Humboldt-Universität zu Berlin

Friedrich Siegmund-Schultze

Theologe – Sozialpädagoge – Pazifist – Kämpfer für die christliche Ökumene

 

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Friedrich Siegmund-Schultze
Friedrich Siegmund-Schultze, Foto: unbekannt
Friedrich Siegmund-Schultze vereinte in seiner Biographie höchst heterogene Lebenswelten: Von einer renommierten Prediger-Stelle nah am königlichen Hof in Potsdam ging er in die elenden Arbeiterquartiere nach Friedrichshain, von einer Professur an der Berliner Universität wurde er ins Exil gezwungen, zurück in Deutschland ging er nach Westfalen und arbeitete zugleich wissenschaftlich, sozialpädagogisch und politisch.

Dabei blieb er immer ein pietistisch engagierter Theologe, konstant konservativ, aber zugleich offen für die politisch-sozialen Probleme seines Landes und für die internationale Verständigung.

 

 

 

Werdegang

1885 in Görlitz als Sohn eines preußischen Superintendenten geboren, studierte Siegmund-Schultze nach dem Abitur in Magdeburg von 1903 bis 1908 Philosophie und Theologie in Tübingen, Breslau, Marburg, Halle und Berlin, legte die kirchlichen Examina in Halle und Berlin ab und wurde 1910 in Marburg mit einer Arbeit über à Friedrich Schleiermacher zum Lic. theol. promoviert.

Eine kurze Tätigkeit als Prediger erst in Berlin, dann bis 1911 an der Friedenskirche in Potsdam brach er 1911 ab und gründete zusammen mit seiner Frau, Marie von Maltzahn, im Berliner Arbeiterviertel Friedrichshain die „Soziale Arbeitsgemeinschaft Ost (SAG)“, sein „eigentliches Lebenswerk“, wie er selbst urteilte. In Form und Intention folgte er dabei Erfahrungen, die er bereits auf einer Studienreise 1908 nach England und im Londoner East-End, einem Elendsviertel, gemacht hatte.

Dort waren, u.a. von Jane Addams und ihrer Arbeit in Toynbee Hall modellhaft demonstriert, sog. Settlement-Projekte erprobt worden, um mit solchen „Niederlassungen Gebildeter inmitten ärmster Bevölkerungskreise“ (Lindner) die Lebensverhältnisse der depravierten Unterschichten zu bessern und mit ihnen Perspektiven für die Zukunft auch dort gemeinsam zu entwickeln, wo vermeintlich nur Fatalismus und Hoffnungslosigkeit die Welt bestimmten.

Entwicklung der soziographischen Methoden

Siegmund-Schultze importierte diese Schule bildenden Methoden Sozialer Arbeit nach Deutschland, wurde 1917 in Friedrichshain auch Leiter des ersten Jugendamtes in Deutschland und lehrte seit 1926 auf einer Honorarprofessur für Jugendkunde und Jugendwohlfahrt in der Philosophischen Fakultät der Berliner Universität, hoch anerkannt, auch wenn die vom Philosophen und Pädagogen Eduard Spranger unterstützte Ernennung zum ordentlichen Professor 1928 an der Mehrheit der Philosophischen Fakultät scheiterte.

In Berlin entwickelte Siegmund-Schultze gemeinsam mit den Studierenden auch soziographische Methoden, um auf der Basis lokaler Studien zugleich Therapiestrategien zu entwickeln und Theorie und Praxis zu verbinden. 1933 zwangsexiliert, war er in der Schweiz Geschäftsführer des Internationalen Komitees für Flüchtlingshilfe. 1946 kehrte er nach Deutschland zurück, lehnte aber die ihm in Berlin angebotene ordentliche Professur für Sozialpädagogik und Sozialethik ab, weil er an der Berliner Universität für sich keine Arbeitsmöglichkeiten sah und ging nach Westfalen.

Mit der Gründung der Jugend-Wohlfahrtsschule Dortmund 1948 und ihrer Leitung bis 1954 setzte er die sozialpädagogische Praxis fort, an der Sozialforschungsstelle Dortmund bis 1954 und an Universität Münster seit 1947 als Professor für Sozialethik und Sozialpädagogik seine forschende und lehrende akademische Praxis.

 

 

 

 

 

 

Aktiver Theologe

Parallel war Siegmund-Schultze immer als Theologe aktiv, im Dienste der Ökumene und seit dem Vorabend des Ersten Weltkriegs auch in Organisationen der Völkerverständigung, der Friedensbewegung und des organisierten Pazifismus, u.a. als Sekretär des „Weltbundes für Internationale Freundschaftsarbeit der Kirchen“. Seit 1919 im „Internationalen Versöhnungsbund“, oder nach 1958, als er das Ökumenische Archiv in Soest gründete und bis 1968 leitete.

Seine schon bis 1933 eminente internationale Anerkennung drückt sich besonders deutlich in einem Brief vom 2.12.1930 aus, den der Friedensnobelpreisträger von 1930, der schwedische Bischof  Nathan Söderblom, nach der Preisverleihung an Siegmund-Schultze schrieb:

„Wenn ich daran denke, dass Sie die fürchterliche  Leiden ihres Volkes völlig und innig miterlebt haben, und … zugleich die Bruderliebe über die Grenzen der Nation … festgehalten und Anderen gepredigt haben, muss ich ja klar sehen, dass Sie diese Anerkennung besser verdient haben als ich.“ (Rehbein 2005, S. 75)

Nach 1945 setzte er die pazifistische Arbeit im aktiven Kampf gegen die Wiederbewaffnung in der Bundesrepublik fort. Siegmund-Schultze arbeitete 1949 am Artikel zum Recht der Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz mit; er war 1957 Mitgründer und bis 1959 erster „Präsident“ der „Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienst-Verweigerer aus Gewissensgründen e. V. (KDV)“, und war auch Mitglied der Gesamtdeutschen Volkspartei (GVP), mit der u.a. der spätere Bundespräsident Gustav Heinemann in den 1950er Jahren gegen Wiederbewaffnung und Westintegration kämpfte. Seit 1994 wird der Friedrich Siegmund-Schultze Förderpreis von der Evangelischen Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK) verliehen.

Nachlass

  • Evangelisches Zentralarchiv, Berlin.

 

 

 

 

 

Schriften (in Auswahl)

  • Herausgeber des Ökumenischen Jahrbuchs, 1934-1937, Leipzig.
  • Als Hrsg.:  Ekklesia. Eine Sammlung von Selbstdarstellungen der christlichen Kirchen, 10 Bände, Gotha 1934–1941.
  • Die Überwindung des Hasses, Zürich 1946.
  • Der Gewissensbegriff im Wehrpflicht-Gesetzentwurf. In: Junge Kirche 1956, H. 11./12.
  • Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. Friedrich Siegmund-Schultze. Texte 1910-1969, hrsg. von Wolfgang Grünberg u.a., München 1990.
Literatur (in Auswahl)
  • Grotefeld, Stefan: „Siegmund-Schultze, Friedrich“. in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 367-368 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118614061.html#ndbcontent
  • Rehbein, Klaus: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sozialpädagogik, Hohengehren 2005.
  • Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969). Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit, hrsg. von Heinz-Elmar Tenorth u.a., Stuttgart 2007.

 


 

Friedrich Siegmund-Schultze 

14th June 1885 (Görlitz) – 11th July 1969 (Soest)

 

Theologian – Social pedagogue– Pacifist – Campaigner for Christian ecumenism

 

Friedrich Siegmund-Schultze, Foto: unknown
Friedrich Siegmund-Schultze, Foto: unbekannt
In the course of his life, Friedrich Siegmund-Schultze united supremely heterogeneous worlds: from a renowned preacher’s post, close to the royal court in Potsdam, he went to the wretched workers’ quarters in Friedrichshain; from a professorship at the University of Berlin, he was forced into exile. Back in Germany, he went to Westphalia and worked in an academic, socio-pedagogical and political capacity all at once. He always remained a pietistically committed theologian, consistently conservative, but, at the same time, receptive to the political and social problems of his country and to international understanding.

 

 

Carrer

Born in 1885 in Görlitz, the son of a Prussian superintendent, Siegmund-Schultze studied philosophy and theology from 1903 to 1908 in Tübingen, Breslau, Marburg, Halle and Berlin after completing secondary school in Magdeburg. He sat his ecclesiastical examinations in Halle and Berlin, and, in 1910, received his licentiate in theology in Marburg with a thesis on  Friedrich Schleiermacher. After a brief spell as a preacher, first in Berlin, then at the Friedenskirche in Potsdam until 1911, he gave this work up in that year and, together with his wife, Marie von Maltzahn, founded the “Soziale Arbeitsgemeinschaft Ost (SAG)” (Social Working Community East) in the working-class Berlin district of Friedrichshain – his “actual life’s work”, by his own judgement. In form and intention, he took his cue from experiences that he had already gathered on a study trip to England in 1908, and in London’s East End, a slum. There, as exemplified by Jane Addams and her work in Toynbee Hall, among others, so-called settlement projects were tested in order to improve the living conditions of the underclasses with such “settlements of educated people in the midst of the poorest sectors of the population” (Lindner) and to jointly develop prospects for the future with them in even those places where supposedly only fatalism and hopelessness define the world.

Development of sociographic methods

Siegmund-Schultze imported this school of educational methods of social work to Germany. In 1917, he also became head of the first youth welfare office in Germany, in Friedrichshain, and, from 1926 onwards, he taught as an honorary professor for youth studies and youth welfare at the Faculty of Philosophy of the University of Berlin, a role in which he was highly regarded, although his nomination in 1928 for a full professorship with a chair, which was supported by the philosopher and educational theorist Eduard Spranger, failed among the majority of the Philosophy Faculty. In Berlin, Siegmund-Schultze also developed sociographic methods together with his students, in order to simultaneously develop therapeutic strategies and combine theory and practice, on the basis of local studies. Forced into exile in 1933, he served as managing director of the International Aid Committee for Refugees in Switzerland. In 1946, he returned to Germany, but rejected the chaired professorship for social pedagogy and social ethics that was offered to him in Berlin, because he did not see any work opportunities for himself at the Berlin University, and went to Westphalia. Founding the Jugend-Wohlfahrtsschule Dortmund (Dortmund Youth Welfare School) in 1948, which he managed until 1954, he continued his socio-pedagogical practice; he further pursued his academic practice in research in teaching at the Social Research Centre Dortmund until 1954 and at the University of Münster from 1947 onwards, as professor of social ethics and social pedagogy.

 

 

 

 

 

 

Active theologian

At the same time, Siegmund-Schultze was always active as a theologian, both in ecumenical ministry and, since the eve of the First World War, in organisations for understanding among nations, the peace movement and organised pacifism, including as secretary of the World Alliance for International Friendship through the Churches, in the International Fellowship of Reconciliation, from 1919 onwards, or, after 1958, when he founded the Ecumenical Archive in Soest, which he led until 1968. The eminent standing that he had already enjoyed internationally up until 1933 is expressed particularly clearly in a letter from 2nd December 1930 that the winner of the 1930 Nobel Peace Prize, the Swedish bishop Nathan Söderblom, wrote to Siegmund-Schultze after the award ceremony: “When I think of how you have witnessed the terrible suffering of your people completely and profoundly, and … , at the same time, have held on to brotherly love beyond national borders … and have preached this to others, I must clearly see that you deserve this accolade more than I do.” (Rehbein 2005, p. 75) After 1945, he continued his pacifist work in the active struggle against rearmament in the Federal Republic. Siegmund-Schultze worked on the article of the Constitution concerning the right to conscientious objection in 1949; he was co-founder, in 1957, and the first “president”, until 1959, of Zentralstelle für Recht und Schutz der Kriegsdienst-Verweigerer aus Gewissensgründen e. V. (KDV; Central Office for the Rights and Protection of Conscientious Objectors), and was also a member of the Gesamtdeutsche Volkspartei (GVP; All-German People’s Party), with which the later federal president Gustav Heinemann, among others, fought against rearmament and integration with the West in the 1950s. Since 1994, the Friedrich Siegmund-Schultze Förderpreis has been awarded by the Evangelische Arbeitsgemeinschaft für Kriegsdienstverweigerung und Frieden (EAK; Evangelical Association for Conscientious Objection and Peace).

Estate

  • Evangelisches Zentralarchiv, Berlin.

 

 

 

 

 

Written works (selection)

  • Herausgeber des Ökumenischen Jahrbuchs, 1934-1937, Leipzig.
  • Als Hrsg.:  Ekklesia. Eine Sammlung von Selbstdarstellungen der christlichen Kirchen, 10 Bände, Gotha 1934–1941.
  • Die Überwindung des Hasses, Zürich 1946.
  • Der Gewissensbegriff im Wehrpflicht-Gesetzentwurf. In: Junge Kirche 1956, H. 11./12.
  • Friedenskirche, Kaffeeklappe und die ökumenische Vision. Friedrich Siegmund-Schultze. Texte 1910-1969, hrsg. von Wolfgang Grünberg u.a., München 1990.
References (selection)
  • Grotefeld, Stefan: „Siegmund-Schultze, Friedrich“. in: Neue Deutsche Biographie 24 (2010), S. 367-368 [Online-Version]; URL: https://www.deutsche-biographie.de/pnd118614061.html#ndbcontent
  • Rehbein, Klaus: Was heißt und zu welchem Ende studiert man Sozialpädagogik, Hohengehren 2005.
  • Friedrich Siegmund-Schultze (1885-1969). Ein Leben für Kirche, Wissenschaft und soziale Arbeit, hrsg. von Heinz-Elmar Tenorth u.a., Stuttgart 2007.

 

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