Sanja Dembić
Emotionen als Dispositionen. Eine kritische Erörterung von Richards Wollheims Theorie der Emotionen
Zusammenfassung
Gefühle galten für PhilosophInnen lange als „das Andere der Vernunft”, das heißt als eine arationale Kraft im animal rationale, die „blind” zu Handlungen antreiben und deswegen gebändigt werden müssen. Als solche spielten Gefühle für die Beantwortung klassischer philosophischer Fragen keine bedeutsame Rolle, weil sie beispielsweise weder einen Erkenntniszugang zur Welt darstellten noch ein gutes Kriterium sein konnten, um unsere Entscheidungen in moralischen Konflikten zu leiten.
Mit der Entwicklung der empirischen Psychologie änderte sich die Auffassung von Gefühlen. Einige – genannt „Emotionen” – sind nicht bloße „Bauchgefühle”, sondern weisen Charakteristika auf, die traditionellerweise nur der Vernunft zugeschrieben wurden, also mentalen Zuständen, die eine Rolle in der Rechtfertigung unserer Überzeugungen einnehmen. Im Unterschied zu Stimmungen oder Empfindungen beziehen sich Emotionen auf etwas in der Welt, sind also intentional und repräsentieren etwas als gut oder schlecht, sind also evaluativ. Wer Angst hat, hat Angst vor etwas, das er als negativ empfindet. Das führt zu der Frage, welche Art von mentalen Zuständen Emotionen sind und in welchem Verhältnis sie zu anderen mentalen Zuständen, wie etwa Wahrnehmungen, Überzeugungen oder Wünschen stehen.
In meiner Bachelorarbeit widme ich mich dieser Frage, indem ich einen Ansatz erörtere, der nicht in die gegenwärtige Theorielandschaft passt. Im Allgemeinen besteht die Annahme, dass Emotionen bewusste mentale Zustände sind und die Tendenz, Emotionen als eine Art von gefühlten Wahrnehmungen zu konzipieren, die zu Handlungen motivieren. Demgegenüber vertritt der analytische Philosoph und Psychoanalytiker Richard Wollheim, dessen Theorie ich untersuche, die Auffassung, dass Emotionen primär keine bewussten mentalen Zustände, sondern „dauerhafte Prägungen des Geistes” – so genannte „Dispositionen” – sind. Sie seien keine gefühlten Reaktionen auf Ereignisse, sondern vielmehr Einstellungen zur Welt, die sich als ein Produkt der Geschichte der Erfüllung beziehungsweise Nicht-Erfüllung der jeweiligen Wünsche eines Individuums geformt haben. Emotionen würden uns dabei nicht direkt zu Handlungen motivieren, sondern nur indirekt, indem sie neue Wünsche erzeugen. In meiner Arbeit komme ich zum Schluss, dass Wollheims Theorie – obwohl sie sich nicht in die Gegenwartsdebatte integrieren lässt – auf Aspekte von Emotionen aufmerksam macht, die in der bisherigen Forschung nicht berücksichtigt wurden, nämlich, dass Emotionen lebensgeschichtlich eingebettet sind und eine identitätskonstituierende Funktion haben können. Meine Arbeit weist somit darauf hin, dass Emotionen mehr sind als ein Signalsystem, das uns auf Sachverhalte in der Welt aufmerksam macht, da sie uns zu einem beträchtlichen Teil zu den Personen machen, die wir sind.
Die Klärung der Frage, was Emotionen sind, ist nicht nur für die Philosophie des Geistes und die Psychologie interessant, sondern zum Beispiel auch für erkenntnistheoretische oder moralphilosophische Fragen von Belang. Wenn Emotionen nicht arational sind, stellt sich die Frage, ob sie eine Rolle in der Begründung von Erkenntnissen oder Moral spielen können. Nicht zuletzt verändert eine Neuverortung der Emotionen in der „Landkarte des Mentalen” auch unser geläufiges Menschenbild: Die bisherige Forschung hat unsere Alltagspsychologie „auf den Kopf” gestellt, indem sie vermeintliche „Bauch”-Entscheidungen in einem gewissen Sinn als „Kopf”-Entscheidungen entlarvt hat. Die Berücksichtigung von Wollheims Theorie, so wie ich sie interpretiere, könnte uns dazu bringen, Emotionen als Ausdruck unserer Identität zu verstehen.