Humboldt-Universität zu Berlin

Stephan Schmid

Humboldt-Preis für seine Dissertation

Finalursachen in der frühen Neuzeit. Eine Untersuchung der Transformation teleologischer Erklärungen

Die Dissertationen von Herrn Dr. Stephan Schmid wird von den Gutachtern als einzigartig bezeichnet. Die herausragende Leistung dieser gelehrten, begrifflich überaus präzisen und auch historisch wie systematisch innovativen Arbeit wird von der Humboldt-Universität mit dem Humboldt-Preis geehrt.


Zusammenfassung

Biologen müssen sich zuweilen den Vorwurf gefallen lassen, sie seien nicht wissenschaftlich, wenn sie sich bei der Beschreibung und Erklärung ihrer Untersuchungsgegenstände teleologischer Redeweisen bedienen - und etwa sagen, das Herz pumpe Blut, damit der Organismus mit Sauerstoff versorgt wird, oder meinen, die Niere habe die Funktion, die Endprodukte des Stoffwechsels auszuscheiden. Eine dem säkularen Weltbild verpflichtete Naturwissenschaftlerin, so lautet die diesem Vorwurf implizite Annahme, dürfe ihre Gegenstände nur kausal - d.h. mit Bezug auf Ursachen -, nicht aber teleologisch - d.h. im Rückgriff auf Zwecke - erklären. Denn erklärungsrelevante Zwecke gäbe es nur, wo es denkende Wesen gibt, die an Zwecke denken und entsprechend handeln können. Da die Gegenstände der Naturwissenschaft aber keine denkenden Wesen sind (oder zumindest nicht als denkende Wesen untersucht werden) und da wir nicht unterstellen wollen, dass sie Produkte eines denkenden Wesens sind, seien auch teleologische Erklärungen natürlicher Phänomene verfehlt. Wie aktuell dieser Vorwurf auch ist, er ist alles andere als neu. Er ist mindestens so alt wie das Projekt der modernen Naturwissenschaft selbst, das auf Entwicklungen im 15. und 16. Jahrhundert zurückgeht. In dieser Zeit wandten sich mechanistische Denker nämlich gegen die zu ihrer Zeit vorherrschende aristotelische Tradition, welche von einer zweckmäßig strukturierten Welt ausging, die durchwegs teleologisch erklärbar ist. Natürliche Vorgänge sollten nicht länger mit Bezug auf obskure Vermögen oder so genannte substanzielle Formen erklärt werden, sondern schlicht auf der Grundlage mechanistischer Prinzipien. Doch war die Skepsis gegenüber teleologischen Erklärungen natürlicher Phänomene tatsächlich ein Novum der mechanistischen Weltauffassung, die sich allein aus der Ablehnung der aristotelischen Naturphilosophie ergab? In meiner Dissertation komme ich zum Ergebnis, dass diese weit verbreitete Ansicht nicht haltbar ist: Teleologische Erklärungen der Natur wurden bereits lange vor der so genannten wissenschaftlichen Revolution in der frühen Neuzeit problematisch, als Autoren wie Avicenna und insbesondere Thomas von Aquin die aristotelische Metaphysik mit dem christlichen Schöpfungsglauben verbanden und die Zweckmäßigkeit in der Welt auf die Absichten eines allwissenden und allgütigen Gottes zurückführten. Damit wurde jenes Vorurteil begründet, das noch dem heutigen Vorbehalt gegenüber teleologischen Erklärungen der Natur zu Grunde liegt, dass es nämlich nur dort erklärungsrelevante Zwecke gibt, wo sich denkende Wesen auf diese Zwecke beziehen und im Bewusstsein dieser Zwecke handeln können.

Meine Arbeit zeigt somit nicht nur, dass die heutige Debatte über die Legitimation teleologischer Erklärungen in der Biologie auf einem sehr alten Vorurteil beruht, sondern auch, dass dieses Vorurteil maßgeblich auf die theologisch motivierten Bestrebung zurückgeht, die aristotelische Naturphilosophie mit einem monotheistischen Weltbild zu verbinden. Das erscheint mir Grund genug, um die Vorbehalte gegenüber teleologischen Erklärungen natürlicher Phänomene noch einmal zu überdenken und genauer zu klären, ob es nicht möglich ist, teleologische Zusammenhänge ohne Rekurs auf denkende Wesen zu explizieren, die sich bewusst auf gewisse Zwecke beziehen können. Wie anhand meiner Untersuchungen von Thomas von Aquin, Francisco Suárez, René Descartes, Baruch de Spinoza und Gottfried Wilhelm Leibniz deutlich wird, lassen sich bereits in der Geschichte eine Reihe von Vorschlägen für ein solches Projekt finden, die unser heutiges Nachdenken über diese Frage maßgeblich erhellen können.