Humboldt-Universität zu Berlin

Friedrich Eduard Georg Simmel

Philosoph und Soziologe – Beobachter der Moderne und „Abenteurer des Geistes“

 

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Georg Simmel

Georg Simmel, Foto: UB der HU zu Berlin

Georg Simmel war ein Beobachter, Soziologe und Philosoph der frühen großstädtischen Moderne um 1900. Mit seinem Hauptwerk „Philosophie des Geldes“ und zahlreichen kultur- und sozialwissenschaftlichen Essays gehört er zu den Begründern einer modernen Soziologie.

Georg Simmels Vater war Kaufmann und Gründer der Schokoladenfabrik Felix & Sarotti, stammte aus einer jüdischen Familie, trat aber zum Katholizismus über. Auch die Mutter war jüdischer Herkunft, wurde jedoch schon als Kind evangelisch getauft. Obwohl Georg Simmel, selbst protestantisch getauft, in einer christlichen Familie aufwuchs, bildeten seine jüdischen Vorfahren Anlass für antisemitische Hemmnisse seiner akademischen Karriere.

Nach dem Studium der Geschichte, Völkerpsychologie und Philosophie an der Friedrich-Wilhelm-Universität, unter anderen bei Theodor Mommsen, Moritz Lazarus und Eduard Zeller, wollte er zuerst mit einer psychologisch-ethnologischen Studie über die Anfänge der Musik promovieren. Doch waren Ansatz und Darstellung seiner Studie für die damalige akademische Welt so unzeitgemäß, dass sie nicht als Dissertation angenommen wurde. Bezeichnend hieß es in Zellers Gutachten, dass Simmels „ganze Ausführung einen aphoristischeren Charakter“ trage, „als dies einer streng wissenschaftlichen Untersuchung erlaubt ist“. Mit einer philosophischen Abhandlung über das Wesen der Materie wurde er dann 1881 promoviert, habilitierte sich 1885 mit einer Arbeit über Kants Lehre von Raum und Zeit und lehrte ab 1885 als Privatdozent an der Berliner Universität.

Lehre an der Universität

Simmel, der 1890 die Malerin und Schriftstellerin Gertrud Kinel heiratete, die selbst unter Pseudonym philosophische Abhandlungen schrieb, lehrte über eine Vielzahl von Themen: Sozial- und Völkerpsychologie, Soziologie, Ethik, Erkenntnistheorie und Geschichtsphilosophie mit zahlreichen Zuhörerinnen und Zuhörern in seinen Vorlesungen. In der Wohnung der Simmels in Berlin-Charlottenburg trafen sich Rainer Maria Rilke, Marianne und Max Weber, Edmund Husserl, Heinrich Rickert und andere. Doch Ressentiments gegenüber der neuen, unkonventionellen Form seiner Wissenschaft und antisemitische Vorurteile verhinderten, dass er zum ordentlichen Professor berufen wurde. 1890 wurde er außerordentlicher Professur ohne das Recht, promovieren und habilitieren zu können. Ein Ruf an die Universität Heidelberg 1908 scheiterte an einem deutlich antisemitisch gefärbten Gutachten des Berliner Historikers Dietrich Schäfer.

Philosophie des Geldes 

Nachdem Simmel schon in seiner Studie zur sozialen Differenzierung (1890) der modernen Entwicklung zur Individualisierung nachgegangen war, untersuchte er in seinem Hauptwerk „Philosophie des Geldes“ (1900) mit der Monetarisierung sozialer Beziehungen erneut ein zentrales Feld der Moderne. Alles wird Ware und damit das Geld zum Maß aller Dinge. Das Geld nivelliert Unterschiede, ersetzt Qualität durch Quantität, versachlicht das Leben und wird zum bestimmenden Element unserer Bedürfnisse. In den Schriften von Simmels Berliner Studenten Ernst Bloch und Georg Lukács findet sich ebenso das Echo der „Philosophie des Geldes“ wieder wie in der „Dialektik der Aufklärung“ von Theodor W. Adorno und Max Horkheimer.

Perspektive auf Gesellschaft

Simmel ging es um eine Perspektive auf Gesellschaft, die soziale Interaktion in den Mittelpunkt rückte. „Ich gewann einen neuen Begriff der Soziologie“, schrieb er in „Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung“, „indem ich die Formen der Vergesellschaftung von den Inhalten schied, d. h. den Trieben, Zwecken, Sachgehalten, die erst, von den Wechselwirkungen zwischen den Individuen aufgenommen, zu gesellschaftlichen werden“ (Ges. Werke, Bd. 24). Ähnlich wie später Walter Benjamin nahm Simmel Details, Zufälligkeiten, scheinbare Nebensächlichkeiten des großstädtischen Alltags auf, um einen tieferen Zusammenhang, im Einzelnen das Typische, im Flüchtigen das Wesentliche freizulegen. Der Philosoph als „Abenteurer des Geistes“ (Ges. Werke, Bd. 14, S. 175).

Kunst verstand Simmel als Gegenwelt, als Möglichkeit, der Versachlichung des Lebens zu entkommen, über sie hinauszugelangen. Er schrieb über Dante, Goethe, George, Rembrandt, Michelangelo, entwarf ästhetische Landschaftsbeschreibungen und Städteporträts, verfasste eine Philosophie der Mode und zahlreiche kunstphilosophische Essays.

Deutsche Gesellschaft für Soziologie

Zusammen mit Max Weber, Werner Sombart und Ferdinand Tönnies gründete er 1909 die Deutsche Gesellschaft für Soziologie; 1911 verlieh ihm die Albert-Ludwigs-Universität Freiburg/Br. die Ehrendoktorwürde. Aber erst 1914 erhielt Simmel mit 56 Jahren einen Ruf an die Universität Straßburg, das damals zum Deutschen Reich gehörte. Er starb vier Jahre später an Krebs. Sein zweites Kind Angelika, 1907 aus einer Liebesbeziehung mit Gertrud Kantorowicz geboren, der späteren Kunsthistorikerin und Lyrikerin, die 1945 im KZ Theresienstadt starb, hat Georg Simmel nie sehen wollen.

Der Nachlass von Georg Simmel befindet sich heute im Archiv der Universität Bielefeld. Dort existiert auch die Georg-Simmel-Gesellschaft, dessen Vorsitzender, der Bielefelder Soziologe Otthein Rammstedt, die Gesamtausgabe der Werke Simmels herausgab.

An der Humboldt-Universität zu Berlin wurde 2005 in Würdigung seiner stadtsoziologischen Studien das Georg-Simmel-Zentrum für Metropolenforschung gegründet.

Schriften

  • Gesamtausgabe in 24 Bänden, Frankfurt am Main 1989-2016.

Literatur (in Auswahl)

  • Lichtblau, Klaus: Georg Simmel, Frankfurt am Main 1997.
  • Müller, Hans-Peter/Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018.
  • Tyrell, Hartmann/Otthein Rammstedt/Ingo Meyer (Hg.): Georg Simmels große „Soziologie“. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld 2011.

 


Friedrich Eduard Georg Simmel

1st March 1858 (Berlin) – 26th September 1918 (Strasbourg)

 

Philosopher and sociologist – Observer of modernity and “adventurer of the spirit”

 

Georg Simmel, Foto: UB der HU zu Berlin
Georg Simmel, Foto: UB der HU zu Berlin
Georg Simmel was an observer, sociologist and philosopher of early metropolitan modernity in around 1900. From 1885 until 1914, he taught philosophy at the Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin. With his main work The Philosophy of Money (Philosophie des Geldes) and numerous essays on culture and the social sciences, he is one of the founders of modern sociology. 

Simmel’s father was a businessman and founder of the Felix & Sarotti chocolate factory; he came from a Jewish family, but converted to Catholicism. Simmel’s mother was also of Jewish descent, but had already been baptised into the Evangelical Church as a child. Although Georg Simmel, himself baptised a Protestant, grew up in a Christian family, his Jewish ancestry caused anti-Semitic impediments to his academic career. After studying history, ethnopsychology and philosophy at the Friedrich-Wilhelms-Universität, including under  Theodor Mommsen, Moritz Lazarus and Eduard Zeller, he originally wanted to obtain his doctorate with a psychological-ethnological study on the origins of music. However, the approach and presentation of his study were so anachronistic for the academic world at the time that it was not accepted as a dissertation. This is indicated in Zeller’s report, which stated that Simmel’s “entire execution ha[d] a more aphoristic character than a strictly scientific investigation allows.”[1] He then received his doctorate in 1881 with a philosophical treatise on the nature of matter and habilitated (qualified to hold professorial positions) in 1885 with a thesis on Kant’s theory of space and time. From 1885 onwards, he then taught as a Privatdozent (university lecturer who has habilitated and is not a salaried staff member) at the University of Berlin.

 

[1]Quoted from Kurt Gassen, Michael Landmann (ed.), Buch des Dankes an Georg Simmel, Berlin 1958, p. 16 (“seine ganze Ausführung einen aphoristischeren Charakter trägt, als dies einer streng wissenschaftlichen Untersuchung erlaubt ist”).

 

Teaching at the university

Simmel, who married the painter and writer Gertrud Kinel in 1890, who herself wrote philosophical treatises under a pseudonym, taught on a variety of topics, with numerous attendees in his lectures: social and ethnopsychology, sociology, ethics, epistemology and the philosophy of history. Rainer Maria Rilke, Marianne and Max Weber, Edmund Husserl, Heinrich Rickert and others met in the Simmels’ apartment in Berlin-Charlottenburg. However, resentment towards his new, unconventional form of science as well as anti-Semitic prejudices prevented him from being appointed to a chaired professorship. In 1890, he became an “extraordinary” professor (a professor without a chair), without the right either to confer doctoral degrees or habilitate students (confer the qualification that allows one to hold professorial positions). An appointment to the University of Heidelberg in 1908 fell through due to a report by the Berlin historian Dietrich Schäfer that showed clear anti-Semitic bias.

Philosophy of money 

After already investigating the modern development towards individualisation in his study on social differentiation (1890), Simmel then once again examined a central field of modernity in his magnum opus, Philosophie des Geldes (1900; The Philosophy of Money), with the monetisation of social relations. All things become a commodity, and thus money becomes the measure of all things. Money levels out differences, replaces quality with quantity, objectivises life and becomes the determining element of our needs. An echo of the Philosophy of Money can be found in the writings of Simmel’s Berlin students Ernst Bloch and Georg Lukács, as well as in the Dialectic of Enlightenment (Dialektik der Aufklärung) by Theodor W. Adorno and Max Horkheimer.

Perspective on society

Simmel was concerned with a perspective on society that placed social interaction at its centre. “I gained a new concept of sociology,” he wrote in “Anfang einer unvollendeten Selbstdarstellung” (Beginning of an unfinished self-portrait), “in that I separated the forms of sociation from the contents, that is, the impulses, goals and material contents that only become social once taken up by the interactions between individuals” (Ges. Werke, vol. 24). Similar to Walter Benjamin after him, Simmel recorded details, coincidences and seemingly incidental aspects of everyday life in the metropolis in order to uncover a deeper connection, to reveal the typical in the individual and the essential in the fleeting – the philosopher as an “adventurer of the spirit” (Ges. Werke, vol.14, p. 175).

Simmel understood art as an alternative world, as a way of escaping the objectivisation of life, of progressing beyond it. He wrote about Dante, Goethe, George, Rembrandt and Michelangelo, drafted aesthetic descriptions of landscapes and city portraits, and composed a philosophy of fashion and numerous essays on the philosophy of art.

German Society for Sociology 

Together with Max Weber, Werner Sombart and Ferdinand Tönnies, he founded the German Sociological Association (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) in 1909; in 1911, he was awarded an honorary doctorate by the University of Freiburg. However, it was not until 1914, at the age of 56, that Simmel received the offer of a professorship at the University of Strasbourg, which, at the time, was part of the German Reich. He died four years later of cancer. Georg Simmel never wanted to see his second child, Angelika, born in 1907 from a love affair with Gertrud Kantorowicz, the later art historian and poet, who died in Theresienstadt concentration camp in 1945.

Georg Simmel’s estate is now in the archives of Bielefeld University. The Georg Simmel Society (Georg-Simmel-Gesellschaft) is also located there, whose chairman, the Bielefeld sociologist Otthein Rammstedt, edited the complete edition of Simmel’s works.

In 2005, the Georg-Simmel Centre for Metropolitan Studies was founded at the Humboldt-Universität zu Berlin in recognition of his studies on urban sociology.

Written works 

  • Gesamtausgabe in 24 Bänden, Frankfurt am Main 1989-2016.

References (selection)

  • Lichtblau, Klaus: Georg Simmel, Frankfurt am Main 1997.
  • Müller, Hans-Peter/Tilman Reitz (Hg.): Simmel-Handbuch. Begriffe, Hauptwerke, Aktualität, Berlin 2018.
  • Tyrell, Hartmann/Otthein Rammstedt/Ingo Meyer (Hg.): Georg Simmels große „Soziologie“. Eine kritische Sichtung nach hundert Jahren, Bielefeld 2011.

 

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