Alina Gromova
Urbane Räume und Praxen. Junge russischsprachige jüdische Einwanderer in Berlin.
Verortet im Raumparadigma, untersucht die Forschung neue Formen des Jüdischseins bei jungen Erwachsenen, die als Kinder oder Jugendliche seit den späten 1970er Jahren aus der Sowjetunion und ihren Nachfolgerepubliken nach Deutschland eingewandert sind und heute in Berlin leben. Es handelt sich um eine Generation, die mindestens in zwei Ländern sozialisiert wurde und ihre jüdische Zugehörigkeit im Zusammenhang mit anderen Identitäten wie russisch, ukrainisch, lettisch, postsowjetisch, aber auch deutsch und russisch-orthodox aushandelt. Dazu wurden fünfzehn junge Erwachsene ein Jahr lang durch ihren Berliner Alltag an die Orte begleitet, an denen sich ihr religiöses und kulturelles Leben, ihre Individualität und Gemeinschaftsbildung abspielen. Durch ausführliche Interviewzitate, Notizen aus den Feldtagebüchern und Beschreibungen der gemeinsamen Stadtspaziergänge wird sichtbar, wie sich ein lockerer und ungezwungener Umgang mit jüdischer Symbolik, jüdischer Essenstradition, jüdischen Kleidungsvorschriften und anderen Elementen der jüdischen Lebensweise entwickelt, ein Umgang à la koscher light.
In einzelnen Kapiteln der Arbeit wird der Leser an unterschiedliche Orte wie jüdische Treffs, Partys und Wohnungen, Berliner Stadtteile wie Kreuzberg, Marzahn und Charlottenburg gebracht und mit Selbstbildern konfrontiert, die sich einer eindeutigen Einordnung in ethnische und religiöse Kategorisierungen entziehen. Anhand von Berührungen zwischen kulinarischen, modischen und musikalischen Geschmäckern der jüdischen, russlanddeutschen, türkischen und arabischen Traditionen, die unterschiedliche Berliner Stadtteile prägen, wird eine gänzlich neue Definition des Jüdischen herausgearbeitet, die sich an dem Urbanen orientiert.
Vor dem Hintergrund der Tatsache, dass die Forschung über jüdisches Leben in Deutschland sich bisher hauptsächlich mit der historischen Betrachtung der Vergangenheit auseinandersetzt, lässt sich mit einer Ethnographie der jüdischen Gegenwart eine disziplinübergreifende Diskussion darüber eröffnen, inwiefern das jüdische Leben in Deutschland heute zu einer Normalität geworden ist. Die Betrachtung der jüdischen Erfahrung als einer räumlichen und territorialen Erfahrung im Gegensatz zur sprichwörtlichen „Heimatlosigkeit“ und „Ortslosigkeit“ der Juden rückt den Kontext der Globalisierung, Migration und Urbanität in den Mittelpunkt der Forschung und ermöglicht dadurch neue Erkenntnisse. Dabei wird insbesondere ein Wert darauf gelegt, die jüdische Erfahrung nicht allein aus der Perspektive der Ethnicity Studies zu betrachten, sondern an der Schnittstelle zwischen Urban Anthropology, Jewish Studies, Migrationsforschung und Jugendkulturforschung als eine urbane Erfahrung der zweiten Moderne aufzufassen.