Humboldt-Universität zu Berlin

Alice Salomon

Mitbegründerin der modernen Sozialpädagogik - Aktivistin der bürgerlichen Frauenbewegung und Sozialreform - eine der ersten Promovendinnen der Universität

 

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Alice Salomon
Alice Salomon, Foto: unbekannt

Alice Salomons Biographie verdeutlicht exemplarisch eine der Formen der Emanzipation, die bürgerlichen Frauen im ausgehenden 19. Jahrhundert möglich war, dabei vor allem die Bedeutung der sozialen Arbeit und der organisierten Frauenbewegung in diesem Prozess. Ihr Leben dokumentiert zugleich einige der zivilgesellschaftlichen Wurzeln des Wohlfahrtsstaates und die Kontroversen über Feminismus, soziale Arbeit und bürgerliche Sozialreform, die Biographien wie diese bis heute begleiten.

Alice Salomon wurde am 19. April 1872 in Berlin als viertes von acht Kindern in einer großbürgerlichen, assimilierten jüdischen Familie 1872 in Berlin geboren und starb am 30. August 1948 in New York. Sie besuchte 9 Jahre eine höhere Töchterschule, suchte aber mit Anfang 20 gegen die damit vorgezeichnete Lebensform eine außerhäusliche Betätigung. 1893 fand sie den Kontakt zu den Berliner „Mädchen- und Frauengruppen für soziale Hilfsarbeit“, die Jeanette Schwerin gegründet hatte, um jungen Frauen in der Sozialarbeit eine sinnvolle Tätigkeit zu bieten, die auch der besonderen Rolle der Frau in der Gesellschaft, so die Idee, entsprach.

 

 

Frauenbewegung

Alice Salomon gehörte zu den Gründerinnen und teilte diese Ideen ihr Leben lang. 1897 wurde sie schon Vorsitzende der „Gruppen“ und fand von hier aus auch den Kontakt zur bürgerlichen Frauenbewegung. Seit 1896 war sie Mitglied im Vorstand des „Bundes deutscher Frauenvereine“ (BDF) und schrieb in dem von Helene Lange und Gertrud Bäumer 1901 edierten „Handbuch der Frauenbewegung“ zwei umfangreiche Abhandlungen, über „Die Frau in der sozialen Hilfsthätigkeit“ und über „Die Arbeiterinnenbewegung“.

Diese Publikationen eröffneten ihr auch den Weg zum Studium der Nationalökonomie als Gasthörerin an der Berliner Universität, an der sie mit der Schrift „Die Ursachen der ungleichen Entlohnung von Männer- und Frauenarbeit“ 1906 promoviert wurde. 1908 konvertierte sie zum Protestantismus.

Gründung der "Deutschen Akademie
für soziale und pädagogische Frauenarbeit"

Ihr Engagement für die Soziale Arbeit und in der Frauenbewegung wurde gleichzeitig immer intensiver. Für die von ihr geleiteten „Gruppen“ richtete sie 1899 einen Jahreskurs ein, der allgemein als Beginn fachlich zentrierter, systematischer Ausbildung in der sozialen Arbeit in Deutschland betrachtet wird. 1908, im Jahre der umfassenden Reform der Mädchenschulen in Preußen und der Anerkennung ihres Abiturs als Hochschulzugangsberechtigung, entwickelte sie aus dem Jahreskurs die erste nichtkonfessionelle, zweijährige „Soziale Frauenschule“, die sie auch als Direktorin bis 1925 leitete.

1917 ergriff sie die Initiative zur Kooperation dieser Schulen in der „Konferenz der Sozialen Frauenschulen Deutschlands“, die sie wiederum als Vorsitzende leitete, 1920 war sie erfolgreich für den Erlass einer staatlicher Prüfungsordnung für die Sozialen Frauenschulen aktiv. In Berlin gründete sie schließlich 1925 die „Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit“, in der weibliche Führungskräfte für Soziale Arbeit aus- und weitergebildet wurden und eigene Forschung, z.B. bis 1932 über die Situation der Familie, stattfand. 

Ehrendoktorwürde und Emigration in die USA

In der Frauenbewegung wurde sie 1900 als Nachfolgerin Schwerins Vorstandsmitglied, war 1910-20 stellvertretende Vorsitzende des BDF. Aber man verweigerte ihr im Weltkrieg wegen ihrer jüdischen Herkunft dort den Vorsitz, eine antisemitische Attacke neben vielen anderen, die sie in der Frauenbewegung konstant erlebte. Auch international war sie in der Frauenbewegung sehr engagiert, von 1909 bis 1933 als Schriftführerin des „Internationalen Frauenbundes“, als Vizepräsidentin von 1920 bis 1933, 1945 wurde sie Ehrenpräsidentin des International Council of Women (ICW) und der International Association of Schools of Social Work (IASSW).

1932 erhielt sie neben der preußischen Staatsmedaille auch den Ehrendoktor der medizinischen Fakultät der Universität Berlin, die Fachschule wurde nach ihr benannt. 1933 wurde sie aus sämtlichen Ämtern entlassen, die Schule gab den Namen auf (die FH nahm ihn erst 1992 wieder an), 1937 wurde sie ausgewiesen, 1939 formell ausgebürgert und beide Doktor-Titel durch die Universität aberkannt. Alice Salomon emigrierte in die USA, fand dort aber kein neues Wirkungsfeld und starb 1948 in New York.

Konzept der "Sozialen Diagnose"

Ihre zentralen Publikationen für die theoretische und handlungspraktische Fundierung und Autonomisierung der Sozialen Arbeit innerhalb der pädagogischen Berufe, schon in der Weimarer Republik geschrieben, haben bis heute ihre Bedeutung als zäsursetzende Texte behalten. Vor allem ihr Konzept der „Sozialen Diagnose“, 1926 erschienen, hat als Fortführung von Vorarbeiten, die sie vor allem bei Mary Richmond vorfand, diesen innovativen Status. Salomon geht hier eindeutig über die gängigen Praktiken der Diagnose hinaus, in denen primär die bürgerlichen Vorurteile in der Klassifikation und Normierung der Lebensweise der Klienten zur Geltung kamen.

Sie plädierte stattdessen für eine an der Ätiologie der Probleme ansetzende Beschreibung der tatsächlichen sozialen Lage und verband die Diagnose mit einer an Hilfe zur Selbsthilfe, zugleich umwelt- wie klientbezogenen Gemeinwesen-Orientierten Therapie. Kontrovers bis heute ist die Begründung der sozialarbeiterischen Praxis im zeitgenössischen Konzept der „geistigen Mütterlichkeit“. In der bürgerlichen Frauenbewegung in Deutschland entstanden, eng mit bürgerlicher Sozialreform verbunden und den Ideen des „sozialen Friedens“ verpflichtet, wird diese als „maternalistischer Feminismus“ kritisierte Position vor allem in der feministischen Bewegung und von links scharf attackiert. Dabei wird ignoriert, dass Salomon nicht aus der deutschen Pazifizierungs-Debatte seit 1917/18, sondern aus der demokratischen englischen Sozialphilosophie inspiriert war, und in der Kritik wird auch die emanzipative Kraft nicht gesehen, die im historischen Kontext für die beteiligten Frauen und für die Soziale Arbeit damit verbunden waren.  

Schriften (in Auswahl)

  • Soziale Frauenbildung, Berlin 1908.

  • Leitfaden der Wohlfahrtspflege, Leipzig 1921.

  • Soziale Diagnose, Berlin 1926 (mit Siddy Wronsky).

  • Soziale Therapie, Berlin 1926 (mit Siddy Wronsky).

  • Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927.

  • Salomon, Alice: Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, Weinheim/Basel 1983, mit einem Nachwort von Joachim Wieler.

  • Lebenserinnerungen. Jugendjahre, Sozialreform, Frauenbewegung, Exil, hg. von der Alice Salomon Hochschule Berlin, bearb. und aus dem Englischen übers. von Rolf Landwehr, Frankfurt am Main 2008.

Literatur (in Auswahl)

  • Kuhlmann, Carola: Alice Salomon. Ihr Lebenswerk als Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis sozialer Arbeit, Stuttgart 2000.

  • Schüler, Anja: Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889-1933, Stuttgart 2004.
  • Sachße, Christoph: Salomon, Alice, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 389-391 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118605127.html#ndbcontent
  • Braches-Chyrek, Rita: Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit, Opladen (u. a.) 2013.

 


Alice Salomon

19th April 1872 (Berlin) – 30th August 1948 (New York)         

                                                               

One of the founders of modern social pedagogy – Activist in the bourgeois women’s movement and for social reform – One of the first female doctoral candidates at the university

 

Alice Salomon, Foto: unbekannt
Alice Salomon, Foto: unbekannt
Alice Salomon’s biography exemplifies one of the forms of emancipation that were possible for bourgeois women in the late 19th century, and, in particular, the importance of social work and the organised women’s movement in this process. At the same time, her life documents some of the civil society roots of the welfare state and the controversies concerning feminism, social work and bourgeois social reform that accompany biographies like this to this day.

 

The fourth of eight children, Alice Salomon was born in Berlin in 1872 into an upper-middle-class, assimilated Jewish family. She attended a höhere Töchterschule (a type of secondary school for girls that did not prepare them for university study but for management of a household) for nine years, but, at the beginning of her twenties, went against the way of life that was thereby preordained and looked for an occupation outside of the home. In 1893, she became familiar with the Berlin “Girls’ and Women’s Groups for Social Aid Work”, which Jeanette Schwerin had founded in order to offer young women a meaningful activity in social work that was also in keeping with the special role of women in society, so the idea went.

 

 

Women's Movement

. Alice Salomon numbered among the founders and shared these ideas her entire life. She already became chairwoman of these “groups” in 1897, and, from there, then also came into contact with the bourgeois women’s movement. From 1896 onwards, she was a member of the board of the Federation of German Women’s Associations (Bund Deutscher Frauenvereine [BDF]), and she wrote two extensive treatises on “Women in Social Aid Work” (“Die Frau in der sozialen Hilfsthätigkeit”) and “The Women Workers’ Movement” (“Die Arbeiterinnenbewegung”) in the Handbuch der Frauenbewegung (Handbook of the women’s movement), edited by Helene Lange and Gertrud Bäumer in 1901. These publications also cleared the way for her to study economics as a guest student at the University of Berlin, where she received her doctorate in 1906 with a thesis entitled “Die Ursachen der ungleichen Entlohrung von Männer- und Frauenarbeit” (The causes of unequal remuneration for men’s and women’s work). In 1908, she converted to Protestantism.

Foundation of the "German Academy
for social and pedagogical women's work "

At the same time, her commitment to social work and to the women’s movement became more and more intense. In 1899, she set up a one-year course for the “groups” she led, which is generally regarded as the beginning of technically focused, systematic training in social work in Germany. In 1908, the year of comprehensive reform of girls’ schools in Prussia, and in which her secondary school leaving qualification (Abitur) was recognised as granting eligibility to study at university, she developed her year-long course into the first non-denominational, two-year “Social School for Women” (Soziale Frauenschule), which she also led, as its director, until 1925. In 1917, she took the initiative to have these schools cooperate in the “Conference of Women’s Social Schools of Germany” (Konferenz der Sozialen Frauenschulen Deutschlands), which she, again, led as its chairwoman; in 1920, she was successful in having state examination regulations enacted for the Social Schools for Women. In 1925, she founded the Deutsche Akademie für soziale und pädagogische Frauenarbeit (German Academy for Women’s Social and Educational Work) in Berlin, which trained female leaders for social work, provided them with further education, and conducted its own research, such as into familial circumstances up until 1932.

Honorary doctorate and emigration to the USA

She became a member of the managing committee in the women’s movement in 1900 as Schwerin’s successor, and from 1910 to 1920, she was deputy chairwoman of the Federation of German Women’s Associations. However, she was refused the chair there during the World War because of her Jewish heritage, one anti-Semitic attack among many others that she experienced constantly in the women’s movement. She was also very involved in the women’s movement internationally, as secretary of the International Council of Women (ICW) from 1909 to 1933, as its vice-president from 1920 to 1933, and, in 1945, as honorary president of both the ICW and the International Association of Schools of Social Work (IASSW). In 1932, she received not only the Prussian State Medal but also an honorary doctorate from the Faculty of Medicine at the University of Berlin. The professional school was named after her. In 1933, she was dismissed from all her offices, and the school dropped its name (the University of Applied Sciences did not adopt it again until 1992). She was expelled in 1937, formally stripped of her citizenship in 1939, and had both her doctoral degrees revoked by the university. Alice Salomon emigrated to the USA, but found no new field of activity there, and died in New York in 1948.

Concept of "Social Diagnosis

Her central publications for the theoretical and practical foundation and autonomisation of social work within the educational professions, already written during the Weimar Republic, have retained their importance as watershed texts to this day. This innovative status can be assigned, above all, to her concept of social diagnosis, outlined in Soziale Diagnose in 1926, as a continuation of preparatory work that she had come upon by Mary Richmond, most notably. Here, Solomon clearly goes beyond the usual practices of diagnosis, in which it was primarily bourgeois prejudices that came to bear when classifying and standardising clients’ ways of life. Instead, she made the case for describing the actual social situation, based on the aetiology of the problems, and combined the diagnosis with a community-oriented therapy that was framed as help for self-help, and, at the same time, took account of the specific environment and client. What is controversial to this day is the grounding of the practice of social workers in the concept from the period of “spiritual motherhood” (geistige Mütterlichkeit). Having grown out of the bourgeois women’s movement in Germany, closely associated with bourgeois social reform and committed to the ideas of “social peace”, this position, which is criticised as “maternal feminism”, suffers most notably from sharp attacks within the feminist movement and from the left. Yet, one thing that gets ignored is that Salomon was not inspired by the German pacification debate, which started in 1917/18, but by democratic English social philosophy, and the criticism also does not recognise the emancipatory force that was associated with this in the historical context for the women involved and for social work.

Written works (selection)

  • Soziale Frauenbildung, Berlin 1908.

  • Leitfaden der Wohlfahrtspflege, Leipzig 1921.

  • Soziale Diagnose, Berlin 1926 (mit Siddy Wronsky).

  • Soziale Therapie, Berlin 1926 (mit Siddy Wronsky).

  • Die Ausbildung zum sozialen Beruf, Berlin 1927.

  • Salomon, Alice: Charakter ist Schicksal. Lebenserinnerungen, Weinheim/Basel 1983, mit einem Nachwort von Joachim Wieler.

  • Lebenserinnerungen. Jugendjahre, Sozialreform, Frauenbewegung, Exil, hg. von der Alice Salomon Hochschule Berlin, bearb. und aus dem Englischen übers. von Rolf Landwehr, Frankfurt am Main 2008.

References (selection)

  • Kuhlmann, Carola: Alice Salomon. Ihr Lebenswerk als Beitrag zur Entwicklung der Theorie und Praxis sozialer Arbeit, Stuttgart 2000.

  • Schüler, Anja: Frauenbewegung und soziale Reform. Jane Addams und Alice Salomon im transatlantischen Dialog, 1889-1933, Stuttgart 2004.
  • Sachße, Christoph: Salomon, Alice, in: Neue Deutsche Biographie 22 (2005), S. 389-391 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118605127.html#ndbcontent
  • Braches-Chyrek, Rita: Jane Addams, Mary Richmond und Alice Salomon. Professionalisierung und Disziplinbildung Sozialer Arbeit, Opladen (u. a.) 2013.

 

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