürfe, von der Antike über die Neuzeit bis in die Gegenwart. In den letzten Jahren ist die Normativität der Rationalität jedoch mit eindrucksvollen Argumenten in Zweifel gezogen worden. In meiner Arbeit verteidige ich die traditionelle Sichtweise gegen diese skeptische Position und gebe ihr gleichzeitig einen neuen Gehalt.
Virulent wird die Frage nach der Normativität der Rationalität vor dem Hintergrund einer strukturellen Rationalitätskonzeption, die in der Philosophie ebenso wie in den Sozial- und Wirtschaftswissenschaften viele Anhänger hat. Dieser Konzeption zufolge erfordert es Rationalität, dafür zu sorgen, dass die eigenen Meinungen, Absichten, etc. auf zu klärende Weise zueinander passen – etwa indem wir die Mittel zu unseren Zwecken beabsichtigen. Die eingangs skizzierten Fälle können als paradigmatische Beispiele für strukturelle Irrationalität gelten. Wird Rationalität in dieser Weise verstanden, dann lässt sich grundsätzlich fragen, welche Gründe wir eigentlich haben, solche Anforderungen der Rationalität zu erfüllen.
Der Grundgedanke der Theorie, die ich in meiner Arbeit entwickle, lässt sich wie folgt beschreiben: Rationalität erfordert nicht strukturelle Kohärenz von Einstellungen als solche; sie erfordert vielmehr, dass wir diejenigen Einstellungen haben, für die wir ausschlaggebende Gründe haben. Dass es z.B. irrational ist, widersprüchliche Meinungen zu haben, liegt nicht daran, dass Rationalität die Widersprüchlichkeit von Meinungen selbst untersagt. Stattdessen ist die Widersprüchlichkeit nur ein Hinweis darauf, dass mindestens eine der betreffenden Meinungen der Person nicht hinreichend durch Gründe gedeckt ist. Diesen Kerngedanken arbeite ich zu einer Konzeption theoretischer und praktischer Rationalität aus, die den traditionellen Gedanken, dass Rationalität normativ ist, stützt, diesem aber gleichzeitig einen neuen Gehalt verleiht.