„Ich will da sein für die Menschen in ihrem Schmerz“
Ausschnitte aus dem Video-Interview
Das Interview in voller Länge
Die Sozialistin Michelle Bachelet (*1951) war von 2006-2010 sowie von 2014-2018 als erste Frau chilenische Staatspräsidentin. Sie ist die Tochter einer Archäologin und eines Luftwaffengenerals, der unter Salvador Allende diente. Von 2018 bis 2022 war sie Hohe Kommissarin für Menschenrechte der Vereinten Nationen.
Im Zuge des Militärputsches 1973 kam Michelle Bachelets Vater an den Folgen der Folter ums Leben. Sie ging mit ihrer Mutter 1975 ins Exil, über Australien kam sie in die DDR. Sie studierte zunächst in Leipzig und von 1978 bis 1979 an der Humboldt-Universität Medizin. 1979 ging sie nach Chile zurück, schloss dort ihr Studium ab und arbeitete als Kinderärztin und Chirurgin. Nach Wiederherstellung der Demokratie arbeitete sie in den 1990er Jahren im Gesundheitsministerium, bevor sie 2002 als erste Frau chilenische Verteidigungsministerin wurde. Michelle Bachelet ist Mutter von drei Kindern. Die medizinische Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin verlieh ihr im Jahre 2006 die Ehrendoktorwürde für ihre Verdienste um das Gesundheitswesen und die Versorgung unterprivilegierter Menschen, die sie als Kinderärztin und Politikerin in Chile erwirkt hat. Im Interview spricht sie über ihre Zeit des Exils in der DDR, ihr Studium, über Solidarität und den Wert einer guten Bildung.
Frau Bachelet, erinnern Sie sich gern an Ihre Zeit an der Humboldt-Universität?
Es war eine außerordentliche Erfahrung. Ich lernte zunächst in Leipzig am Herder-Institut Deutsch und konnte danach mein Medizinstudium an einer so prestigeträchtigen Hochschule wie der Humboldt-Universität fortsetzen. Das war damals gar nicht einfach, denn ich wohnte in Potsdam. Ich bin jeden Tag die ganze Strecke hin- und zurückgefahren. Ich hatte mein Haus und meinen Mann und ein Baby, das tagsüber in der Krippe war. Meine Erinnerungen sind geprägt von der Möglichkeit, wieder in der Medizin arbeiten zu können. Außerdem hatte ich Kommilitonen, die mir den Austausch mit der deutschen Kultur ermöglichten. Ich erinnere mich an einige hervorragende Professoren.
War es von jeher Ihr Wunsch, Ärztin zu werden?
Mich interessierte und mich interessiert noch immer sehr eine ganze Bandbreite von Themenbereichen. Ich hatte großes Interesse an den Geisteswissenschaften: an den Philologien, der Literatur, der Anthropologie, der Soziologie. Und als ich mich fragte, welcher Bereich nun mein Leben bestimmen sollte, schien mir am Ende, dass es die Medizin ist, die all diese unterschiedlichen Interessen am besten zusammenführen kann.
Sie meinen, dass die Medizin am unmittelbarsten mit den Menschen zu tun hat?
In der Charité gibt es in einem Hörsaal an der Wand ein fantastisches Zitat von Virchow. Darin heißt es sinngemäß, dass die Medizin in ihrem Wesen eine Sozialwissenschaft ist. Die Politik ist wie die Medizin, aber eben in großem Maßstab. Meine Schwestern haben mich immer gefragt, wie ich als Ärztin dazu komme, Ministerin und schließlich Präsidentin der Republik zu werden. Ich denke, dass sich in diesem Virchow-Zitat sehr gut mein Wunsch ausdrückt, der Allgemeinheit und den anderen zu dienen, da zu sein für die Menschen in ihrem Schmerz. Das hat auch viel mit meiner Haltung als Präsidentin zu tun.
Ihre Mutter war Archäologin, ihr Vater Luftwaffengeneral. War ihr Weg zu einem Studium also vorbestimmt?
Die Erziehung zum Staatsdienst war sehr wichtig, aber auch die Werte, die ich von zu Hause mitbekommen habe, dass die Menschen alle die gleichen Chancen haben sollten und diese auch verdienen. Es geht um den Respekt vor den anderen. Wenn beispielsweise jemand bessere Ausgangsbedingungen hat, muss er solidarisch sein mit den anderen. Ich denke, dass alle diese Werte stark dazu beigetragen haben, dass ich Ärztin werden wollte. Die Medizin ermöglichte es mir, diese Werte, die mich geprägt haben, auf angemessene Weise auszudrücken. Ich sage immer, dass ich diese Werte mit der Muttermilch aufgesogen habe. Verantwortung und Pflicht sind die Begriffe, nach denen ich von klein auf gelebt habe.
Sie studierten zunächst an der Universität de Chile in Santiago Medizin. Salvador Allende – ebenfalls Arzt – war zu dieser Zeit erster sozialistischer Präsident. Wie haben Sie das Ende der Demokratie mit dem Militärputsch im September 1973 erlebt?
Ich war im fünften Jahr meines Medizinstudiums. Wie Sie wissen, war die Gesellschaft zu diesem Zeitpunkt sehr polarisiert. Dann kam der Putsch. Ich wollte das Land nicht verlassen. Mein Vater wurde verhaftet. Er war politischer Gefangener. Von Seiten derjenigen, die den Putsch begrüßten, kam es zu Misshandlungen gegen meine Familie.
Waren Sie in diesen Tagen des Staatsstreichs unmittelbar vor Ort?
Als man am 11. September die Moneda (den Präsidentenpalast – die Red.) bombardierte, war ich als Studentin im Krankenhaus. Wir sind damals auf das Dach gestiegen und beobachteten die Bombardierung von dort aus. Wir hatten das Gefühl, das kann nicht sein, das ist nicht wirklich.
Ein Jahr danach entschieden Sie sich, das Land zu verlassen.
Ich war gerade dabei, meinen Abschluss in Chirurgie vorzubereiten, als meine Mutter kam und mich darüber informierte, dass mein Vater im Gefängnis gestorben war. Einerseits war es eine Zeit großer Trauer und von großem Schmerz, auf der anderen Seite spürte man aber auch die Solidarität von sehr vielen Menschen, die einen auf diesem Weg unterstützten.
Sie haben dann zwei Jahre später in der DDR studiert. Welche Umstände haben Sie ausgerechnet in dieses Land geführt?
Die Gründe waren im Wesentlichen politischer Natur. Der Kern der sozialistischen Partei Chiles befand sich im Exil in der DDR, und ich war Mitglied der Führung der sozialistischen Jugend. Eine Zeit lang war ich auch in Australien, weil mein Bruder dort war, und ich hatte dort einige sehr schöne Monate mit ihm. Aber ich wusste, dass mein Aufenthalt im Ausland nur vorübergehend war. Ich wollte dazu beitragen, dass die Demokratie in mein Land zurückkehrt. In der DDR hatte ich das Gefühl, dort als Teil der sozialistischen Jugend Aufgaben übernehmen zu können, die diesen Zielen näher standen. Ich war dort näher an den politischen Netzwerken, an dem, was in Chile passierte. Am Ende bin ich fünf Jahre geblieben.
Lebten Sie immer in dem Bewusstsein, ein „Leben im Transit“ zu führen?
Es gibt einen Unterschied, ob man sich dazu entscheidet, aus persönlichen Gründen in ein anderes Land zu gehen, oder ob man unfreiwillig geht. In diesem Fall war es so, dass meine Mutter aus dem Land gewiesen wurde. Ich bin mit ihr gegangen, um zu vermeiden, dass sie mich dort in einer Art Geiselhaft halten. Ich wollte nicht, dass sie sich aus Angst um mich in ihrem Engagement für die Demokratie zurückhielt. Andererseits bot sich eine enorme Möglichkeit, mehr über die Kultur und Geschichte Europas zu lernen; auch über die DDR und ihre Nachbarländer. Ich konnte meinen Geist öffnen und meinen Horizont erweitern. So bin ich bereicherter zurückgekehrt. Ich war universeller geworden.
Seit 1978 setzten Sie Ihr Medizinstudium an der Humboldt-Universität fort. Wie muss man sich den damaligen Alltag der Studentin Bachelet vorstellen?
Die Universität, von der ich am meisten gehört hatte, war die Humboldt-Universität. Ich wusste, dass sie dort in der Medizin außerordentlich fortschrittlich waren. Also habe ich mich dort beworben. Ich habe alle meine Papiere aus meinem fünfjährigen Studium in Chile vorgelegt. Aufgrund von Unterschieden im Lehrplan wurde ich ins vierte Studienjahr eingestuft. Mein Leben war also das einer normalen Studentin, die jedoch nach Potsdam nach Hause fuhr und dort ein kleines Kind hatte.
Haben Sie die Kurse und Prüfungen auf Deutsch absolviert?
Die Seminare waren alle auf Deutsch. Und die Leute hatten große Geduld, wenn ich versuchte, mich auf Deutsch auszudrücken. Zur großen Überraschung meiner Kommilitonen fielen mir die Anatomie-Seminare auf Latein unheimlich leicht, da das Latein dem Spanischen so ähnlich ist.
Kamen Sie schon mit Patienten in Berührung?
Im Gegensatz zu meiner Studienzeit in Chile hatten die Studenten in der DDR von Anfang an klinische Praktika, die weniger anspruchsvoll waren, aber ihre Erfahrungen waren sehr viel praktischer. Auch für mich war das sehr bereichernd.
Was für eine Studentin waren Sie? Waren Sie sehr diszipliniert oder fanden Sie auch Gefallen an Konzerten oder Partys?
Tatsächlich ist es so, dass ich wegen meiner familiären Situation leider nicht an dieser Art Leben teilnehmen konnte. Die sozialen Kontakte fanden also hauptsächlich zwischen den Lehrveranstaltungen statt: Wir haben zusammen gelernt, Praktika gemacht. Einige Studenten fuhren mit demselben Zug nach Hause. Es gab auch ein gewisses Interesse und eine Neugier gegenüber der Chilenin, die da gekommen war.
Wie waren die gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in der DDR im Vergleich zu Ihrem Heimatland?
In jenen Jahren erlebte die DDR gerade einen großen wirtschaftlichen Aufschwung. Der Lebensstandard war insgesamt sehr gut. Ich erinnere mich, wie ich mich über einige Kommilitonen wunderte, die ein Stipendium hatten und sich beschwerten, dass es so gering ausfiel. Sie bekamen ein Stipendium, um Bücher und Material zu kaufen. Sie hatten Zugang zu vielen Dingen, die es in Chile einfach nicht gab. Ich habe ihnen gesagt: „Ihr wisst gar nicht, was ihr hier habt. In Lateinamerika gehen nur Leute mit Geld zur Universität. Die Universität ist nicht kostenlos und Stipendien gibt es schon gar nicht.“ Die haben mich natürlich angesehen wie einen Marsmenschen, denn ich habe ihnen das, was für sie selbstverständlich war, als etwas gezeigt, das im Rest der Welt alles andere als selbstverständlich ist. Auf der anderen Seite waren es auch einfach Jugendliche wie Jugendliche eben an jedem Ort der Welt sind. Wir teilten das Interesse für Kultur, für Sport und natürlich für Medizin.
Bevor Sie Ihr Studium in Berlin beendeten, gingen Sie zurück in Ihre Heimat.
Ich musste in Chile eine ganze Reihe Prüfungen wiederholen. Da ich sehr beharrlich bin, habe ich das Studium abgeschlossen. Dann habe ich das praktische Jahr in der Kinderheilkunde gemacht und mich parallel dazu für die Wiederherstellung der Demokratie engagiert.
Hatten Sie zu diesem Zeitpunkt eine klare Vorstellung davon, wie das Leben nach der Universität aussehen würde?
Wenn Menschen im Exil sind, machen sie sich kein Bild von der Zukunft. Das hat sehr viel mit der Erfahrung zu tun, in einer Diktatur zu leben und für die Demokratie zu kämpfen. Ich habe in der Öffentlichkeit gearbeitet, aber die politische Arbeit konnte man nicht öffentlich machen. Deshalb hatte man das Gefühl – und das ging vielen Leuten so –, dass das Leben in jedem Moment zu Ende gehen könnte. Für viele von uns war daher Zukunft ein Wort, mit dem wir Schwierigkeiten hatten.
Haben Sie Ihren Kindern geraten zu studieren?
Meinen Kindern habe ich alle Möglichkeiten aufgezeigt, damit sie sich zu intelligenten und kreativen Menschen entwickeln konnten, die die Dinge in Frage stellen und nach Ursachen fragen. Zwei Kinder haben sich für eine Laufbahn in der Politikwissenschaft beziehungsweise in der Anthropologie entschieden.
Demnach hat ein Hochschulstudium aus Ihrer Sicht einen sehr hohen Stellenwert?
Die Universität öffnet in einem Land wie Chile oder Deutschland Fenster und Türen. Der Wert der universitären Ausbildung ist wirklich außerordentlich. Sie bereichert die Gesellschaft und gibt uns die Werkzeuge an die Hand, die es uns ermöglichen, uns den unglaublichen Herausforderungen der gegenwärtigen Welt zu stellen. Herausforderungen wie die, die wir gerade erleben: die Finanzkrise, den Klimawandel. Herausforderungen, die uns vor sehr schwierige Fragen stellen und sehr komplexe Lösungen fordern. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf das Überleben der Menschheit.
Wir leben in sehr komplexen Zeiten. Man redet viel von Globalisierung. Welchen Rat möchten Sie heutigen Studierenden für die Gestaltung ihrer Zukunft mit auf den Weg geben?
Abgesehen davon, dass sie sehr sorgfältig, fleißig und strebsam sein sollten, ist es wichtig, neben dem Wissen und der Ausbildung, die man erhält, nie aus den Augen zu verlieren, dass man an der Vision einer besseren Welt für alle arbeiten soll. In der medizinischen Fakultät gibt es dieses Zitat von Virchow. Und es ist keinesfalls selbstverständlich, dass in den Naturwissenschaften das Soziale in dieser Weise im Mittelpunkt steht. Wenn man sieht, dass es einer Universität gelingt, mit solcher Kraft die reinen Wissenschaften mit dem Sozialen zu verbinden, zeugt das von einem Humanismus, den man nicht an jeder Universität sieht. Ich denke, dass die Humboldt-Universität dieses Ideal auf vorbildliche Weise verkörpert. Diese Integrität des Menschen ist der DNA der Humboldt eingeschrieben. Ich bin sehr stolz, durch ihre Hörsäle gegangen zu sein.
Die medizinische Fakultät der Humboldt-Universität verlieh Ihnen im Jahre 2006 die Ehrendoktorwürde. War der Besuch in Berlin für Sie eine Rückkehr in eine alte Heimat?
Zunächst einmal war es eine sehr große Ehre, weil die Universität und die Fakultät erkannt haben, dass ich in meiner Laufbahn die Werte verkörpere, von denen ich gerade gesprochen habe. Und das ist vielleicht eine der schönsten Ehrungen, die man erhalten kann und noch dazu von seiner alten Universität – oder wie Sie sagten – von seiner alten Heimat. Eine Heimat, die mich wie auch viele andere Chilenen aufgenommen hat. Die Universität hat es mir ermöglicht, voran zu kommen und mich als Person, als Mensch und als Medizinstudentin weiter zu entwickeln.
Im kommenden Jahr feiert Chile 200 Jahre seiner Unabhängigkeit, die Humboldt-Universität begeht das 200. Jubiläum ihrer Gründung. Beide Ereignisse stellten in jener Zeit einen Aufbruch dar, einen Neubeginn. Was verbindet beide?
Die erzieherische, aber auch die gesellschaftliche Funktion ist zentral – nicht nur eine Ausbildung zu guten Fachleuten, sondern auch zu guten Menschen und guten Staatsbürgern. Ich wünsche uns weitere Jahre des freien Denkens unter freien Menschen.
Das Gespräch wurde im Januar 2009 von Heike Zappe geführt.
Übersetzung: Wolfgang Bongers und Torben Lohmüller
Fotos: Heike Zappe (2), Charité