Humboldt-Universität zu Berlin

Mathilde Vaerting

Erziehungswissenschaftlerin und Soziologin – Feministin

Alternativtext

Mathilde Vaerting, Foto: Universitätsarchiv Bielefeld

Mathilde Vaerting wurde nach einem Oberlehrerexamen 1911 und einem 1919 an der Berliner Universität gescheiterten Habilitationsversuch in Psychologie in Jena 1923 als Ordinaria für Pädagogik zur ersten und bis 1945 einzigen ordentlichen Professorin an einer deutschen Universität berufen. Wissenschaftlich konstant so prominent wie angefeindet mit ihren geschlechterspezifischen und machttheoretischen, fachdidaktischen und pädagogischen Studien, wurde sie 1933 des Amtes enthoben, forschte danach als Privatgelehrte, nach 1945 u.a. zu staatssoziologischen Themen, international beachteter als in Deutschland. Erst in den 1990er Jahren wurde sie in Erziehungswissenschaft und Soziologie in ihrer Vorreiterrolle für feministische Analysen neu entdeckt und bis heute hoch beachtet.

Maria Johanna Mathilde Vaerting wurde 1884 als fünftes von zehn Kindern in einer wohlhabenden Bauernfamilie im Emsland geboren, war nach einem Examen in Münster 1903 erst Lehrerin, holte 1907 das Abitur nach und wurde nach einem Studium der Mathematik und Physik sowie von Philosophie und Psychologie in München, Marburg, Gießen und Bonn dort 1911 mit der Dissertation „Otto Willmanns und Benno Erdmanns Apperceptionsbegriff im Vergleich zu dem von Herbart“ promoviert.

Vorläuferin feministisch inspirierter Erziehungswissenschaft
und Soziologie 

Nach dem Examen pro facultate docendi, 1912, arbeitete sie als Oberlehrerin für Mathematik am Oberlyzeum in Berlin-Neukölln und nahm an Vorlesungen in der Medizin an der Berliner Universität teil. Nach langen Vorgesprächen mit dem Psychologen Carl Stumpf reichte sie 1919 ihre gegen die herrschenden Stereotypen höchst kritische Studie zur „Neubegründung der vergleichenden Psychologie der Geschlechter“ als Habilitationsschrift an der Berliner Universität ein. Aufgrund der Gutachten von Carl Stumpf und weiterer ablehnender Voten, die nicht mehr als die zeitgenössischen Vorurteile gegen feministische Fragestellungen spiegelten, wie im Votum des Anglisten (und strikten Gegners der Weimarer Republik) Gustav Roethe: „Der sexuelle Fanatismus der Bewerberin hat fast etwas Belustigendes. Einfaches Denken und breitsperrige selbstgefällige Darstellung feiern Orgien. Natürlich bin ich unbedingt für Ablehnung“, wurde der Antrag von der philosophischen Fakultät abgelehnt.

1923 wurde sie im Zuge der von der sozialdemokratisch-kommunistischen Regierung in Thüringen getragenen Schul- und Bildungsreform und gegen den erklärten Willen von Universität und Fakultät als ordentliche Professorin für Pädagogik nach Jena berufen. Dort hat sie, konstant im Konflikt mit der Universität und ihren Kollegen, für die sie „mehr Frauenrechtlerin als Forscherin“ war, ihre Themen weiterbearbeitet, durchaus mit Anerkennung für ihre Theorien und Thesen bei einem renommierten Soziologen wie Theodor Geiger oder einem  unkonventionellen Denker wie Eugen Rosenstock-Huessy. Von der NS-Regierung in Thüringen schon 1932/33 beurlaubt, nach dem Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums entlassen, arbeitete sie bis 1945 und auch danach, weil sie trotz Bewerbungen keine Chance im Universitätssystem hatte, als Privatgelehrte, u.a. mit staatssoziologischen Studien auch international sichtbar. Eine angemessene Würdigung fand ihre Arbeit erst nach 1990, als sie als Vorläuferin feministisch inspirierter Erziehungswissenschaft und Soziologie neu entdeckt und breit rezipiert wurde.

Späte Anerkennung ihrer mutigen Diagnosen

In ihrer Dissertation hatte sich Vaerting noch mit klassischen pädagogisch-psychologischen Themen beschäftigt, danach blieb sie zwar auch in diesem Themenfeld, zeigt aber mit völlig neuen Fragestellungen ihre eigene Perspektive. 1929 erschien „Die Macht der Masse in der Erziehung. Machtsoziologische Entwicklungsgesetze der Pädagogik“, als III. Band ihrer Studien zur „Soziologie und Psychologie der Macht“, nach dem ersten Band: „Die Macht der Massen“ (Berlin 1928). Machttheoretische Fragen bezieht sie auch auf Fragen der pädagogischen Interaktion, z.B. 1931, als sie jenseits der zeitgenössisch dominierenden normativen Stilisierung des „pädagogischen Verhältnisses“ die „Beziehungen“ in der Schulklasse als Praktizierung von Macht analysierte, die Risiken solcher Praktiken scharf und eindeutig erkannte, als Thema der Gerechtigkeit der Bewertung der Lernenden, aber auch in den „sexuelle(n) Beziehungen zwischen Lehrer und Schüler“, gleich ob homo- oder/und heterosexuell.

Vaerting kritisierte auch scharf die scheinbar genetisch fundierten Arbeiten und wies Diagnosen nachdrücklich zurück, dass man an die „Naturgrenzen geistiger Bildung“ stoßen werde, weil die durch höhere Begabung ausgezeichneten Schichten weniger Kinder in die Welt setzten als die unteren Sozialschichten. Sie empfahl dagegen die vorurteilslose Suche nach dem bis dato so unentdeckten wie geleugneten Begabungspotential der Unterschichten. Irritierend bleiben diese Argumente dennoch, weil sie selbst auch genetisch-naturalistisch argumentierte und eigene „eugenische“ Annahmen einführte; aber das belegt nur, wie weit und offen das „eugenische“ Argument in den zwanziger Jahren war. Nicht zufällig werden ihre Studien aktuell noch unter der These der „Naturalisierung des Sozialen“ in der Bildungssoziologe diskutiert, mit hoher Anerkennung für die pointierten Thesen über geschlechtsspezifisch ungleiche Verteilung von Macht, die Vaerting schon 1921 unter dem von Spinoza entliehenen Motto „Wahrheit nennt man die Irrtümer, die Jahrhunderte alt geworden sind“ dargestellt hat. Aber auch für solche mutigen Diagnosen hat sie ebenso wie für die von ihr von 1953-1971 edierte „Zeitschrift für Staatssoziologie“ erst späte Anerkennung gefunden, 2023 aber auch in einem Festakt, in dem die Universität Jena – an der sie zehn Jahre unter den Attacken ihrer Kollegen gelitten hat – des hundertjährigen Jubiläums ihrer Berufung gedacht hat.

Schriften 

  • Die fremden Sprachen in der neuen deutschen Schule, Leipzig 1920.
  • Die weibliche Eigenart im Männerstaat und die männliche Eigenart im Frauenstaat, Karlsruhe 1921 (Die Neubegründung der Psychologie von Mann und Weib. Band 1; Bd. 2: Wahrheit und Irrtum in der Geschlechterpsychologie, Karlsruhe 1923).
  • Neue Wege im mathematischen Unterricht, zugleich eine Anleitung zur Förderung und Auslese mathematischer und technischer Begabungen (Die Lebensschule, Schriften des Bundes Entschiedener Schulreformer Heft 6), Berlin 1921.
  • Wahrheit und Irrtum in der Geschlechterpsychologie, Karlsruhe 1923.
    Lehrer und Schüler. Ihr gegenseitiges Verhalten als Grundlage der Charaktererziehung, Leipzig 1931.
  • Soziologie und Psychologie der Macht. Bd. 1: Die Macht der Massen, 1928; Bd. 3: Die Macht der Massen in der Erziehung 1929. Berlin-Friedenau (die geplanten Bde 2 und 4: „Die Machtkämpfe der Massen“, und „Das Machtprinzip in der Geschichte der Pädagogik“ sind nicht erschienen).

Literatur

  • Berner, Esther/Susann Hofbauer: Mathilde Vaerting (1884-1977) und ihr (unzeitgemäßer) Beitrag zu Pädagogik und Macht, in: Historia scholastica 9(2023)1, S. 103-126.
  • Borst, Eva:  Mathilde Vaerting (1884-1977) „Die Macht ist die Todfeindin der Freiheit": Machtsoziologische Perspektiven auf pädagogisches Handeln, in: Sven Kluge/Eva Borst (Hrsg.), Verdrängte Klassiker und Klassikerinnen der Pädagogik. Baltmannsweiler 2013, S. 160-177.
  • Kraul: Margret: Geschlechtscharakter und Pädagogik: Mathilde Vaerting (1884-1977), in: ZfPaed 33(1987), S. 475-489.
  • Tobies, Renate, Vaerting, Mathilde, in: Neue Deutsche Biographie 26 (2016), S. 686-687 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd119074923.html#ndbcontent ]
  • Wobbe, Theresa: Mathilde Vaerting (1884-1977), Die Macht des Unterschieds, in: dies./ /C. Honegger (Hrsg.), Frauen in der Soziologie. Neun Portraits, München 1998, S. 178-202.
  • Toppe, Sabine: Zum Umgang mit der Naturalisierung des Sozialen im Bildungssystem: Macht und Ungleichheit in den Schriften Mathilde Vaertings, in: K.-S. Rehberg (Hrsg.), Die Natur der Gesellschaft: Verhandlungen des 33. Kongresses der Deutschen Gesellschaft für Soziologie in Kassel 2006. Teilbde. 1 u. ,. Frankfurt am Main 2008, S. 1514-1527, auch: https://nbn-resolving.org/urn:nbn:de:0168-ssoar-152615.
  • Zentrum für transdisziplinäre Geschlechterstudien der HU Berlin und Projektgruppe Edition Frauenstudium (Hrsg.): Störgröße >F<.. Berlin 2010.