Victor Klemperer

Viktor Klemperer,
Foto: SLUB/Deutsche Fotothek,
freier Zugang
Der Sohn eines Rabbiners verbrachte den Großteil seiner Jugend und Gymnasialzeit in Berlin. Sein Studium der Philosophie, Romanistik und Germanistik, das er zunächst nicht abschloss, führte ihn über München, Genf und Paris an die Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. Ab 1905 zunächst als freier Autor in Berlin tätig, kehrte er 1912 an die Münchener Universität zurück, wo er im gleichen Jahr mit einer Studie über die „Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln“ promoviert wurde und sich 1914 mit einer Arbeit über „Montesquieu“ habilitierte. Ein Lektorat an der Universität Neapel gab er 1915 auf, um sich als Freiwilliger zum Dienst im ersten Weltkrieg zu melden.
An der Technischen Hochschule Dresden hatte er ab 1920 eine romanistische Professur inne, bis er von den Nationalsozialisten 1935 in den vorzeitigen Ruhestand versetzt wurde. Unter den antisemitischen Repressionen der Nationalsozialisten verlor Klemperer nach und nach alle wissenschaftlichen Arbeitsmöglichkeiten, insbesondere den Zugang zur Sächsischen Landesbibliothek, und sein Haus; zuletzt musste er Zwangsarbeit in einer Fabrik leisten. Hatte er sich zuvor vor allem der französischen Lyrik und Prosa des 18. und 19. Jahrhunderts gewidmet, wurde die Propagandasprache der Nationalsozialisten für ihn bis 1945 zum einzigen philologischen Arbeitsgebiet, da er nur diese im Alltag noch beobachten konnte. Die Tagebuchnotizen zur Lingua Tertii Imperii wurden bis Kriegsende von einer befreundeten Ärztin versteckt und konnten 1947 als „LTI. Notizbuch eines Philologen“ erscheinen.
Victor Klemperer und seine Frau Eva, die einem klassischen Rollenbild folgend bereits früh auf eine eigene Karriere als Pianistin und Organistin verzichtet hatte, überlebten die NS-Zeit, weil Klemperers nichtjüdische Ehefrau zu ihm stand und beide nach dem Bombenangriff auf Dresden vom 13./14. Februar 1945, unmittelbar vor der Klemperer drohenden Deportation, aus der Stadt fliehen und sich verstecken konnten. Nach ihrer Rückkehr nach Dresden konnte Klemperer wieder seine Professur in Dresden einnehmen und wurde ab 1947 auf Lehrstühle in Greifswald, Halle und an der Humboldt-Universität berufen, wo er von 1951 bis 1954 das Institut für Romanistik leitete.
Chronist des Zeitgeschehens
Seine politische und wissenschaftliche Rolle in der DDR betrachtete er mit zunehmender Verbitterung, da er Parallelen zwischen Nationalsozialismus und Kommunismus sah, zumal in deren ideologischer Sprache, deren Ausprägung in der DDR er nun als Lingua Quarti Imperii (LQI) in seinen Tagebüchern notierte, während er gleichzeitig von 1950 bis 1958 der DDR-Volkskammer angehörte. Nachdem ihm Lehrstühle an den großen Universitäten schon vor 1933 durch den Antisemitismus im deutschen Wissenschaftsbetrieb verschlossen geblieben waren, zweifelte er angesichts des doppelten Exodus der jüdischen und nichtjüdischen bürgerlichen Wissenschaftler nach 1933 und 1945 am Wert einer Professur an einer ostdeutschen Universität. Einer seiner letzten Tagebucheinträge enthält eine Abrechnung mit dem Kommunismus sowjetischer Prägung. In seiner frühen romanistischen Forschung war Klemperer durch die Völkerpsychologie Wilhelm Wundts geprägt, die ihn nach nationalen Eigenheiten in den jeweiligen Literaturen suchen ließ. Insofern war sein wissenschaftliches Werk zeitgebunden. Dagegen wird „LTI“ bis heute immer wieder neu aufgelegt. Viel Aufmerksamkeit erhielten die präzisen, schonungslosen Beobachtungen in seinen ab Mitte der 1990er Jahre veröffentlichten Tagebüchern zunächst der NS-Zeit, sodann der Weimarer und der DDR-Zeit sowie sein auf der Grundlage der nicht mehr erhaltenen Tagebücher verfasstes „Curriculum Vitae 1881-1918“, deren Publikation aus dem Nachlass seine zweite Frau Hadwig Klemperer ermöglichte. Die Tagebücher seit 1918 sind inzwischen vollständig online publiziert.
Schriften (in Auswahl)
- Die Zeitromane Friedrich Spielhagens und ihre Wurzeln, Weimar 1913
- Montesquieu, 2 Bände, Heidelberg 1914/15
- Die moderne französische Prosa 1870–1920, Leipzig 1923
- Die moderne französische Lyrik von 1870 bis zur Gegenwart, Leipzig 1929
- Die französische Literatur von Napoleon bis zur Gegenwart, 4 Bände, Berlin 1925–1931
- LTI. Notizbuch eines Philologen, Berlin 1947
- Geschichte der französischen Literatur im 18. Jahrhundert, 2 Bände Berlin 1954, Halle 1966
- Curriculum Vitae. Erinnerungen 1881–1918, 2 Bände Berlin 1996
- Tagebücher
- Ich will Zeugnis ablegen bis zum letzten. Tagebücher 1933–1945, 2 Bände, Berlin 1995
- Leben sammeln, nicht fragen wozu und warum. Tagebücher 1919–1932, 2 Bände, Berlin 1996
- So sitze ich denn zwischen allen Stühlen. Tagebücher 1945–1959, Berlin 1999
- Klemperer online Tagebücher 1918–1959, Oldenbourg 2019, (im Netz der HU zugänglich)
Literatur
- Borchert, Christian/Almut Giesecke/Walter Nowojski (Hrsg.): Victor Klemperer. Ein Leben in Bildern, Berlin 1999.
- Watt, Roderick H.: ‚Ich triumphiere sozusagen‘: The publication history of Victor Klemperer’s ‚Zion-Kapitel‘ in LTI (1947–1957), in: German Life and Letters 56 (2003), 132–141.
- Nowojski, Walter: Victor Klemperer (1881–1960). Romanist – Chronist der Vorhölle. Berlin 2004.
- Heintze, Horst: Erinnerungen an einen ‚homme de lettres‘ namens Victor Klemperer, Glienicke u.a. 2011.
- Arvi Sepp, Topographie des Alltags. Eine kulturwissenschaftliche Lektüre von Victor Klemperers Tagebüchern 1933-1945, Paderborn 2016
- Frédéric Joly, La langue confisquée. Lire Victor Klemperer aujourd’hui, Paris 2019
- Georges Didi-Huberman, Le témoin jusqu’au bout.Une lecture de Victor Klemperer, Paris 2022