August Philipp Boeckh
August Philipp Boeckh, Foto: UB der HU zu Berlin
Der Altertumswissenschaftler August Boeckh gehört zur Gründergeneration der Berliner Universität.
Boeckh stammte aus einer badischen Beamtenfamilie (sein Bruder wurde in Baden Ministerpräsident). Ab 1803 studierte er in Halle, wo der Altphilologe Friedrich August Wolf und der Theologe Friedrich Schleiermacher ihn besonders in den Bann schlugen, beide später Kollegen in Berlin. Er wurde in Halle mit einem Thema über antike Musik promoviert, habilitierte sich dann in Heidelberg über Platons ‚Timaios‘ und erhielt dort 1807, als 22-jähriger, eine Professur.
1810 erfolgte der Ruf nach Berlin, im Oktober 1811 begann hier die Ära Boeckh. Schon im folgenden Jahr gründete er nach Hallenser Vorbild das Philologische Seminar. Nur wenige, ca. zehn Studierende wurden für dessen Lehrbetrieb ausgewählt. Er plädierte dafür, dass die Vorlesungen durch „vertraute Gespräche“ (sprich: Seminare) ergänzt würden. Seine Sonderaufgabe als Rhetor der Universität – ein Amt, das heute der/die Präsident/in mitausfüllen muss – ließ ihn, etwa bei den vielen Festreden, zur Stimme der Universität in die Berliner Öffentlichkeit werden.
Die strukturelle Zweigleisigkeit zwischen Universität und Preußischer Akademie der Wissenschaften (er war Mitglied seit 1814) wurde von Boeckh synergetisch genutzt. Schon 1815 begründete er hier mit dem ‚Corpus Inscriptionum Graecarum‘ (CIG), einer umfassenden Edition und Aufarbeitung aller griechischen Inschriften, ein erstes Großprojekt. Es war nicht nur ein Meilenstein für die Epigraphik, es wies auch auf die Zeit der Berliner altertumswissenschaftlichen Großforschung unter Theodor Mommsen und Adolf von Harnack voraus.
Wegweisende Forschungen
Bahnbrechend waren Boeckhs Forschungen zu den Gedichten Pindars und ihren lange rätselhaften Versmaßen. Sein damals ganz singuläres Werk „Die Staatshaushaltung der Athener“ (1817) fußt auf epigraphischem Material, erarbeitete erstmals eine antike Finanz- und Wirtschaftsgeschichte, die sowohl über den Preis einer Kuh wie über mediterrane Handelsströme Auskunft zu geben weiß. Es war zugleich ein Abschied von Winckelmanns ‚edler Einfalt und stiller Größe‘ der Griechen. „Ich bedaure nicht“ sagt Boeckh, „wenn die unbedingte Verehrung der Alten gemäßigt werden muss, daß, wo sie Gold berühren, auch ihren Händen Schmutz anklebt.“ (zit. Poiss 59). Boeckh ging auch weiter dahin, wo Forschung weh tat: als erster systematisierte er den vertrackten Archipel der antiken Maße, Münzfüße und Gewichte, und begründete damit die Hilfswissenschaft Metrologie (1838).
Seine erst posthum publizierte, aber Dutzende Male vorgetragene „Enzyklopädie der philologischen Wissenschaften“ fußt auf Konzepten Wolfs, schritt aber darüber hinaus hin zu einer Hermeneutik der Altertumswissenschaft, deren Niveau nur mit dem von Johann Gustav Droysens „Historik“ vergleichbar ist. Emanzipation von der Theologie, vom barocken Antiquarismus und neuhumanistischer Hyperidealisierung, hin zu kritischer Methodenreflexion und Ausweitung des zu erforschenden Terrains auf Sachkultur, Verfassung, Philosophie, Kunst etc. war die Intention.
Blick auf das Altertum in seiner Gesamtheit
„Die Philologie des Altertums enthält also als Stoff der Erkenntnis die gesamte Erscheinung des Altertums.“ (zit Poiss 66). Dieses Konzept war nicht unumstritten. Ausgefochten wurde es im Streit mit dem berühmten Leipziger Philologen Gottfried Herrmann. Der Streit entzündete sich an dessen Invektive gegen den 1825 erschienenen 1. Band des CIG. Aber der (berechtigte) erste Vorwurf, Boeckh vernachlässige die Autopsie der Originalsteine in situ, etwa im 1830 unabhängig gewordenen Griechenland, und kompiliere nur aus alten Drucken, wurde tatsächlich ein Richtungsstreit über Gegenstand und Methode der Philologie überhaupt, in der sich Boeckhs ‚pragmatisch objektbezogene Sachphilologie‘ und eine einseitig Sprache und Textkritik fokussierende ‚Wortphilologie‘ gegenüber standen, mit jeweils breiter Gefolgschaft in der Zunft. Boeckhs Konzept der Philologie – die ‚Alte Geschichte‘ war disziplinär noch nicht existent – führte einerseits die breiten Materien und Disziplinen zusammen, machte aber andererseits deren künftige spezialisierende Ausdifferenzierung, allen voran der Epigraphik, unumgänglich. Seine Idee von Altertumskunde als „umfassender Culturgeschichte“, also der Ansatz einer Kulturwissenschaft, setzte sich im 19. Jahrhundert nicht durch. Boeckhs vielfach missverstandenes Wort, Philologie sei „Erkenntnis des Erkannten“ bedeutete, dass auch die Quellen, die Texte, Ideen und Artefakte der Antike geworden, perspektivisch, dass sie Transformationen sind.
In seinen Reden verteidigte er vehement die Freiheit der Wissenschaft, was nicht nur staatsfreie Autonomie der Forschung, sondern auch Freiheit für die Studierenden, nämlich von regelmäßigen Prüfungen, Pflichtveranstaltungen und Verschulung intendierte. Antisemitismus war ihm, dem Freund Mendelssohns, in dessen Haus Leipziger Straße 3 er mit seiner Familie lebte, fremd; im Gegenteil, er forderte (vergeblich) schon 1848ff. eine Stiftungsprofessur für das „Studium vom Judentum“ einzurichten. Politisch schwebte ihm offenbar eine liberale konstitutionelle Monarchie vor, die auch ein Maximum an Wissenschaftsfreiheit gewähre.
Herausragender Lehrer und Forscher
Boeckh ragte als Lehrer, Forscher, wie auch besonders als mächtiger Wissenschaftsorganisator, mit der Last zahlloser Ämter, heraus. Für die Berliner Universität hat kaum jemand mehr getan als er. Den Geheimrat, Empfänger mehrerer Orden und Ehrenbürger von Berlin ehrte man auch international durch Mitgliedschaft in zahlreichen Akademien zwischen München, Wien, St. Petersburg, London, Lissabon, Uppsala usw. sowie der Archäologischen Institute von Rom, Athen und Kairo.
Nachlass
- StB PK Berlin, Nachl. 172 (19 Kästen); Heidelberg, UB Hs 2130
Schriften (in Auswahl)
- Über die Versmaße des Pindaros, Berlin 1809.
- Die Staatshaushaltung der Athener, Berlin 1817 (2. Aufl. 1851); (mehrere Übersetzungen.)
- Metrologische Untersuchungen über Gewichte, Münzfüße und Maße des Alterthums in ihrem Zusammenhange, Berlin 1838 (ND Karlsruhe 1978).
- Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften (posthum hg. von Ernst Bratuschek, Leipzig 1877 (2. Aufl. 1886; ND Darmstadt 1966).
- Gesammelte Kleine Schriften, hg. von Ferdinand Acherson u.a., 7 Bde., Leipzig 1858-1872 (ND Hildesheim 2005).
Literatur (in Auswahl)
- August Boeckh (1785–1867). Forscher, Hochschullehrer, Zeitzeuge (= Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswiss. Reihe 36, Heft 1).,Berlin 1987.
- Poiss, Thomas: Die unendliche Aufgabe. August Boeckh als Begründer des Philologischen Seminars, in: Annette M. Baertschi/Colin G. King (Hg.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin-New York 2009, S. 45-72.
- Poiss, Thomas: August Boeckh als Universitätspolitiker, in: Anne Ballot (Hg.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011, S. 1-28.
- Christiane Hackel/Sabine Seifert (Hg.): August Boeckh: Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin [2013].
August Philipp Boeckh
24th November 1785 (Karlsruhe) – 3rd August 1867 (Berlin)
Pioneer of modern classical studies – Instrumental in the design of the university
August Philipp Boeckh, Photo: UB of HU zu Berlin
The classical scholar August Boeckh belongs to the founding generation of the University of Berlin.
During its first decades, he became one of its most formative figures; indeed, his professorship of eloquence (“eloquentiae”) and classical philology also made him its public spokesman. With astonishingly long-running continuity, Boeckh taught almost 120 semesters without interruption, served as the university’s rector five times and as its dean six times, and, in doing so, was able to fundamentally shape modern scholarship of the classical world and its method.
Hailing from a family of Baden civil servants (his brother became Baden’s minister president), he started his studies in 1803 in Halle, where he was particularly captivated by the classicist Friedrich August Wolf and the theologian Friedrich Schleiermacher, both later colleagues in Berlin. He received his doctorate in Halle with a dissertation on ancient music, then habilitated (qualified to hold professorial positions) with a postdoctoral thesis on Plato’s Timaeus in Heidelberg, receiving a professorship there in 1807, at the age of 22.
In 1810, he was offered an appointment in Berlin, and the era of Boeckh then began here in October 1811. Just the following year, he founded the philological department on the Halle model. Only a few students – roughly ten – were selected to be taught there. He argued that the lectures should be supplemented by “intimate conversations” (in other words: seminars). His special duty as orator of the university – an office that has to be additionally filled by the president today – made him the voice of the university in Berlin public life, for example, at the many ceremonial addresses.
Boeckh put the structural duality of the university and the Prussian Academy of Sciences (of which he was a member from 1814) to synergistic use. He established a first major project here in as early as 1815 with the Corpus Inscriptionum Graecarum (CIG), a comprehensive edition and review of all Greek inscriptions. It was not only a milestone for epigraphy, but also anticipated the period of large-scale classical research in Berlin under Theodor Mommsen and Adolf von Harnack.
Groundbreaking research
Boeckh’s research into Pindar’s poems and their long, enigmatic metres was groundbreaking. His work Die Staatshaushaltung der Athener (1817; The Public Economy of Athens), at the time unique, is based on epigraphic material and, for the first time, elaborated a financial and economic history of the ancient world, which is able to provide information about both the price of a cow and flows of trade in the Mediterranean. It also marked a departure from Winckelmann’s “noble simplicity and quiet grandeur” of the Greeks. “I do not regret,” says Boeckh, “if the unconditional veneration of the ancients must be tempered, that wherever they touch gold, dirt, too, sticks to their hands.” (quoted from Poiss 59). Boeckh also delved further into those areas where research was painful: he was the first to systematise the complex archipelago of ancient measures, monetary standards and weights, thereby establishing the ancillary discipline of metrology (1838).
His Encyclopaedia and Methodology of the Philological Sciences [Encyklopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften], which was published only posthumously but presented in lectures dozens of times, is based on Wolf’s concepts, but also went beyond this, towards a hermeneutics of classical studies, the level of which is comparable only to that of Johann Gustav Droysen’s Historik. The intention was emancipation from theology, from baroque antiquarianism and neo-humanist hyperidealisation, towards critical methodological reflection and an expansion of the terrain to be explored to material culture, constitution, philosophy, art, etc.
View of antiquity in its entirety
“The philology of antiquity thus comprises the entire phenomenon of antiquity as the material of knowledge” (quoted from Poiss 66; Die Philologie des Altertums enthält also als Stoff der Erkenntnis die gesamte Erscheinung des Altertums). This concept was not uncontroversial.
It was contended in a dispute with the famous Leipzig philologist Gottfried Herrmann. The dispute was sparked off by the latter’s invective against the first volume of the CIG. However, the (justified) initial accusation that Boeckh neglected to personally inspect the original stones in situ, for example, in Greece, which had become independent in 1830, and compiled his material merely from old prints, actually became a factional dispute about the object and method of philology in general, in which Boeckh’s “pragmatically object-oriented Sachphilologie” [material philology or philology of things] was opposed to a Wortphilologie [philology of words] with a one-sided focus on language and textual criticism, each with a broad following in the fraternity.
Boeckh’s concept of philology – “ancient history” did not yet exist as a discipline – on the one hand, brought together the broad array of subject matters and disciplines, but, on the other hand, made their future differentiation into specialist areas, especially in epigraphy, inevitable. His idea of classical scholarship as “comprehensive cultural history”, i.e., the beginnings of a cultural studies, did not prevail in the 19th century. Boeckh’s often misunderstood saying that philology is “knowledge of the known” (Erkenntnis des Erkannten) meant that the sources, texts, ideas and artefacts of antiquity have also come to be and, prospectively, are transformations. In his speeches, he vehemently defended the freedom of science, which aimed not only at autonomy in research, without interference from the state, but also at freedom for the students, namely, from regular examinations, compulsory courses and school-like teaching.
Antisemitism was alien to him, who was a friend of Mendelssohn’s, living with his family in their house at Leipziger Straße 3; on the contrary, starting in as early as 1848, he demanded (in vain) that an endowed professorship be established for the “study of Judaism”. Politically, he apparently envisaged a liberal constitutional monarchy that also granted maximum freedom in scholarship.
Outstanding teacher and researcher
As someone of an engaging and communicative nature, Boeckh, stood out as a teacher and researcher, and, especially, as a terrific organiser of science and research, who was charged with countless offices. Hardly anyone has done more for the University of Berlin than he. The Geheimrat (privy councillor), recipient of several orders and honorary citizen of Berlin was also dignified internationally by membership in numerous academies in Munich, Vienna, St Petersburg, London, Lisbon, Uppsala, etc., as well as the Archaeological Institutes of Rome, Athens and Cairo.
Estate
- Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz, Berlin, estate 172 (19 boxes); Heidelberg, University of Heidelberg, manuscript 2130 (UB Hs 2130)
Written Works (selection)
- Über die Versmaße des Pindaros [On Pindar’s metres], Berlin 1809.
- Die Staatshaushaltung der Athener, Berlin 1817 (2nd edition 1851); (several translations. English: The Public Economy of Athens, translated by Sir George Cornewall Lewis, London 1828).
- Metrologische Untersuchungen über Gewichte, Münzfüße und Maße des Alterthums in ihrem Zusammenhange [Metrological investigations weights, monetary standards and measures of antiquity in their context], Berlin 1838 (reprint Karlsruhe 1978).
- Encyclopädie und Methodologie der philologischen Wissenschaften [Encyclopedia and methodology of the philological sciences], posthumously edited by Ernst Bratuschek, Leipzig 1877 (2nd edition 1886; reprint Darmstadt 1966).
- Gesammelte Kleine Schriften [Collected minor works], edited by Ferdinand Acherson et al., 7 vols., Leipzig 1858–1872 (reprint Hildesheim 2005).
References (selection)
- August Boeckh (1785–1867). Forscher, Hochschullehrer, Zeitzeuge (= Wiss. Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschaftswissenschaftliche Reihe 36, issue 1), Berlin 1987.
- Poiss, Thomas: “Die unendliche Aufgabe. August Boeckh als Begründer des Philologischen Seminars”, in: Annette M. Baertschi/Colin G. King (ed.): Die modernen Väter der Antike. Die Entwicklung der Altertumswissenschaften an Akademie und Universität im Berlin des 19. Jahrhunderts, Berlin-New York 2009, pp. 45–72.
- Poiss, Thomas: “August Boeckh als Universitätspolitiker”, in: Anne Ballot (ed.): Netzwerke des Wissens. Das intellektuelle Berlin um 1800, Berlin 2011, pp. 1–28.
- Christiane Hackel/Sabine Seifert (ed.): August Boeckh: Philologie, Hermeneutik und Wissenschaftspolitik, Berlin [2013].