„Dienstleister der Tiergesundheit: Das war hervorragend!“
Helmut Recknagel (*1937) war der erste deutsche Olympiasieger (1960) und Weltmeister im Skispringen (1962). Von 1964 bis 1970 studierte Recknagel an der Humboldt-Universität Veterinärmedizin und promovierte dort 1973. 2007 erschien seine Autobiografie: Eine Frage der Haltung. Erinnerungen (Verlag das Neue Berlin). Foto: Heike Zappe
Herr Recknagel, als Sie im September 1964 aus Thüringen zum Studium nach Berlin kamen, waren Sie 27 Jahre alt und hatten im Frühjahr als einer der erfolgreichsten deutschen Skispringer Ihre sportliche Laufbahn beendet. Was bedeutete dieser Schritt für Sie?
Humboldt-Uni – das bedeutete: neue Aufgaben. Ein neuer Beruf stand an. Ich wusste natürlich, dass es eine Riesenherausforderung war, weil ich zehn Jahre Leistungssport hinter mir hatte.
Sie hatten ja vor Ihrer Sportlerkarriere schon einen Handwerksberuf erlernt.
Ich bin in der thüringischen Stadt Steinbach-Hallenberg aufgewachsen. Mein Vater war ein Zangenspezialist mit hervorragender Qualität. In dieser Hochburg der Kleineisenindustrie groß zu werden, heißt: Nach dem Schulabschluss der 8. Klasse eine Lehre machen, und möglichst eine ähnliche Lehre wie der Vater. Also wurde ich Werkzeugmacher.
Und wie kamen Sie zum Sport?
In der Freizeit spielte ich viel Fußball. Nach Ende eines Spiels sprach mich mein späterer Trainer Hans Renner an, ob ich nicht Skispringer werden wollte. Ich war vollkommen überrascht und musste mich auch noch innerhalb eines Monats entscheiden: Werde ich Fußballer bei Turbine Halle oder bleibe ich in Zella-Mehlis Werkzeugmacher und gehe in den Wintersport?
Sie haben also Ihren Beruf dem Sport zu Liebe geopfert?
Wenn man heute sagt: Die haben ja nur Sport getrieben – das trifft für mich nicht zu. Ich habe fast zehn Jahre in der Kugellagerfabrik weitergearbeitet, und wir haben jeden Tag zwei, drei Stunden trainiert, nach der Arbeit!
Sie waren der erste deutsche Olympiasieger im Skispringen und wollten eigentlich Sportlehrer werden.
Ich habe das Studium an der Deutschen Hochschule für Körperkultur in Leipzig aber geschmissen, und die Sportführung der DDR war mir deswegen ganz böse.
Als bekannter Sportler hatten Sie doch sicher die Möglichkeit, auch außerhalb der DDR zu studieren.
Ich verlasse nicht den Standort, an dem ich groß geworden bin, wo das Elternhaus steht und wo ich auch viele Anhänger habe, bis in die heutige Zeit. Das würdige ich. Auf materielle Güter habe ich immer verzichtet.
Wie kamen Sie dann darauf, Veterinärmedizin zu studieren?
Ich habe in meiner Zeit als Sportler viele Berufsgruppen kennen gelernt: Mediziner, Schauspieler, Juristen. Tierärzte haben mich begeistert. Dienstleister der Tiergesundheit: Das fand ich hervorragend! Ich hatte aber auch die körperlichen Voraussetzungen. Ein Tierarzt hat früher vor allem von der Geburtshilfe gelebt, der musste viel körperlich arbeiten.
Beschreiben Sie das politische Klima, als Sie anfingen zu studieren.
Ich war kein politischer Mensch, aber ich war immer gesellschaftlich aufgeschlossen und habe das, was der Staat angeboten hat, gemacht und war immer froh, dass ich solche guten Bedingungen hatte, Sport zu treiben und auch die Möglichkeit zu studieren.
Aber Sie hatten politischen Unterricht?
Marxismus-Leninismus, das hatte man natürlich als Student, das war völlig normal. Aber politisch habe ich mich nicht engagiert, auch nicht in der FDJ.
War es schwierig für Sie, vom Sport zum Studium zu wechseln?
Ich hatte inhaltlichen Nachholbedarf und musste mich ganz schön auf den Hosenboden setzen. In die Holzbänke zu kriechen, ist mir unsagbar schwer gefallen.
Standen Sie unter Druck?
Ich habe mir immer eingeredet: Die anderen sind auch nicht besser, auch wenn sie die besseren Voraussetzungen hatten. Ich habe Nachhilfe genommen und nach und nach eine vertretbare Leistung gezeigt. Von 131 Studenten fiel ein Viertel durch in Chemie. Wenn man die Leistung nicht bringt, wiederholt man eben die Prüfung. Es ist erst dann zu spät, wenn man eine Sache aufgibt. Vom Sport hatte ich Hilfsbereitschaft, Disziplin, Gewissenhaftigkeit und Pünktlichkeit gelernt, das war mir sehr nützlich im Studium. Ich habe nicht aufgegeben.
Waren die Prüfungen für Sie eine ungewohnte Herausforderung?
Natürlich war das aufregend, damals wie heute: schwarzer Anzug, weißes Hemd, Krawatte, ganz perfekt, da zittern die Knie, schlimmer als auf der Schanze.
Wie haben Sie sich auf Prüfungen vorbereitet?
Jeder hat erstmal alleine gelernt, und in der Präpariergruppe haben wir uns dann zu viert ausgetauscht. Wir haben Stunden und auch Nächte gearbeitet, und das nicht nur unmittelbar vor den Prüfungen. Ich war zu 95 Prozent in den Vorlesungen. Das gesprochene Wort, wurde mir damals gesagt, das ist ganz, ganz wichtig.
Fielen Sie als bekannter Skispringer in der Universität auf?
Ich bekam Anerkennung, weil ich sportliche Leistungen hatte, aber wir haben über den Sport nicht groß gesprochen.
Sie waren kein Star?
Nee. Stars gab es in der DDR nicht. Im Studentischen war das nicht so. Es war Kameradschaft oder wie eine Familie. Also wirklich, wenn ich daran denke, freue ich mich.
Gibt es einen Dozenten, einen Lehrer oder einen Professor, den Sie verehrt haben und der auch mit Ihnen ganz gut konnte?
So ganz gut konnte keiner. Erstens, ich habe die Nähe nicht gesucht, Abstand gehalten, damit eben nicht vielleicht der Gedanke aufkommt: Dem müssen wir helfen. Lieber habe ich schlechte Noten in Kauf genommen. Am meisten beeindruckt hat mich Professor Koch, Anatomie, ein Wiener Professor. Später kam dann Sajonski, Histologie, und dann Professor Berg. Auch ein Thüringer Parasitologie, Professor Hiepe, war erste Klasse!
Gab es zu Ihrer Zeit den so genannten Studentensommer, wo Studenten die Volkswirtschaft unterstützten?
Ernteeinsatz haben wir gemacht. Das war keine Belastung. Das ist Kollektivgeist, Teamwork, kann man sagen. Wir haben gut gearbeitet, und man hat sich im Regelfall auch mit allen ganz gut verstanden. Die Bewältigung des Studentenalltags war für mich kein Problem. Ich kenne schwere Aufgaben, die auch gelöst werden, ich unterliege den Dingen nicht so sehr, aber ich arbeite. Verstehen Sie? Arbeiten muss man!
Wie haben Sie damals ihren Lebensunterhalt finanziert?
Ich hatte ja Verdienstorden, hatte staatliche Auszeichnungen wegen der sportlichen Erfolge. Als Student habe ich 200 Mark bekommen, und für den Vaterländischen Verdienstorden 80 Mark der DDR.
Wo haben Sie gewohnt?
Ich habe ein Jahr in Grünau in einem Ruderclub gewohnt. Ich hatte zwei Zimmer, mit kleiner Küche und kleinem Bad. Ich habe ein Jahr gewartet auf diese kleine Wohnung und dann hatte ich meinen Platz gefunden. Meine Frau habe ich dann nach Berlin geholt.
Damals gab es Probleme mit Ihrer Dissertation. Sie wurden gemaßregelt, weil Sie erst ihre Sprachkundigenprüfung machen müssten.
Das ist richtig. Die Verteidigung hatte bereits stattgefunden, und ich hatte keinen regulären Abschluss in den Fremdsprachen. Diese Belastung mit den anderen Fächern war einfach hoch. Und dann noch die Fremdsprachen. Man sollte ja möglichst mit zwei Fremdsprachen promovieren, Russisch und Englisch. Russisch konnte ich ja ein bisschen, aber das reichte nicht aus.
Worum ging es in Ihrer Dissertation?
Ich wollte Substanzen finden, die einen wirksamen Effekt gegen Leberegel hatten. Nach der Veröffentlichung habe ich zahlreiche Zuschriften bekommen, die diesen Beitrag haben wollten, aus Mexiko, USA, Österreich, Bulgarien, Russland. Das hat mir sehr viel Spaß gemacht.
Foto: Heike Zappe
Wollten Sie nicht an der Humboldt-Uni bleiben?
Nein, ich bin kein so wissenschaftlicher Typ. Nach dem Abschluss war ich zwei Jahre am Staatlichen Veterinärmedizinischen Prüfungsinstitut Berlin, auf dem Unigelände. Ich hatte dort eine Nebenabteilung im Institut, die hieß Inspektionsgruppe der Veterinärmedizin oder Nahrungsgüterwirtschaft. Dann wurde ich Fachtierarzt für Lebensmittelhygiene im Kreis Fürstenwalde. Heute sagt man dazu Verbraucherschutz.
Haben Sie dieses Tätigkeitsfeld selbst gewählt?
Ich hätte gern eine Kleintierpraxis in Berlin aufgemacht. Aber eine große Auswahl gab es da nicht. Man ging da hin, wo man gebraucht wurde. So war das eben.
Sie haben aufgegeben?
Es gab keine Wunscherfüllung. Auch, wenn man was geleistet hat für die sportliche Disziplin des Staates. Privat war keine tierärztliche Praxis möglich. Es gab ja ein einheitliches Veterinärwesen in der DDR: Ein Pflichtassistentenjahr und dann wird festgelegt, wo man seinen Platz findet.
Sie wollten nie weg aus der DDR?
Ich hatte das Elternhaus, ich hatte die Gönner. Der Staat hat gefördert, ich habe Sport gemacht, aber auch Leistung gebracht, und das war dann Plus-Minus-Null. Aber ganz früh wollte ich doch einmal weg: Mit 17, weil ich ein guter Fußballer war. 1. FC Kaiserslautern, Betzenberg, die roten Teufel! Fritz und Ottmar Walter waren meine Vorbilder. Da wollte ich hin! 1954. Aber mein Vater hatte mich nicht gelassen. Lange her.
Haben Sie alles richtig gemacht im Leben?
Nein, das geht ja nicht, alles richtig zu machen. Aber ich hätte an mancher Stelle fleißiger sein können. Ich hätte mir das bis in die heutige Zeit nicht antun müssen, kein Englisch zu können.
Was haben Sie aus dem Studium mitgenommen?
Das Studium hat mich als Mensch verlässlicher und stabiler gemacht. So ein Studium, was nicht ganz einfach war, aber dann am Ende doch gut gelungen ist, hat mich geprägt bis in die heutigen Tage.
Gibt es etwas, das sie zukünftigen Studierenden mit auf den Weg geben möchten?
Ich habe festgestellt, aus Erfahrungen anderer Mitmenschen zu lernen, ist ein Zeitgewinn. Und man sollte auch für andere da sein. Das hatte schon Goethe gesagt: Wer für andere nichts tut, tut nichts für sich. Mehr Miteinander, nicht Gegeneinander, und natürlich auch klare Zielstellungen, Mut, Kraft, Geduld braucht man, um sich im Leben zu bewähren.
Das Gespräch führte Jörg Wagner