Humboldt-Universität zu Berlin

Bücher überleben Flammen

Abschlussrede des ungarischen Schriftstellers György Konrád zur Gedenkwoche "Verbranntes Wissen"

Alternativtext
Foto: Heike Zappe
Abb.: Foto: Heike Zappe

György Konrád

Die Bücherverbrennung war ein Stadtfest. Vergleichbar den öffentlichen Hinrichtungen. Blättern wir doch in der Geschichtschronik acht Jahrzehnte zurück, wenn es nun schon zur Gewohnheit geworden ist, besonderer Tage zu gedenken, nicht nur der erfreulichen, sondern auch der für uns abscheulichen.

Meine Empfindungen gegenüber der angesprochenen Zeit sind auch deshalb gemischt, weil im Frühjahr 1933 nicht nur das Dritte Reich geboren wurde, sondern auch meine Wenigkeit. Und daß ich dies getan habe, fand im nachhinein nie meine Mißbilligung.

Als Neugeborenes mochte ich davon vielleicht noch nicht erfahren haben, daß sich in Berlin so mancherlei um das Feuer herum abspielt und daß alles mögliche zu hören ist, ungestüme, auch mich betreffende Worte, daß zwischen Berlin und Berettyóújfalu eine schicksalhafte Beziehung zustande gekommen war, über die ich mich damals noch nicht mit der erforderlichen Gründlichkeit informiert hatte.

Auf dem Opernplatz, dem Platz der lodernden Bücher, sprach jemand vom heiligen Zorn Adolf Hitlers.

Erfolgsstimmung, wenn auch nicht ungetrübt. Den Staat hätten sie bereits erobert, die Hochschulen aber noch nicht, sagte ein leidenschaftlicher Student.

Die geistige SA rückt in die Hallen des Wissens ein, studentische SA-Kolonnen in schwarzen Uniformen und Paradeschritt halten Einzug in die Universität. Laßt die Fahnen flattern und den Trommelwirbel hören!

Systemwende, nationalsozialistische Revolution!

Die um das Feuer versammelten Professoren und Studenten der in unmittelbarer Nachbarschaft befindlichen Universität sind erfüllt vom Geist der neuen Zeiten, vom wunderbaren Frühlingserwachen, der Wiedergeburt des deutschen Volks und dem Aufstieg des deutschen Reichs.

Im Land der Dichter und Denker herrscht ein neuer Geist, das Selbstbewußtsein des Frontsoldaten, die Betonung der läuternden Kraft des Todes, wodurch eine Volksgemeinschaft geboren wird, eine Volkskultur um den heiligen Zorn herum.

Die Redner verherrlichen die Volksgemeinschaft und legen auf das entschiedenste fest, daß für Nicht-Deutsche, Undeutsche, der Eintritt verboten sei.

Um der Reinheit willen muß das Volkstum auf wissenschaftliche, rassentheoretische, Grundlagen gestellt werden, deren Eckpfeiler die Ungleichheit der Rassen ist.

Die nördlichen wären somit Übermenschen, die Semiten, die Juden also, Untermenschen. Deren Geist ist giftig. Ihre Bücher gehören auf den Index!

Nicht anders ergeht es den Arbeiten arischer Autoren, die in ihrem Denken von Kulturbolschewisten oder Liberalen, also Juden, vergiftet worden sind.

Der Führer erklärte das Judentum zum nationalen Feind, gleich in welchem Gewand, gleich ob Demokratie, Liberalismus, Sozialismus oder Kapitalismus, einerlei.

Der enthusiastische Student findet in der Burschenschaft, die rassistische Standpunkte vertritt, ein Zuhause. Hierin sind der nationale Gedanke und der Schutz der deutschen Besonderheit am wichtigsten. Auch in Turn- und Gesangvereine oder Tanzgruppen kann er um Aufnahme bitten. Selbstverständlich nur dann, wenn er ein junger Mensch arischer Abstammung und von völkischem Bewußtsein durchdrungen ist.

Wenn er Pazifismus und Volksverrat voll Abscheu von sich weist, wenn er für das Wiedererwachen des Kriegswillens schwärmt, wenn er davon überzeugt ist, daß Literatur und Volksmoral vom Schmutz gesäubert werden müßten, dann hat er in den Spuren des Führers den rechten Weg beschritten.

Auf die Form, das Parallelogramm, mußte auf jeden Fall geachtet werden. Die originale Gestalt des Bücherscheiterhaufens hatte an allen seinen Kanten ein dreimal drei Meter großer Würfel zu sein.

Vom nationalrevolutionären Feuer führte ein kurzer Spaziergang zur zweihundertfünfzig Jahre alten Akademie der Künste, deren Fachabteilung Literatur die zu verbrennende Schundliteratur hingebungsvoll mehrte, so auch die Bücher der Brüder Heinrich und Thomas Mann in diese Kategorie einordnete.

Auch vor der schädlichen Wirkung der entarteten bildenden Kunst Klees, Kandinskys, Beckmanns, Noldes, Schwitters und Kokoschkas mußte das Volk geschützt werden.

Der Jude Max Liebermann, Präsident der Akademie zwischen 1920 und 1932, wohnte auf der anderen Seite des Pariser Platzes, gleich links vom Tor, wenn man nach Berlin hereinkommt. Unter seinem Balkon marschierte die nationalsozialistische Parteimeute, er aber hätte nicht so viel essen können, wie er zum Erbrechen gehabt habe, erklärte er.

Das Führerprinzip müsse überall eingeführt werden, meinten die um das Feuer versammelten Intellektuellen, interessierte Zuhörer von Doktor Goebbels. Was die Akademie angeht, so war dieses Bestreben alsbald von Erfolg gekrönt.

Auf einer der nächsten Mitgliederversammlungen, als die Akademie aus ihrem alten Sitz auf dem Pariser Platz, dem Palais Arnim, bereits ausquartiert war, saßen den Mitgliedern drei Männer gegenüber: der vom heiligen Zorn übermannte Führer persönlich, ihm zur Seite Göring, der zweite Mann im Reich, und der Sekretär der Akademie, der zwölf Jahre lang die rechte Hand des Akademiepräsidenten Max Liebermann gewesen war und 1935, als der jüdische Maler und Präsident gestorben war, sich zu dessen Beerdigung nicht einmal bereit zeigte, im Namen der Akademie ein Blumengebinde zu schicken.

Die begeistert das Feuer umringenden Männer erkannten, daß der Scheiterhaufen nicht genug sein würde, daß die Schundliteratur in Bibliotheken und Buchhandlungen lauern könnte, wenn nicht vorn, dann hinten, wenn nicht sichtbar, dann im verborgenen.

Also wurden zum Schutz des Volkes landesweite Razzien organisiert, um nach dem gedruckten Gift zu fahnden.

Im ganzen Land, vor allem in den Universitätsstädten, wurden die konfiszierten Bücher den alles verzehrenden Flammen übergeben.

Verantwortlich dafür war der Kampfbund für deutsche Kultur. Auf dessen Wirken vor achtzig Jahren geht eine geschichtsphilosophische Frage zurück, nämlich inwieweit die Bücherverbrennung als Emblem der nationalsozialistischen Kulturpolitik zu betrachten sei.

Auf jeden Fall können wir feststellen, daß die Bücherverbrennung eine Metapher für radikale Zensur ist.

Die nationalsozialistischen Deutschen meinten, Bücher und Gedanken könne und dürfe man verbrennen, die Kultur vom Schmutz säubern.

Hinter der Rede derer, die über die Reinheit der Ideen wachen, ist es seither und auch anderswo nicht schwer, das Gesicht des Zensors zu sehen und den Geruch des Gefängnisses zu spüren.

Wütender und klangvoller Schutz der Sauberkeit bereitet die Aussonderung vor, um die Kultur schließlich hinter Stacheldraht zu sperren.

Je mehr sich die Kultur abschottet, desto strengerer Kontrolle wird die gesamte Bevölkerung unterworfen.

Die Bücherverbrennung geht mit Uniformen, Militarisierung und militärischer Unterordnung der Kultur einher.

Glückliches Aufgehen in kämpferischem Hochmut.

Nach dem Zeugnis des Geschehenen ließ sich das Volk von der Schreckensherrschaft der Psychopathen mitreißen. Die Verzückung uneingeschränkter Machtfülle ergriff das Publikum. Die Autoren aber sahen, wie ihre Bücher auf den Scheiterhaufen flogen.

Die Professoren und Studenten sagten und glaubten vielleicht sogar daran, daß dies dem Schutz und der Stärkung des nationalen Geistes diene.

In den Augen Außenstehender sei das nicht schön gewesen?

Die Antwort auf eine derartige Krittelei mußte bedingungslos und unerbittlich sein: Nur uns gibt es. Nur uns und die übernatürlichen Kräfte des Führers. Niemand sonst zählt. Selbst Heidegger bewunderte die Hand des Führers.

Dem brüllenden Rasen wurde Heiligkeit zugesprochen.

Hitler gelang es, mit seinem verblendeten Seelenzustand der Reichshysterie Millionen zu infizieren.

In einer unsicheren Zeit erblickten die Königsmacher in Hitler ihren Mann. Sie suchten nicht nach einem Philosophen, sondern nach einem Volksredner, einem Verzückten und Verzückenden, einem hypnotisch Tobenden, der auch große Massen mitreißen kann.

Sie prüften, wer als künftiger tyrannischer Machthaber die beste Figur abgab und erblickten in Hitler bei der Verbreitung von Hysterie ihren Meister, der die Fähigkeit besaß, die Volksstimmung gegen den Feind, gegen den Rivalen zu lenken.

Wie würde er sich lenken lassen? Diese Frage stellte sich. Wenn der Machtrausch, die Paranoia und die Selbstanbetung des vorgesehenen Führers extrem sein können, dann könnte der Kampfhund auch seinen Herrn beißen und zur Tollwut neigen. Er soll sich aufhetzen, aber auch bremsen und stoppen lassen. Genial souverän soll er sein, aber auch eine Marionette.

Das Casting war katastrophal erfolgreich.

Die Bücherverbrennung stelle ich mir wie eine orgiastische Eruption vor, als Sich-Entledigen von einem kulturellen Kodex.

Es erbebten die unterdrückte militärisch-bürokratische Tradition und der Obrigkeitskult, wonach es Übermenschen gebe, höherwertige Völker und Rassen und demzufolge auch Untermenschen, minderwertige Völker und Rassen, mit denen entsprechend zu verfahren sei.

Die Brutalität gegenüber den Schwächeren wurde durch den Geist der Aufklärung, des europäischen Humanismus und der europäischen Toleranz, der deutschen Selbsterziehung, im Zaum gehalten, einen Geist, dessen selbstkritischer Klarblick nach dem Rausch des Ersten Weltkrieges die Luzidität der Ernüchterung und damit einhergehend die intellektuellen Leistungen der Weimarer Demokratie bewirkten.

Doch wenn in einer Person, in einer Gemeinschaft wenigstens zwei Seelen wohnen, kann man sich unmöglich vorstellen, daß die eine die andere endgültig überwältigt und die unterlegene nicht versucht zu zappeln und den Zuchtmeister von sich zu stoßen.

Die Besonderheit der deutschen nationalsozialistischen Bücherverbrennung besteht darin, daß sie eine bisher existierende Freiheit in Brand gesetzt hat, daß der Führerstaat und der Plan der nationalrevolutionären Diktatur zur Einführung der Zensur eine liberale Demokratie zerstört haben.

Eine solche Metamorphose geht naturgemäß mit dem Gewaltkult einher, mit der Verehrung des starken Mannes. Aber wo ein für stark gehaltener Volksredner herrscht, dort gibt es einen Verbotsindex, einen Reißwolf und Bücherverbrennung.

Das Tor zum jüdischen Friedhof ist eingestürzt; ich stehe in der unterbrochenen Kontinuität. Hier ruhen meine Groß- und Urgroßeltern väterlicherseits. Auf einer Marmortafel die Namen der Deportierten, der in deutschen Konzentrationslagern Vernichteten.

Die Tanten, Onkel und Cousinen, bewacht von Gendarmen, auf dem Bahnsteig des Bahnhofs in einer langen Reihe mit Mänteln über den Armen und Koffern. Der Zug fuhr ein, und sie bestiegen den ihnen zugewiesenen Viehwaggon, der sie endgültig von hier wegbrachte.

Der Zug, der meine Klassenkameraden aus der jüdischen Grundschule der Kleinstadt verschleppte, fuhr direkt zur Verladerampe von Birkenau, an den Ort der Selektion.

Auf der einen Seite schlugen Flammen und Rauch aus dem Schornstein, auf der anderen strömte frisches Menschenmaterial in die Duschanlage. Die Kleidung wurde zur Desinfektion abgegeben. Die ins Gas Geschickten merkten sich die Nummer ihrer Kleiderbügel. Zeit, sie zu vergessen, hatten sie nicht mehr.

Meine Altersgenossen, die Elfjährigen, waren an jenem Abend schon nicht mehr am Leben.

Im Sommer 1944 brannten sozusagen nur noch ungarische Juden in den Krematorien. Wer am Leben geblieben und zurückgekehrt war, der ging später weg.

Da die Deportation der ungarischen Juden nach der deutschen Besetzung Ungarns geschah, von außen initiiert, von innen schwungvoll abgewickelt, hängt meine Biographie eng mit den Berliner Ereignissen zusammen.

Unser eigentliches Thema ist eine Regression, die Geschichte eines Rückfalls, ein achtzig Jahre zurückliegender spezieller, doch auch anderswo zu befolgender, damals deutscher Weg, sagen wir: zurück von der Buchdruckerkunst zur Bücherverbrennung, von der Aufklärung und der Demokratie zur Haßrede und zur Willkürherrschaft, zur Bündnisherrschaft von Idee und Waffen, zum totalen Staat.

Parallel zu den von der Freiheit träumenden Künsten entwickelte sich der kaiserliche Absolutismus, der sich die Entwicklung des Staates und nebenbei die bürokratische Überwachung des Bürgertums zum Ziel gesetzt hatte.

Disziplin und Gehorsam waren für die nationale Mehrheit kein Problem. Wenn auch nicht für alle. So sarkastische Geister, wie beispielsweise Heine und Marx, konnten sich nicht fügen.

„Wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen!” sagte der Jude Heine vor fast zweihundert Jahren.

Einige Juden waren imstande, wenn sie Habachtstellung annehmen sollten, den Befehl ins Lächerliche zu ziehen. Dementsprechend waren sie prädestiniert für die Rolle einer zu vertreibenden Minderheit.

Warum stand das Judentum als Feind des Diktators an erster Stelle? Wegen des verkörperten Paradoxons, kreuz und quer in aller Welt miteinander verbunden und dennoch unauflöslich zu sein.

Selbst wenn es wollte, könnte es nicht einfach etwas ganz anderes sein. Doch das will es auch nicht unbedingt.

Es war ein leichtes, allzu leichtes, hinter einigen überraschenden Leistungen oder erfolgreichen Rivalen irgendwelche Unterweltpraktiken zu vermuten. Über den gemeinsamen Dämon herzuziehen, war auch kein schlechtes Gesellschaftsspiel.

Wo es Juden gibt, dort erhebt gegenüber erstarrter Tradition die Absicht kritischer Erneuerung wahrscheinlich ihr Haupt.

Die spekulativen, indes als destruktiv gebrandmarkten Ideen, all das, was wir Aufklärung nennen, verbanden sich mit den Juden, die in der deutschen Bevölkerung nicht einmal ein ganzes Prozent ausmachten.

Im Interesse ihrer Selbstverteidigung brauchte die freidenkerische Minderheit jenseits von Nation, Religion und Klasse die universellen Ideen, um sich gegenüber der argwöhnischen Umgebung, die den Wettbewerbsvorteil mit irgendetwas Hinterhältigem erklärt, auf eine höhere Anschauung berufen zu können.

Die Rede war also von Humanismus, Menschenrechten, geistiger und wissenschaftlicher Forschung.

Es nutzte nichts.

Der deutsche Nationalismus wollte sich von dem einen Prozent Juden befreien und damit einhergehend von dem weiterreichenden Standpunkt: vom europäischen.

Wenn eine Partei oder ein Staat auf Bücher Benzin spritzen, dann kommt auch der tonangebenden Kultur Mitschuld zu.

Auf dem Berliner Opernplatz verbrannte nicht nur Goebbels Gedrucktes, sondern auch Professoren warfen eifrig Bücher auf den Scheiterhaufen. Statt eines Literaturstreits verbrannten sie mit Hilfe der Studenten symbolisch ihre Kollegen.

In Parteistaaten möchte die politische Klasse die Kultur für ihre Zwecke nutzen, sie nach ihren Zielen und Voreingenommenheiten ausrichten. Die Sache der Literatur aber geht in erster Linie nicht den Staat etwas an, sondern die Schriftsteller, Verlage, Buchhändler und Leser.

Die Literatur hat außerhalb ihrer Welt keinen legitimen Richter.

Zwischen Staat und Kultur kann keinerlei Subordination akzeptiert werden.

Literatur existiert, weil nicht zu sein, sie nicht will und nicht kann. Sie ist also auf keinerlei Rechtfertigung und Billigung von außen angewiesen.

Literatur können wir uns auch als persönliche Selbstverteidigung gegenüber Gefahren, Bedrohungen und aggressiven Rhetoriken vorstellen.

Staatskult und Überbewertung der Politik entsprechen einer Selbstlähmung der Bürger.

Bücherverbrennungen sind eine rituelle Ablehnung intellektueller Autonomie, Waffen gegen freies Denken.

Der Obrigkeitsstaat sieht in den von ihm unabhängigen Autonomien, in der freien Intelligenz unberechenbare Gefahren.

Das Selbstwertgefühl der Begabungen aber kann sich auf längere Sicht dem um seiner selbst willen bestehenden, zentralisierten Etatismus nicht unterwerfen.

Jedwede demokratische Opposition zweifelt die Grundideen und die Selbstrechtfertigung unumschränkter Herrschaft an.

Alternative Weltanschauungen stehen einer Herrschaft, die sich selbst nicht beschränken möchte, im Weg. Deshalb erscheint es aus der Sicht des Fast-Diktators begründet, die ersteren in der Öffentlichkeit als unsympathisch hinzustellen.

Im Kampf gegen eine in ungünstiges Licht gerückte Minderheit läßt sich die Diktatur bequemer ausbauen. Eine zum Feind erklärte, zum Verstummen gebrachte und entfernte kulturelle Minderheit stärkt den Zusammenhalt der für gut befundenen Mehrheit.

Je härter die Ausbürgerung vor sich geht, desto loyaler und disziplinierter verhält sich die einer Säuberung unterzogene Mehrheit. Das Beispiel der zum Feind erklärten Gruppe, die Aggressivität der Aussonderung, die starre Ablehnung von Kontakten zu den Auszuschließenden, Abzuschiebenden und den der Strafverfolgung zu Übergebenden sowie die Scheu vor Mitgefühl erfüllen die Geduldeten, an ihrem Platz Gelassenen mit Angst und machen sie vielleicht auch gefügiger.

Wenn also eine ideologische Gruppe oder Partei nach Machtvollkommenheit strebt, dann kann sie gegenüber den prinzipiell Abgelehnten nicht nachsichtig sein. Im Lager eines Speisesaals für Aufseher fand sich eine Inschrift: Du mußt die Häftlinge nicht nur bewachen, sondern auch hassen.

Der nach dem Gipfel Trachtende muß den zu Hassenden benennen. Wer Machtvollkommenheit will, der muß möglichst bald über die zu Verstoßenden, die Quellen des Bösen, herfallen.

Der Feind muß symbolisch umgebracht werden. Zuerst sind seine Bücher, sein Geist, zu verbrennen. Dies ist die vorangehende Vernichtung, nach der nur noch die tatsächliche Abwicklung als technische Aufgabe bleibt. Für die aktiv daran Teilnehmenden sollte die Vernichtung eine ekstatische Freude sein.

Axiom der nationalen Revolution: Das kämpferische Feuer darf niemals ausgehen. Wenn du nicht entschlossen und nicht bereit bist zu zerstören, dann wirst du selbst zerstört werden.

Hysterie, gesteigertes und wonnevolles Rasen sind der Normalzustand des Extremismus.

Der Diktator muß normale Menschen in wilde Bestien verwandeln. Danach hat er sich eine Ruhepause verdient, in der er, zahm geworden, Hunde und Kinder streicheln kann.

Die zentralisierte Herrschaft erzeugt eine Psychose, die keine von ihr unberührten, unabhängigen Inseln dulden kann und sogar die familiäre Sphäre, die Kreise des Privatlebens ihrer Kontrolle unterziehen will.

„Wer sind wir? Und welchem Sammelbegriff sollen wir uns anschließen?” fragen sich besorgte Staatsbürger.

Auch kluge Menschen waren auf die nationalsozialistische Machtübernahme, die trotz ahnungsvoller Angst unerwartet gekommene Wende, nicht vorbereitet, nicht auf das brutale Hervorbrechen unter der Oberfläche verborgener Tendenzen, nicht auf die Explosion unterdrückter Aggressionen, die schließlich der unumschränkten Herrschaft der Zensur freien Raum gewährte. Hier das Rezept: Nimm dir ein verdrossenes, indes gut entwickeltes Nationalbewußtsein, und rufe: „Vorwärts!”

Was sagen der nationale Parteistaat und die radikale Zensur? Was sagen sie dem, den sie nicht mögen und der sie ärgert? Sie sagen ihm: „Verschwinde!”

Wenn du nicht mein Anhänger bist, wenn du mich verspottest, wenn du mich ablehnst, wenn du mich nicht zu schätzen weißt, dann sei überhaupt nicht, falle in den Brunnen, ohne darin zu plätschern! Niemand soll sich an dich erinnern, niemand deinen Namen erwähnen! Denn je weniger es dich gibt, desto eher gibt es mich. Mein Sein und dein Sein sind gegensätzliche Interessen.

Respekt und Toleranz sind nur ein Märchen, etwas Nicht-Existierendes, was zur Herrschaft der Stärke im Gegensatz steht, uns also fremd ist.

Wir müssen uns nicht schämen, den Hasenherz-Humanismus zu verachten und auszulachen.

Eine vorgeschossene mitmenschliche Solidarität gibt es nicht! Ihr dürft nur existieren, sofern ihr mir dient!

Keine friedlichen Gefilde, wohin mein Arm nicht reichen würde. Gleich wo auf der Welt mir Widerstand gleistet wird, einen Schlag auf das Köpfchen, den nächsten auf den Sargnagel. Und fertig, geschafft.

Ich bade mich in eurer Begeisterung; sie läßt mein Rheuma vergehen.

Wer hat nicht applaudiert? Er soll aufstehen! Dort hinten in der Ecke, der mit der Brille und den langen Haaren, der gegrinst hat, als ich von dem sprach, was uns heilig ist!

In drei Vierteln der Welt gibt es keine Dmokratie. Und wo es keine Demokratie gibt, dort herrscht Zensur, die von Zeit zu Zeit mit dem Tanz um einen Bücher-Scheiterhaufen einhergeht.

Despotie, Zensur und Bücherverbrennung gehören zusammen.

In Diktaturen verschwindet die formale Trennung von Staat und Gesellschaft.

Vom Staat unabhängige Existenzen gibt es nur wenige. Es gibt keinen neutralen Ort. Zensur ist ein bestimmender Bestandteil von Diktatur und Persönlichkeit des Staatsmenschen. Der Staatsmensch tut und sagt nichts, was seine Staatsstellung gefährden und wodurch er den Zorn der Straforgane auf sich lenken könnte.

Staatskultur ist eine zum Charakter gewordene Ausübung von Zensur. In harten Diktaturen ist die Überwachung aggressiv und schreibt den Menschen vor, was sie zu sagen haben. Weiche oder weich werdene Diktaturen geben sich damit zufrieden, wenn die Menschen nichts Verbotenes sagen oder schreiben.

In Diktaturen lügen nicht nur die Ehrlosen, sondern auch die Anständigen routiniert.

In einem Regime mit dem Führerprinzip als Grundidee muß der sich ihm Widersetzende beiseite geschafft werden.

Zur Bestätigung der These, daß sich bestimmte Menschengruppen einschmuggeln wie schädliches Ungeziefer, das dementsprechend auszumerzen ist, braucht es auch Worte.

Zur Begründung und Voraussetzung einer Diktatur gehört fundierter Groll, eine Kultur kollektiven Ressentiments, von denen die Zeitgenossen in Freunde und Feinde eingeteilt werden.

Zensur ist auch dort allgegenwärtig, wo von Politik keine Rede ist.

Jede Institution der Gesellschaft ist ein Bauelement der Hierarchie.

Die Kontrolle des Wortes in der Diktatur kann keine formale sein, ist es doch in der Sprache des Rechts nicht leicht zu beschreiben, was gesagt werden darf.

Anschaulichstes Kampfmittel gegen störende Personen: etwas von ihnen verbrennen. Vielleichst ihre Bücher, ihre Fotos.

Fahnenschwenken, Übernahme von Auszeichnungen und Aufblitzen lächelnder Gruppenbilder begleiten die Karrieren, die unseren Nächsten zugefügten Schäden.

Die scheußlichen Gewalttätigkeiten, deren Zeugen wir gewesen sind, hingen und werden stets mit irgendeinem Ideenstrauß zusammenhängen, mit Glaubenssätzen und Theorien, Worten also, deren Wesen in der Verdammung einer anderen Menschengruppe besteht, deren bloßes Sein ein bedauerlicher Umstand ist.

Hinter den Verbrechen sehe ich individuelle und allgemeine Dummheit, einen Menschen, den es nicht interessiert, daß sein Tun für den anderen schlecht ist, im Gegenteil, der sich darüber sogar freut.

Am meisten macht es die politische Überwachung nervös, wenn man ihr in die Augen blickt und sie beim Namen nennt. Haben die Bürger Angst vor ihr, dann gibt sich die Zensur selbstsicher. Kommen die Bürger zu Kräften, dann bekommt es die Zensur mit der Angst zu tun. Doch solange die Zensur existiert, bleibt es sich nicht gleich, was für Menschen die Zensoren sind. Und darüber kann man sich viel unterhalten.

Die Staatsgesellschaft ist eine beständige historische Realität. Sie reproduziert ihr Subjekt und ihr Hauptwerk, den Staatsmenschen, für den die Zensur sein geistiges Wesen ausmacht.

Jenes Prinzip, wonach dem feisten Staat als höherer Instanz das Recht zukommt, die Literatur zu lenken und zu kontrollieren, bedeutet, daß der Niedrigere, der Dümmere das Recht hat, den Höherstehenden und Klügeren zu kontrollieren.

Es versteht sich von selbst, daß jeder künftige Diktator vom Fenster aus die Fahne der Heimatliebe schwenkt.

Heimat ist keine Entschuldigung für Schändlichkeiten.

In der Zeit der Willkürherrschaft zog ich mich in die Opposition zurück. Dort passiert wenigstens etwas.

Das eine Typoskript verbarg ich in einem Plastiksack unter einem Kohlehaufen.

Sollte der Text schlecht sein, wird er nicht dadurch gerettet, daß er gute Politik ist.

Als Selbstverlag kann ich meine Manuskripte verstecken und Angst davor haben, daß sie konfisziert und vernichtet werden. In einer Druckerei beschlagnahmten sie neun verkleinerte und gebundene Xeroxkopien meines Romans, der kraft Gerichtsurteil verbrannt worden ist. Ich konnte mich noch freuen, daß das Urteil nur das Buch und nicht mich betraf.

Im Zimmer über mir belauschte mich eine Abhörvorrichtung. Ich wurde umgeben vom neugierigen Staat. Zeit der Schikanen, Beschränkungen und Disziplin.

Vor 1989, im alten System, wurde die präzise Frage in der intellektuellen Alltagssprache provokative Frage genannt. Die Mehrheit der Befragten meinte, es sei überflüssig, ihren Arbeitsplatz durch eine unvorsichtige Antwort zu gefährden.

Zur Zensur bedarf es keiner Zensurbehörde. Es reicht, wenn du dir die Ratschläge der Zensur ins Gehirn einbrennst und verinnerlichst.

Die Zensur sind wir selbst. Sie ist die Funktionsweise unseres Innersten und unseres Verstands. Wir könnten uns auch nicht von ihr lösen. Doch dann gibt es einen rätselhaften Moment, in dem plötzlich verhältnismäßig viele genug haben von der murrenden Hoffnungslosigkeit. Immer mehr Menschen machen sich  Mut: Eine Wahrheit kann auch dann kein Irrtum sein, wenn nur du allein sie aussprichst. Und so bleibst du schließlich nicht allein.

Beginnt so eine neue historische Ära, in der dich die Frage von Erlaubt und Nicht-Erlaubt nicht mehr beschäftigen muß?

Der Durchbruch, das Auseinanderdrücken der Gitterstäbe, ist eine berauschende Erfahrung und verleiht dem Schreiben neue Würde.

Der Schriftsteller ist ein geheimer laizistischer Mönch. Unser Orden: Weltbund erbitterter Individualisten. Wir haben niemanden über uns. Nur den Sternenhimmel. Wir verstecken uns, damit man unseren Worten Beachtung schenkt. Wir sind schamhaft und schamlos zugleich. Orden wechseln ihre Regeln nicht mit jeder neuen Modebrise.

Literatur ist eine lebenslange Arbeit. Als Gegengewicht zum konfusen Druck der Zeit will der Schriftsteller die Dinge mit eigenen Augen sehen.

1989 fand die Untergrundrede Eingang in die oberirdische Rede. Das Leben zog sich aus der strafbaren Sphäre hinüber in die naturgegebene, die selbstverständliche, die normale Sphäre. Noch konnte ich Angst haben, daß das Erscheinen meiner Bücher eine vergängliche Strömung, ein vorübergehender Kurs, also rückgängig zu machen sei. Die Streichung der Zensur mußte gesetzlich abgesichert werden.

1989 fing ich an, mich im Land zu bewegen und heimischer zu fühlen. Der Freiheitsbegriff ließ das Leben vibrieren.

Für Intellektuelle ist Gedankenfreiheit am wichtigsten.

Während des zwanzigjährigen Lehrgangs der Demokratie hat weder die Gesellschaft der Regierenden noch das schwankende Volk gelernt, wie hinfällig dieser unser größter Schatz ist: die Freiheit.

Was wir im Jahre 2010 in Ungarn infolge der Parlamentswahlen mit der Freiheit verloren haben, was es bedeutet, wenn selbst geringfügiges Aufbegehren mit dem Verlust der Arbeit einhergehen kann, ohne daß die Chance auf einen neuen Arbeitsplatz besteht, das begreift die Mehrheit der Ungarn erst im nachhinein.

Das Publikum nimmt den sprachlichen Wandel wahr und hält es nicht für ausgeschlossen, daß die Stimmung der alten Zeiten in veränderter Form zurückkehrt, mit anderen Worten, daß man wieder Angst haben und die Möglichkeiten der Emigration oder eines inneren Exils erwägen muß.

Wieder gibt es eine Herrschaft der Parteikader, allerdings nicht der Kommunisten, sondern der Nationalisten. Anfangs wurden Sprachgebrauch und Stimmung der radikalen Massenbewegung von vielen mit Beifall bedacht.

Man kann rückfällig werden und sich wieder in der gewohnten Vorsicht verkriechen.

In den Augen der lokalen Idioten war ich verwerflich; sei es als Jude, sei es als Bürger. Und auch als Autor meiner Bücher, die als staatsfeindliche Hetze, ja, sogar als Vaterlandsverrat eingestuft wurden. Ich aber hielt sie für antipolitische Texte.

In der Tat möchte ich nicht, daß die Politiker allzu viel Macht, mehr als nötig, besitzen. Denn nicht nur um mein Wohlbefinden und meine Freiheit mußte ich ihretwegen bangen, sondern manchmal auch noch um mehr.

Ein Volk, ein Staat, ein Führer! Das war 1933, im Jahr meiner Geburt, in der ersten deutschen Republik der Slogan einer Bewegung zur Beseitigung der pluralistischen Demokratie.

Und jetzt in meiner Heimat eine neue Staatspartei? Demokratur? Mischmasch aus Demokratie und Diktatur? Führerstaat unter parlamentarischen Rahmenbedingungen? Ja, im sich vereinigenden Europa?

Parteigötzendienst spukt als politische Psychose durch die Köpfe und ermöglicht eine Regression, einen Rückfall in die Vergangenheit.

In Ungarn sind wir Versuchszeugen der modernisierten Restauration einer altmodischen nationalen Diktatur. Wir beobachten das Zauberkunststück: Wie kann man einen persönlicher Macht untergeordneten Parteistaat so machen, daß ihn viele als Mehrheitsdemokratie betrachten und darüber staunen, wie originell er doch ist.

Es geht eine sich beschleunigende Demontage des stufenweise aufgebauten Rechtsstaats vor sich.

Der größten Kriegsniederlage in der deutschen Geschichte kam auch eine ernste Erziehungsrolle zu: Die tonangebende öffentliche Meinung rechnete nicht nur mit der nationalsozialistischen Vergangenheit ab, sondern auch mit deren ideologischem Nachlaß.

Gering war auch die Niederlage Ungarns nicht. Doch die dorthin führenden geistigen Strömungen leben teils fort. Die nicht sonderlich gefällige Vergangenheit klammert sich an die Gegenwart und zieht sie zurück. Wir können ein Cocktail aus Horthy- und Kádár-Ära konsumieren.

Daß Deutschland dauerhaft im Zustand der Besinnung lebt, in dieser lernenden und verständnisvollen Offenheit, mit der es den Geist der Bücherverbrennung von 1933 ablehnt, liegt im europäischen Interesse und erweist sich als gutes Werk.

Wachsamer Klarblick kann sich als Reaktion auf diesen heiteren geistigen Zustand auch eine sich abschottende Bewegung vorstellen, eine Ablösung des europäischen Akzents durch den nationalen.

Die Verteidigung der Freiheitsrechte kommt nicht nur dort zum Einsatz, wo keine Demokratie herrscht, sondern auch dort, wo es sie gibt. Denn es kann eine neue Mode aufkommen. Und es ist nicht auszuschließen, daß junge Herzen dafür schlagen, weil ihnen die Verblendungen der Großväter besser gefallen als die ihrer Väter.

Die neuen politischen Moden zeigen im allgemeinen Stärke und begegnen den gegen sie Auftretenden mit der erforderlichen Grobheit.

An erster Stelle steht für unsere Länder die Herausforderung, tolerantes und gutwilliges Zusammenleben zu erlernen. Wozu es nicht weniger Weisheit bedarf. Die Chancen dafür stehen nicht wirklich schlecht, bedeutet es doch nicht nur Lebensstandard, sondern auch Lebenskunst, die Kunst menschlicher Beziehungen.

Sollte dies also die neue Mode sein?

Für eine Weile.

Der Rückfall von der Zivilisation des Dialogs in die Stimmung aggressiven Hochmuts ist als historische Krankheit zu betrachten, von der man geheilt werden kann. Durch viel Arbeit.

Aus dem Ungarischen von Hans-Henning Paetzke

György Konrád wurde 1933 als Sohn einer jüdischen Familie in Ostungarn geboren. Im Jahr 1944 entging er nur knapp der Deportation in das Konzentrationslager Auschwitz. Nach dem Krieg studierte Konrád Literaturwissenschaft, Soziologie und Psychologie und arbeitete als Soziologe für Städtebau in Budapest. Seine Familiengeschichte in der Zeit des Nationalsozialismus verarbeitete der Träger des Friedenspreises des Deutschen Buchhandels in verschiedenen Büchern – zum Beispiel in "Heimkehr" und "Glück". Als Essayist setzte sich Konrád schon während des Kalten Krieges für ein friedliches Mitteleuropa und für die Überwindung der Grenzen zwischen Ost und West ein.

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