Charlotte Leubuscher
Erste habilitierte Volkswirtin in Deutschland – Afrikanistin – Emigrantin

Charlotte Leubuscher
Foto: Getty/Ullstein
Charlotte (Lotte) Leubuscher war Volkswirtin, Soziologin und Afrikanistin, und die erste Frau, die sich im Jahre 1921 an einer deutschen Universität in Wirtschafts- und Sozialwissenschaften habilitierte. Sie lieferte grundlegende Beiträge zu Fragen der Sozialpolitik im europäischen Vergleich und kann als Mitbegründerin der modernen Entwicklungsökonomie für Afrika gelten.
Leubuscher entstammte einer etablierten und bestens vernetzten Familie des deutschen Bildungsbürgertums. 1888 in Jena geboren, wuchs sie in Meiningen auf, wo ihr Vater Georg als Medizinalreferent des Staatsministeriums und Leiter des Georgenkrankenhauses tätig war. Ihr Großvater väterlicherseits war der Mediziner Rudolf Leubuscher, ihr Großvater mütterlicherseits der Altphilologe Moritz Vermehren. Über ihre Großmutter mütterlicherseits, Adele Vermehren, geborene von Hase, war sie unter anderem mit Dietrich Bonhoeffer verwandt und bekannt. Charlotte besuchte das Humanistische Gymnasium in Meiningen und legte dort ihr Abitur ab.
Habilitation über „Sozialismus und Sozialisierung in England“
Nach dem Studium der Staatswissenschaften, Philosophie und Geschichte in Gießen, München, Berlin und Cambridge (Girton College) machte Leubuscher eine für diese Zeit ungewöhnlich steile akademische Karriere, die durch den Ersten Weltkrieg kaum unterbrochen wurde. Im Jahr 1913, kurz vor dem Krieg, wurde Leubuscher bei Heinrich Herkner am Staatswissenschaftlich-Statistischen Seminar der Berliner Universität mit der Arbeit „Der Arbeitskampf der englischen Eisenbahner im Jahre 1911“ (1913) promoviert, auf Grundlage von Material, das sie während eines mehrwöchigen Studienaufenthaltes in Großbritannien (Girton College, Cambridge) erhoben hatte.
Mit Herkner, der 1912 Gustav von Schmoller auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften und 1917 als Vorsitzender des Vereins für Socialpolitik gefolgt war, hatte Leubuscher einen hervorragenden akademischen Förderer, der – wie sie selbst erinnerte – Frauen in den Sozialwissenschaften große Bedeutung beimaß (Leubuscher 1931, S. 641ff). Zum Kreis seiner Schülerinnen werden Rosa Luxemburg, Alexandra M. Kollontai, Frieda Duensing und Antonie (Toni) Stolper gezählt. Seit November 1919 war Leubuscher als Herkners Assistentin am Staatswissenschaftlichen Seminar der Berliner Universität beschäftigt. Zwei Jahre später habilitierte sie sich dort mit einer Arbeit „Sozialismus und Sozialisierung in England“ (1921) und erwarb die Venia legendi für Staatswissenschaften, die erste Habilitation einer Frau an der Universität außerhalb der Naturwissenschaften. Zudem wurde sie 1922 als eine der ersten Frauen in den Hauptausschuss des Vereins für Socialpolitik kooptiert. Als Privatdozentin hatte sie seit 1923 einen Lehrauftrag an der Universität Göttingen mit dem Schwerpunkt Sozialpolitik und Sozialismus und seit dem WS 1924/25 einen an der Berliner Universität mit dem Schwerpunkt ausländische Sozialpolitik unter besonderer Berücksichtigung Englands und Rußlands. Aufgrund des Antrags der Fakultät – u.a. H. Herkner, L. von Bortkiewicz, F. von Gottl-Ottlilienfeld – erhielt Leubuscher 1929 eine a.o. Professur für Volkswirtschaftslehre an der Berliner Universität. Hier lehrte sie vorwiegend zu Themen der Sozialpolitik im internationalen Vergleich, sowie zur Wirtschaft und Wirtschaftspolitik Großbritanniens und des British Empire und übernahm Herkners Vorlesungen zur Finanzwissenschaft (einen vollständigen Überblick zu ihren Lehrveranstaltungen an der Berliner Universität findet man auf dieser Webseite).
Forschung zur Entwicklung Afrikas
Seit etwa 1925 begann sie sich mit Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas zu beschäftigen, zunächst als Aspekt der britischen Handelspolitik, anschließend zunehmend aus Perspektive einer globalen Sozialpolitik. 1929 wurde ihr von der Notgemeinschaft der Deutschen Wissenschaft (der Vorläuferorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft) eine Reisebeihilfe für „Forschungen in der Südafrikanischen Union über die Frage der Eingeborenenarbeit“ bewilligt. Leubuscher reiste für fünf Monate nach Südafrika, nahm dort an wissenschaftlichen Tagungen teil und sammelte umfangreiches Material, das sie 1931 unter dem Titel „Der südafrikanische Eingeborene als Industriearbeiter und als Stadtbewohner. Mit einer einleitenden Übersicht über die afrikanische Eingeborenenfrage“ publizierte. Sie bezog hier eindeutig Stellung gegen jede Form von Rassismus und „Segregation“ und untersuchte, wie eine (weitere) Proletarisierung der schwarzen Bevölkerung verhindert und wirtschaftliche und soziale Gleichberechtigung erreicht werden könne. Das Buch wurde vielfach, gerade auch in englischsprachigen Fachzeitschriften besprochen (etwa sehr positiv von Alice Werner, Journal of the Royal African Society, Jul., 1932, 31/124) und begründete ihren Ruf in der noch jungen Afrikanistik. Im Oktober 1931 wurde sie (neben ihrer späteren Kollegin Margery Perham, Oxford, aber auch neben dem Rassetheoretiker und späteren Rektor der Berliner Universität Eugen Fischer) als Mitglied in das International African Institute aufgenommen.
Ihre deutsche Universitätskarriere wurde 1933 durch die Nationalsozialisten jäh beendet. Im September 1933 wurde ihr nach §3 des ’Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums’ die Lehrbefugnis entzogen, da ihre Großeltern väterlicherseits jüdischer Herkunft waren. Noch im selben Jahr emigrierte Leubuscher nach Großbritannien, wo sie an zahlreiche Kontakte anknüpfen konnte. Nach einem Forschungsstipendium von ihrem alten College in Cambridge, Girton, wurde ihre weitere Forschung durch die Lady Margret Hall Oxford gefördert, später durch ein Fellowship am Nuffield College Oxford, ein Stipendium der London School of Economics (wo sie unter anderem Bekanntschaft mit Professor Arthur Plant machte, einem eminenten Förderer der Entwicklungsökonomie), es folgten Tätigkeiten für das Colonial Office, das Royal Institute of International Affairs sowie nicht zuletzt an der Universität Manchester.
Der Schwerpunkt ihrer Arbeit lag nunmehr zunehmend auf der wirtschaftlichen Entwicklung Afrikas, insbesondere auf Entwicklungen in den britischen Kolonien. Ihre vielfältigen Studien aus dieser Zeit zeugen sowohl vom Einfluss der historischen Schule und ihrer sozialreformerischen Ideen als auch von Leubuschers dezidiert marktwirtschaftlichem Ansatz. In ihrem Tanganyika-Buch von 1944, aber auch in ihrer Studie zur (industriellen) Verarbeitung von Rohstoffen von 1951 fragte sie nach den Möglichkeiten einer wirtschaftlichen Selbstermächtigung der Afrikaner unter den Bedingungen einer globalen Marktwirtschaft. Sie kritisierte dabei offen fehlgeleitete Versuche der britischen Kolonialregierungen, die beispielsweise zu wenig Gewicht auf Bildung legten, und argumentierte für eine behutsame, schrittweise Industrialisierung auf Grundlage von Eigentumsrechten der afrikanischen Bevölkerung. Dabei betonte sie Aspekte von Marktzugängen und Lieferketten, die spätere Ideen von Paul Krugman und Anthony Venables vorwegzunehmen scheinen. Ihre letzte Publikation, die posthum veröffentlicht wurde, fokussierte sich auf die langfristige Entwicklung des Westafrikanischen Handels und kritisierte den negativen Einfluss machtbeherrschender Monopole. Ausgehend von umfangreichem Datenmaterial zeigte sie den dominierenden Einfluss weniger großer Unternehmen auf diesen Handel mit weitreichenden, negativen Folgen für die Entwicklung Westafrikas.
Ihr wahrscheinlich wichtigstes, sicherlich aber einflussreichstes Werk ist allerdings ihr Beitrag zum monumentalen African Survey (von über 1800 Seiten), veröffentlicht unter dem Namen von Lord Hailey durch Chatham House im Jahre 1938. Während Lord Hailey durch Überlastung nahe am Nervenzusammenbruch war, wurde der African Survey weitgehend verfasst von Lucy Mair, Margery Perham und Charlotte Leubuscher (unterstützt von zahlreichen weiteren Mitarbeitern, darunter René Kuczynski). Der Survey wurde zu einem Wendepunkt der britischen Kolonialpolitik, markiert durch die offizielle Ablehnung rassischer Unterschiede und die Verpflichtung der britischen Regierung auf eine Politik zum Wohl aller Bewohner des British Empire. Die Verabschiedung des Colonial Welfare and Development Act von 1940 wurde entscheidend durch den African Survey beeinflusst und Charlotte Leubuscher hatte daran einen wichtigen Anteil. Leubuscher war auch eine der wichtigsten Mitarbeiterinnen an der überarbeiteten zweiten Auflage von 1945.
Im Jahr 1946 nahm Leubuscher die britische Staatsbürgerschaft an. Zehn Jahre später, 1956, erhielt sie von der westdeutschen Bundesregierung den Titel eines Prof. Emeritus in Anerkennung für ihre außergewöhnlichen wissenschaftlichen Leistungen, verbunden mit einer Pension. Sie kehrte freilich nicht nach Deutschland zurück, am 2. Juni 1961 starb sie in London.
Schriften
Der Arbeitskampf der englischen Eisenbahner im Jahre 1911. Mit einem einleitenden Überblick über die allgemeinen Entwicklungstendenzen in der heutigen englischen Arbeiterbewegung, in: Staats- und sozialwissenschaftliche Forschungen, hrsg. von G. Schmoller/M. Sering, H. 174, München/Leipzig 1913.
Sozialismus und Sozialisierung in England. Ein Überblick über die neuere Entwicklung der sozialistischen Theorien und über die Probleme der Industrieverfassung Englands, Jena 1921.
Die Nationalökonomin, in: Die Frau 32 (1924), S. 219-220.
Die Berufslage der deutschen Hochschuldozentinnen, in: Die Frau 33 (1925), S. 533-537.
Liberalismus und Protektionismus in der englischen Wirtschaftspolitik seit dem Kriege, Jena 1927.
Der südafrikanische Eingeborene als Industriearbeiter und als Stadtbewohner. Mit einer einleitenden Übersicht über die afrikanische Eingeborenenfrage, Jena 1931.
Heinrich Herkner zum Gedächtnis, in: Die Frau 39 (1931/32), S. 641-644.
An African Survey: A Study of Problems arising in Africa South of the Sahara, Chatham House, London 1938.
Tanganyika Territory. A Study of Economic Policy under Mandate. (Issued under the auspices of the Royal Institute of International Affairs, Oxford 1944.
The Processing of Colonial Raw Materials. A Study in Location, London 1951.
Bulk Buying from the Colonies. A Study of the Bulk Purchase of Colonial Commodities by the United Kingdom Government. Issued under the auspicies of the Royal Institute of International Affairs, London 1956.
The West African Shipping Trade 1900-1959, Leyden 1963..
Literatur
- Allgoewer, Elisabeth: Frauen im Verein für Socialpolitik: Von den Anfängen bis zum Ersten Weltkrieg, in: Spahn, Peter (Hg.): Zur Geschichte des Vereins für Socialpolitik. Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie XLI, Schriften des Vereins für Socialpolitik, No. 115/XLI, Berlin 2023, S. 81-134.
- Cell, John W.: Lord Hailey and the Making of the African Survey, in: African Affairs 88 (1989), No. 353, S. 481-505.
- Keller, Marion: Pionierinnen der empirischen Sozialforschung im Wilhelminischen Kaiserreich, Stuttgart 2018.
- Plant, Arthur: Professor Charlotte Leubuscher, Obitury in: The Times, London, 12. Juni 1961.
- Stoecker, Holger: The Advancement of African Studies in Berlin, in: Helen Tilley/Robert J. Gordon (Hrsg.), Ordering Africa. Anthropology, European Imperilaism, and the Politics opf Knowldege, Manchester 2007, S. 67-94.
- Wobbe, Theresa: Karrieren im nationalen Kontext: Soziologinnen in Deutschland, in: Jahrbuch für Soziologiegeschichte 1993, S. 93-114.
- Wobbe, Theresa: Leubuscher, Charlotte Anna Pauline, in: Harald Hagemann/Claus-Dieter Krohn (Hrsg.), Biographisches Handbuch der deutschsprachigen wirtschaftswissenschaftlichen Emigration nach 1933, Band 2, München 1999, S. 376-378.
24. Juli 1888 (Jena) – 2. Juni 1961 (London)