Humboldt-Universität zu Berlin

Ernst Troeltsch

Theologe – Kulturtheoretiker und Geschichtsphilosoph – liberaler Politiker

 

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Ernst Troeltsch, Foto: HU Berlin
Ernst Troeltsch, schon in jungen Jahren Ordinarius für Systematische Theologie in Heidelberg, seit 1914 in Berlin, aber jetzt für „Religions-, Sozial und Geschichtsphilosophie sowie christliche Religionsgeschichte“, war, so rühmen ihn aktuell die Herausgeber seiner kritischen Werkausgabe, „ein klassischer Diagnostiker der modernen okzidentalen Kultur. Sein weit gespanntes Werk umfasst Texte zur Theologie und Philosophie, Kulturgeschichte und Politischen Ethik sowie zur praktischen Politik“.

Theologie und Politik in Preußen

Innertheologisch wegen seiner religionsgeschichtlichen Position bald umstritten, engagierte sich Troeltsch nach 1900 zusammen mit liberalen Theologen im Evangelisch-sozialen Kongreß, war für die Universität Heidelberg Mitglied der Badischen Ständekammer von 1909 bis 1914, agierte als Gründungsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Soziologie (1910 ) und war auch Mitherausgeber außertheologischer Zeitschriften, z.B. bei „Logos“ oder dem „Archiv für Kulturgeschichte“.

Im Ersten Weltkrieg gehörte er, nach anfänglicher Kriegsbegeisterung, zu den Liberalen, die für Verständigungsfrieden und eine Wahlrechtsreform in Preußen votierten. 1919 war Troeltsch an der Gründung der (links-)liberalen DDP beteiligt und kooperierte eng mit deren führenden Denkern wie Friedrich Naumann, Max Weber und Walther Rathenau. Seit den Wahlen von 1919 auch Mitglied im Preußischen Abgeordnetenhaus, war Troeltsch zugleich Unterstaatssekretär im Kultusministerium und engagiert in der Kirchen- und Bildungspolitik. Enttäuscht vom Schicksal der Republik und von der fehlenden Unterstützung der Demokratie, starb Ernst Troeltsch 1923 in Berlin.

Theologie als normative Kulturwissenschaft

In seinen Schriften spiegeln sich die innertheologischen Konflikte des ausgehenden 19. Jahrhunderts, die zwischen den Vertretern des Kulturprotestantismus und der traditionellen Theologie ausgetragen wurden, und zugleich die systematischen Begründungsprobleme, die seit der historischen Schule in Philosophie und Geisteswissenschaften angesichts des kulturell-sozialen Relativismus der Werte und der Pluralität der Weltanschauungen manifest geworden waren. Troeltsch hat dabei selbst die historische Verortung der Religionen mit seinen Forschungen forciert, v.a. in „Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte“ (1901) oder mit den „Soziallehren der christlichen Kirchen“ (1912), die explizit gegen die Dogmatik der zeitgenössischen Theologie formuliert waren.

In den zahlreichen „Aufsätzen zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie“ (als Bd. IV seiner Schriften 1925 postum ediert), die auch seine produktive „Fachmenschenfreundschaft“ (F.W.Graf) mit Max Weber dokumentieren, arbeitete er zugleich die unersetzliche Kulturbedeutsamkeit der (protestantischen) Religion und innerweltlicher Askese für die Modernisierung von Welt, Kultur und Lebensführung des Menschen heraus. Systematisch widmete sich Troeltsch dem nahezu paradoxen Versuch, trotz aller Historisierung und Soziologisierung der Kultur die Beobachtung ihrer Pluralität und Historizität nicht, wie er Wilhelm Dilthey vorwarf, im Relativismus enden zu lassen, sondern die „Zusammenbestehbarkeit“ von Religion und moderner Weltauffassung zu begründen. Er löste die Aufgabe einerseits, indem er die Probleme des „Historismus“ demonstrierte (1922); andererseits, und als Theologe, in der Formel des „protestantisch-religiösen Individualismus der persönlichen Überzeugung“, die einen Konsens im Glauben über die vielen Richtungen des Protestantismus und seine inzwischen breit entfalteten „Konfessionsfamilien“ (Graf) hinweg fundieren sollte. Theologie war für ihn eine normative Kulturwissenschaft, in der die Eigenständigkeit und Spezifik der Religion als kulturelle Instanz der Transzendenz reflektiert wird.

 

 Troeltsch und die Berliner Universität

Die wechselvolle Geschichte der Beziehung von Ernst Troeltsch zur Berliner Universität dokumentiert die historisch-politische und wissenschaftliche Bedeutung, die er in und für Theologie und Kirche, Wissenschaft, Politik und Demokratie in Deutschland seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert hatte. Als Theologe in Heidelberg hatte er schon früh Konflikte innerhalb der Theologie provoziert, die dazu führten, dass er u.a. 1908 nicht an die Theologische Fakultät der Berliner Universität berufen werden konnte, trotz aller Fürsprecher, die er in Berlin hatte. Heute allerdings hat die Theologische Fakultät eine „Ernst Troeltsch Honorarprofessur“, u.a. von Soziologen wahrgenommen.

Troeltsch wurde schließlich 1914 doch berufen, allerdings in die Philosophische Fakultät, und die Universität sah darin auch die Erwartung eingelöst, die Soziologie als Universitätsdisziplin einzurichten. In Berlin wurde Troeltsch noch deutlicher als Politiker sichtbar und vor allem als Zeitdiagnostiker, wie es seine „Spektator-Briefe“ bis heute zeigen, die er von 1919 bis 1922 im „Kunstwart und Kulturwart“ publizierte. In einer Auswahl unter dem Titel „Fehlgeburt einer Republik“ ediert, belegen sie seinen letztlich erfolglosen Kampf für die Republik und gegen ihre Verächter. Den Mord an seinem Freund Walther Rathenau hat er vor seinem Tod noch erlebt und als Attentat der Feinde von Demokratie und Republik wie der Reichskanzler Wirth im Nachruf auf Rathenau im Reichstag eindeutig verortet: „dieser Feind steht rechts“.

Schriften

  • Kritische Gesamtausgabe. Bayerische Akademie der Wissenschaften, hg. von Friedrich Wilhelm Graf/Christan Albrecht/Gangolf Hübinger/Volker Drehsen/Trutz Rendtorff, Bd. 1-26, Tübingen 2009ff. 
  • Meine Bücher. Zuerst 1922. In: R. Schmidt: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. Bd. 2. ND, Ges. Schr. 1925, Bd. IV, S. 3-18.
  • Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922. Zusammengestellt und mit einem Nachwort versehen von Johann Hinrich Claussen, Frankfurt a.M.1994.

Literatur (in Auswahl)

  • Rendtorff, Trutz: Troeltsch, Ernst (1865-1923). In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 34, 2002, S. 130-143.
  • Graf, Friedrich Wilhelm: Ernst Troeltsch. Theologie als Kulturwissenschaft des Historismus. In: P. Neuner / G. Wentz (Hg.): Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2002, S. 53-69.
  • Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): „Geschichte durch Geschichte überwinden“. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006.
  •  Schluchter, Wolfgang/Graf, Friedrich Wilhelm (Hg.): Asketischer Protestantismus und der „Geist“ des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005.




 

Ernst Troeltsch

17th February 1865 (Haunstetten) – 1st February 1923 (Berlin)

 

Theologian – Cultural theorist and historian – Liberal politician

 

Ernst Troeltsch, Foto: HU Berlin
Ernst Troeltsch, already at a young age a chaired professor of systematic theology in Heidelberg, then in Berlin from 1914 onwards, but this time of the “philosophy of religion, social philosophy and the philosophy of history and Christian religious history”, was, as the editors of the critical edition of his works currently extol, “a classic diagnostician of modern Occidental culture. His wide-ranging work includes texts on theology and philosophy, cultural history and political ethics, as well as practical politics.”

Theology and Politics in Prussia

Born into a doctor’s household near Augsburg in 1865, Ernst Troeltsch studied theology in Erlangen, Berlin and Göttingen from 1884/85. After a brief spell as an assistant priest in Munich in 1888, he became a Privatdozent (university lecturer who is not a salaried staff member) in Göttingen in 1891, was appointed extraordinary (non-chaired) professor of systematic theology in Bonn in 1892, and at the age of just 29, in 1894, became a chaired professor of systematic theology in Heidelberg. Troeltsch taught there, also including philosophy from 1910 onwards, until his appointment in Berlin in 1914, where he had already been a member of the Academy of Sciences since 1912.

Soon a controversial figure within theology because of his historical view of religion, Troeltsch became involved in the Evangelical Social Congress after 1900, along with liberal theologians, was a member of the Badische Ständekammer (chamber of the Baden parliament) from 1909 to 1914 on behalf of the University of Heidelberg, was active in the German Sociological Association (Deutsche Gesellschaft für Soziologie) as a founding member (1910), and was also co-editor of non-theological journals, e.g., for Logos and Archiv für Kulturgeschichte.

During World War I, after initial enthusiasm for the war, he was among the liberals who voted for negotiated peace and electoral reform in Prussia. In 1919, Troeltsch was involved in the founding of the (left-)liberal DDP (German Democratic Party) and cooperated closely with its leading thinkers, such as Friedrich Naumann, Max Weber and Walther Rathenau. Also a member of the Prussian House of Representatives (Preußisches Abgeordnetenhaus) since the elections of 1919, Troeltsch was, at the same time, undersecretary of state in the Ministry of Education of Cultural Affairs and involved in church and education policy. Disappointed by the fate of the republic and the lack of support for democracy, Ernst Troeltsch died in 1923.

Theology as normative cultural science

His writings reflect the conflicts within theology in the late 19th century that were carried out between the representatives of cultural Protestantism and traditional theology, and, likewise, the systematic problems of justification which had become apparent in philosophy and the humanities since the Historical School in view of the cultural-social relativism of values and the plurality of world views.

Troeltsch himself pushed forward a historical positioning of religions with his research, especially in The Absoluteness of Christianity and the History of Religions (Die Absolutheit des Christentums und die Religionsgeschichte; 1901) and with The Social Teaching of the Christian Churches (Soziallehren der christlichen Kirchen; 1912), which was explicitly formulated against the dogmatics of contemporary theology. In his numerous Essays on the History of Spirituality and Sociology of Religion (Aufsätzen zur Geistesgeschichte und Religionssoziologie, posthumously edited in 1925 as volume IV of his writings), which also document his productive “friendship of experts” (F.W. Graf) with Max Weber, he also shed light on the irreplaceable cultural significance of the (Protestant) religion and inner-worldly asceticism for the modernisation of the world, culture and man’s way of life.

Troeltsch systematically devoted himself to the almost paradoxical attempt, despite all the historicisation and sociologisation of culture, not to allow the observation of its plurality and historicity to end in relativism, something he accused Wilhelm Dilthey of, but to justify the compatibility of religion and the modern worldview (their Zusammenbestehbarkeit, ability to coexist). He solved this problem, on the one hand, by demonstrating the issues of historicism (Der Historismus und Seine Probleme, 1922) and, on the other hand, and as a theologian, in the formula of “Protestant-religious individualism of personal conviction”, which was to establish a consensus of faith across the many movements of Protestantism and its, by then, widely developed “confessional families” (Graf). For him, theology was a normative cultural science in which the independence and specifics of religion are reflected as a cultural instance of transcendence.

Troeltsch and the Berlin University

The eventful history of Ernst Troeltsch’s relationship with the University of Berlin documents the historical-political and academic significance he has had in and for theology and the Church, science, politics and democracy in Germany since the late 19th century. He had already provoked conflicts within theology at an early stage as a theologian in Heidelberg, which led, among other things, to him not being able to be appointed to the University of Berlin’s Faculty of Theology in 1908, despite all the advocates he had in Berlin.

Today, however, the Theology Faculty has an “Ernst Troeltsch Honorary Professorship”, which has been held by sociologists and others. Troeltsch was ultimately appointed in 1914, though to the Faculty of Philosophy, and the university also saw this as a fulfilment of its expectation of establishing sociology as a university discipline. In Berlin, Troeltsch gained even more visibility as a politician and, above all, as a diagnostician of the times, as shown by his “Spektator-Briefe” (Spectator letters), which he published in Kunstwart und Kulturwart from 1919 to 1922.

With a selection having been edited under the title Fehlgeburt einer Republik (Miscarriage of a Republic), they attest to his ultimately unsuccessful fight for the Republic and against its despisers. Before his death, he lived to see the murder of his friend Walther Rathenau and unequivocally classified it as an assassination by the enemies of democracy and the republic, just like the Reich Chancellor Wirth in Rathenhau’s obituary speech in the Reichstag: “this enemy is on the right”.

Written Works

  • Kritische Gesamtausgabe [Critical edition of his complete works] from the Bayerische Akademie der Wissenschaften, edited by Friedrich Wilhelm Graf/Christan Albrecht/Gangolf Hübinger/Volker Drehsen/Trutz Rendtorff, vols. 1–26, Tübingen 2009ff.
  • Meine Bücher”. First published in 1922. In: R. Schmidt: Die Philosophie der Gegenwart in Selbstdarstellungen. vol 2., reprinted in Ges. Schr 1925, vol. IV, pp. 3–18 (English translation: “My Books” in Religion in History, essays translated by James Luther Adams and Walter E. Bense, with an introduction by James Luther Adams, Edinburgh/Minneapolis 1991, pp. 365–78).
  • Die Fehlgeburt einer Republik. Spektator in Berlin 1918 bis 1922 [The miscarriage of a republic. Spectator in Berlin from 1918 to 1922]. Compiled and with an afterword by Johann Hinrich Claussen, Frankfurt am Main 1994. 

References (selection)

  • Rendtorff, Trutz: “Troeltsch, Ernst (1865–1923)”. In: Theologische Realenzyklopädie, vol. 34, 2002, pp. 130–143.
  • Graf, Friedrich Wilhelm: “Ernst Troeltsch. Theologie als Kulturwissenschaft des Historismus”. In: P. Neuner/G. Wentz (eds.): Theologen des 20. Jahrhunderts. Eine Einführung, Darmstadt 2002, pp. 53–69.
  • Graf, Friedrich Wilhelm (ed.): “Geschichte durch Geschichte überwinden”. Ernst Troeltsch in Berlin, Gütersloh 2006. 
  • Schluchter, Wolfgang/Graf, Friedrich Wilhelm (eds.): Asketischer Protestantismus und der “Geist” des modernen Kapitalismus. Max Weber und Ernst Troeltsch, Tübingen 2005. 



 

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