Humboldt-Universität zu Berlin

Marie Jalowicz-Simon

Verfolgte des Nationalsozialismus – wichtige Vertreterin der Klassischen Philologie in der DDR

Alternativtext

Marie Jalowicz Simon, 1984 
Foto: Joachim Thurn

Marie Jalowicz Simon wurde nach 1933 als Jüdin verfolgt und tauchte, nachdem ihre Eltern gestorben waren, 1942 unter. Mit Hilfe vieler Menschen gelang es ihr zu überleben. Nach dem Zweiten Weltkrieg war sie nach dem Studium als Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte an der Humboldt-Universität tätig und wurde zur zentralen Figur in der Klassischen Philologie der DDR.

Hermann Jalowicz, ein Rechtsanwalt, dessen Vater aus Russland nach Berlin gekommen war, und Betti Jalowicz, geborene Eger, die als junge Frau Bürovorsteherin in einer Anwaltskanzlei tätig war, waren schon elf Jahre verheiratet, als ihre Tochter Marie im April 1922 geboren wurde. Sie wuchs in einer gutsituierten, bildungsorientierten jüdischen Familie auf, die in der Prenzlauer Straße nahe dem Alexanderplatz wohnte, besuchte Grundschule und das Sophien-Lyzeum.

Der Machtantritt der Nationalsozialisten veränderte alles. Wegen der immer schärfer werdenden antisemitischen Maßnahmen gegen jüdische Rechtsanwälte war die wirtschaftliche Existenz der Familie zunehmend bedroht. Zudem starb die Mutter 1938 an Krebs, gerade einmal dreiundfünfzig Jahre alt. Die große Wohnung in der Prenzlauer Straße wurde viel zu teuer; Vater und Tochter zogen zu einem jüdischen Ehepaar ein paar Häuser weiter in ein leerstehendes Zimmer. Hermann Jalowicz, der in der zionistischen Sportbewegung aktiv war, bemühte sich um ein Zertifikat zur Einreise nach Palästina, aber diese Möglichkeit zerschlug sich. Da das Wirtsehepaar nach Shanghai ausreisen konnte, musste er mit seienr Tochter erneut umziehen, schließlich in ein, wie Marie Jalowicz in ihren Erinnerungen schrieb, „scheußliches und verwanztes Zimmer bei einer Familie Ernsthal in der Prenzlauer Straße 9. Mein Vater war verzweifelt. Immer wieder sagte er, er wolle mir doch ein schönes Leben bieten, aber er könne überhaupt nichts für mich tun.“ 1941 starb auch er.

Im Untergrund in Berlin 

Ab 1940 musste Marie Jalowicz Zwangsarbeit bei Siemens leisten, im Herbst begannen die Deportationen der deutschen Jüdinnen und Juden nach Osteuropa, darunter auch Maries Tante Grete. Marie Jalowicz ignorierte die Aufforderungen zur Zwangsarbeit zu melden, und als der Briefträger im Juni 1942 erneut einen Brief vom Arbeitsamt brachte, sagte sie ihm, dass Marie Jalowicz bereits deportiert worden sei, er den Brief mit dem üblichen Vermerk „Unbekannt in den Osten verzogen“ zurückgeben solle. Offiziell wurde sie damit aus der Kartei des Arbeitsamtes gelöscht.

In ihren Erinnerungen schildert Marie Jalowicz auf eindringliche Weise, wie sie untertauchte und in Berlin überlebte. Viel ist in den vergangenen Jahren über die „stillen Helden“ geschrieben worden, die Juden versteckten. Zweifellos setzten diese Menschen ihr Leben aufs Spiel, aber nicht alle taten es aus uneigennützigen Motiven, sondern ließen sich auf die eine oder andere Weise dafür bezahlen. Man lernt mit ihren Erinnerungen aber auch ein anderes Untergrundberlin kennen, über das die Gestapo keine Kontrolle hatte, wie die Zirkusleute, die Marie Jalowicz für eine Zeitlang aufnahmen, weil sie selbst am Rande der Gesellschaft lebten.

Die letzten Kriegswochen war sie in einer Gartenkolonie in Kaulsdorf versteckt, bis endlich sowjetische Soldaten sie befreiten. Das Elternhaus in der Prenzlauer Straße war ausgebombt und sie zog mit den wenigen Habseligkeiten, die ihr geblieben waren, in eine Wohnung in Pankow. Noch 1945 trat sie der KPD bei.

Heinrich Simon, ein Schulfreund, der mit ihr 1939 das Abitur in der Oberschule der Jüdischen Gemeinde absolviert und nach Palästina ausgewandert war, erfuhr, dass sie den Krieg und die Verfolgung überlebt hatte und besuchte sie, nun als britischer Soldat, im Januar 1946. Die beiden heirateten 1948; 1949 kam ihr Sohn Hermann zur Welt, der später Direktor des Centrums Judaicum/Neue Synagoge in Berlin werden sollte.

Promotion bei Liselotte Richter und
Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte an der HU 

Marie Simon studierte von 1946 bis 1949 an der Humboldt-Universität Philosophie mit einem Schwerpunkt auf der Antike und wurde 1951 bei Liselotte Richter, die als erste Frau in Deutschland 1948 als Professorin für Philosophie berufen wurde, mit einer Dissertation zum Thema „Der Naturbegriff in der Physik und Logik der alten Stoa“ promoviert. 1969 habilitierte sie sich mit einer Schrift zur „Gestalt des Epikureers in orientalischer Literatur“ und war danach zunächst als Dozentin, ab 1972/73 als Professorin für Antike Literatur- und Kulturgeschichte am Institut für Altertumskunde der Humboldt-Universität bis zu ihrer Emeritierung 1982 tätig. Hier vermochte sie es, das Profil der Philosophie der Antike unabhängig von der Dominanz des Marxismus-Leninismus weiter zu schärfen. Mehr noch, ohne Marie Simon, der einzigen Professorin in ihrer Disziplin in der DDR, wäre die Philosophie der Antike an der Humboldt-Universität, die auf eine starke Tradition zurückblicken konnte (und nach 1990 erneut das Profil der Berliner Geietswissenschaften mit prägen sollte), nicht weiter erforscht und gelehrt worden. Auch ihr Mann promovierte und habilitierte sich an der Humboldt-Universität und wurde dort Professor für Hebraistik und Arabistik am Vorderasiatischen Institut.

Marie Simon war an Großprojekten der Akademie der Wissenschaften der DDR wie dem Lexikon der Antike beteiligt, in der DDR geschätzt und geachtet. 1987 wurde sie mit dem Vaterländischen Verdienstorden in Bronze ausgezeichnet. Sie und ihr Mann hielten aber kritische Distanz zum SED-Staat und waren aktive Mitglieder der Jüdischen Gemeinde in Berlin.

Marie Simon starb im September 1998, nachdem sie im hohen Alter noch ihre Erinnerungen an die Zeit als untergetauchte Jüdin in Berlin auf Tonband diktiert hatte, und wurde auf dem jüdischen Friedhof in Berlin-Weißensee beerdigt.

Schriften (in Auswahl)

  • Der Naturbegriff in der Physik und Logik der alten Stoa (Ein Beitrag zum Verständnis stoischer Ideologie), Berlin, Phil.Diss, 1951.
  • (mit Heinrich Simon): Die alte Stoa und ihr Naturbegriff. Ein Beitrag zur Philosophiegeschichte des Hellenismus, Berlin 1956.
  • Die Gestalt des Epikureers in orientalischer Literatur, Berlin 1969.
  • (mit Heinrich Simon): Geschichte der jüdischen Philosophie, Berlin/München 1984.
  • Untergetaucht. Eine junge Frau überlebt in Berlin 1940-1945, bearbeitet von Irene Stratenwerth und Hermann Simon, Frankfurt/Main 2014.

Literatur (in Auswahl)

Rauh, Hans-Christoph: Marie und Heinrich Simon, in: Personenverzeichnis zur DDR-Philosophie1945-1995, Berlin/Boston 2021, S. 526-527.