„Die Sprache, die den Gedanken formt, muss uns erhalten bleiben“
Ausschnitte aus dem Video-Interview
Das Interview in voller Länge
Im Jahre 1951 ist Rita Schober als Assistentin von Victor Klemperer von der Universität Halle an die Humboldt-Universität nach Berlin gekommen. Sie wurde Dozentin und trat seine Nachfolge am Institut für Romanistik an. Als Professorin, Dekanin und Emeritierte war sie 38 Jahre der Humboldt-Universität verbunden. Sie brachte von 1952-76 das Hauptwerk Emile Zolas Die Rougon-Macquart in einer Gesamtausgabe heraus. Noch heute studiert sie die französische Gegenwartsliteratur und publiziert darüber. Am 13. Juni feiert sie ihren 90. Geburtstag. Wir sprachen mit ihr über ihr Leben für die Wissenschaft, Parteiversammlungen und den Ruf als schönste Frau der Universität.
Frau Schober, Sie kamen 1951 zusammen mit Victor Klemperer an die Humboldt-Universität. Wie kann man sich die Zusammenarbeit mit ihm vorstellen?
Die erste Begegnung mit ihm fand 1948 in Halle statt. Nach Berlin gekommen bin ich 1951 durch ihn. Er wollte, dass ich eine Stelle im Staatssekretariat für das Hoch- und Fachschulwesen annehme, als Hauptreferentin für Philologien. Ich wollte das nicht, denn ich hatte zu der Zeit bereits eine Habilitationsarbeit über George Sand begonnen. Durch diese Unterbrechung, durch das Angebot von Rütten & Loenning 1952, die Zola-Ausgabe herauszugeben, durch die Geburt meines Sohnes 1951 und weil es von George Sands Werken keine Gesamtausgabe und schon gar keine wissenschaftliche Ausgabe gab, konnte diese Habilarbeit aber nicht zu Ende gebracht werden. Also ging ich mit Klemperer nach Berlin. Dass ich einmal seine Nachfolgerin werden soll, stand bei ihm fest.
Sie hatten nicht nur ein kollegiales, sondern auch ein freundschaftliches Verhältnis zu Klemperer, denn er war Trauzeuge bei Ihrer Hochzeit?
Klemperer hatte überhaupt ein kollegiales Verhältnis zu seinen jungen Studenten und zu denen, die er als seine Schüler betrachtete. Er hat mir beispielsweise 1953, als ich sehr schwer krank war, das Geld gegeben, damitich zur Kur fahren konnte. Auch so was gibt's.
War es ein lang gehegter Wunsch, Wissenschaftlerin zu werden?
Ich wollte von Kind an Lehrerin und später Gymnasiallehrerin werden. Darum habe ich ja auch das Studium angestrebt. Nach meiner Promotion im März 1945 ließ mich mein Doktorvater, Prof. Gerhard Preißig, zu sich kommen und sagte: „Möchten Sie bei mir weiterarbeiten?“ Ich habe wirklich gedacht, der Himmel geht auf! Dieses Angebot war gewissermaßen die Erfüllung meiner Träume. Und er fügte hinzu: „Um eine solche Laufbahn einschlagen zu können, sind zwei Voraussetzungen nötig: Man braucht jemanden, der einen schiebt“ – ich glaube, das gilt auch heute noch – „und es muss einem hie und da etwas einfallen. Ihnen wird etwas einfallen und ich werde Sie schieben.“ Er ist 1945 in Prag umgekommen, und der Traum von einer akademischen Laufbahn war damit ausgeträumt.
Dennoch haben Sie an Ihrem Traum festgehalten, an die Universität zu gehen.
Es gab aber eigentlich keine Voraussetzungen für seine Erfüllung. Dass Klemperer 1948 die Leitung des Instituts für Romanistik an der Universität Halle übernahm, wo ich seit 1946 als Assistentin, aber ohne einen, jedoch dringend notwendigen wissenschaftlichen Leiter arbeitete, war ein ungeahnter Glücksfall für mich. Er hat mich auch von der Sprachwissenschaft – mein Promotionsthema war ein sprachwissenschaftliches – zur Literaturwissenschaft zurückgeholt, die mir viel mehr lag. Ihm danke ich deshalb in vielfacher Hinsicht die Orientierung meiner wissenschaftlichen Arbeit und damit auch meine ganze Karriere.
Wie konnte sich die Romanistik zu DDR-Zeiten im Vergleich zu anderen Sprachen an der Humboldt-Universität entfalten?
Das Studium war in den Sprachen in erster Linie auf die Ausbildung von Lehrern für die Oberschulen ausgerichtet; der dafür notwendige Bedarf – die Zahl der abzudeckenden Unterrichtstunden an den Schulen – spielte auch für die Bedeutung des Fachs an den Universitäten eine Rolle. Und die erste Fremdsprache an den Schulen war Russisch, und damit die Slawistik, mit dem Hauptfach Russisch, jahrelang dominant. Als zweite Fremdsprache konnte zwischen Englisch und Französisch gewählt werden, und da wurde meist Englisch bevorzugt. Die Rolle der Germanistik als nationalsprachlicher Philologie wurde dadurch weniger tangiert. Die im Zuge der III. Hochschulreform 1969 gegründete große Sektion aller neusprachlichen Philologien trug daher den Titel „Philologien – Germanistik“. Doch der Sektionsdirektor war ein Slawist. Verwaltungstechnisch zeigte sich das Gewicht der einzelnen Philologien praktisch in der Stellenverteilung. Für die Möglichkeiten der Romanistik kam zudem ein weiterer erschwerenden Umstand hinzu: Alle romanischen Sprachen mit Ausnahme des Rumänischen – Italienisch, Französisch, Spanisch, Portugiesisch – wurden in Ländern gesprochen, mit denen die DDR bis zur völkerrechtlichen Anerkennung 1974 keine internationalen Beziehungen hatte. Wenn es vorher offizielle Beziehungen gab, so höchstens auf der Parteiebene.
Konnte sich die Romanistik später gegenüber der Slawistik behaupten?
Die endgültige Ausgliederung der Romanistik aus der großen Sektion Philologien - Germanistik gelang erst 1982 nach jahrelangem Kampf. Ich habe mich dafür mit großem Engagement eingesetzt. Nur so war es überhaupt möglich, z.B. die Lateinamerikanistik mit einer ordentlichen Professur in Berlin zu etablieren.
Für Ihre Studenten war es sicher noch schwieriger als für Sie, ins nichtsozialistische Ausland zu reisen?
Ich bin selbst aufgrund der historischen Bedingungen 1953 das erste Mal in Frankreich gewesen. Für die Studenten ist es hinsichtlich der praktischen Sprachbeherrschung eine große Erschwernis, wenn ein längerer Studienaufenthalt in den entsprechenden Ländern nicht möglich ist. Nur einmal, 1954/55, ist es gelungen, auf privater Ebene einen Studentenaustausch mit Frankreich durchzuführen. Zum Glück hatten wir jedoch in den ersten Jahren als muttersprachliche Lektoren aus den nichtsozialistischen Ländern Emigranten. Nach 1974 gab es aus diesen Ländern die vertraglich geregelte offizielle Entsendung von Lehrkräften für den Sprachunterricht. Um eine andere Sprache wirklich zu beherrschen, muss man allerdings mindestens einige Zeit im Lande gelebt haben.
Welchem Forschungsgebiet galt Ihr besonderes Interesse?
Mich hat immer das interessiert, was theoretisch ein bisschen umstritten war. Emile Zola war in der offiziellen, marxistischen Literaturkritik vor allem aufgrund der negativen Meinung von Friedrich Engels ein solcher Autor. 1952 war der 50. Todestag von Zola. Solche Daten wurden meistens in der kulturellen Öffentlichkeit der DDR zur Kenntnis genommen und in der Zeitung dokumentiert. Zu diesem Todestag erschien ein Artikel, der Zola im positiven Sinne als Realisten würdigte. Und da ich in diesem Jahr die Herausgabe von Zolas Rougon-Macquart übernommen hatte, musste ich mich natürlich auch mit dieser Frage beschäftigen. Das Thema meiner Habilitationsarbeit lautete deshalb „Zolas naturalistische Theorie und das Problem des Realismus“. Aber literaturtheoretische Fragen: z.B. zu Boileaus Poetik, zum Strukturalismus, zu Aragon, zur Wertungstheorie standen auch sonst für mich im Vordergrund, eigentlich bis heute. Mich interessiert die Literatur als ein Spiegel und als ein Seismograph der Gesellschaft.
Haben Sie denn im Zuge Ihrer Recherchen auch Zolas Erben kennen gelernt?
Ja. Ich habe in den 1950er Jahren den damals noch lebenden Sohn Zolas durch die Vermittlung des führenden Zola-Spezialisten Henri Mitterand in Paris kennen gelernt. Er beschwerte sich damals, dass die zwanzig Bände der Rougon-Macquart zu diesem Zeitpunkt noch immer nicht in Taschenbuchausgabe erscheinen durften, weil sie unmoralisch wären. Zola stand von Anfang an bei der offiziellen Literaturkritik unter dem Verdikt, dass seine Romane „Gossenliteratur“ wären und nicht in die Hände des Volkes geraten dürften, damit es nicht verdorben würde. Das wirklich Bedenkliche daran war für diese Kritiker wohl eher ihre schonungslose Gesellschaftskritik, die in Romanen wie „Die Beute“, „Seine Exzellenz Eugène Rougon“, „Der Bauch von Paris“, „Das Geld“, „Germinal“noch heute greift.
Wie kann man sich den Alltag der Romanistik-Professorin Rita Schober vorstellen?
Ab 1957 bin ich früh morgens mit dem Auto in die Uni gefahren. Unser Institut war damals in der Clara-Zetkin-Straße 1 (heute Dorotheenstraße – d. Red.), und mein Raum die Nummer 6 im Erdgeschoss. Ich war meist die Erste, habe meine Assistenten begrüßt, dann lief der Tag mit Vorlesungen oder Konferenzen. Abends kam ich oft spät nach Hause. Unsere Haushälterin beklagte sich zunächst über das, was mein Sohn während des Tages wieder einmal angestellt hatte. Also musste ich zunächst die strenge Mama sein und dann erst die liebe, die ihn noch mit einem kleinen Schlaflied ins Bett bringt. Wenn wir Glück hatten, war mein Mann schon zu Hause und wir konnten zusammen wenigstens zu Abend essen. Danach habe ich mich an den Schreibtisch gesetzt. Ich habe bis in die 1970er Jahre hinein regelmäßig mindestens zwei- bis dreimal, manchmal öfter, die Nächte bis drei oder vier Uhr früh durchgearbeitet. Manchmal habe ich auch zwei Tage hintereinander ohne Schlaf am Schreibtisch verbracht.
Wir sprachen schon von der Verantwortung. Was bestimmte Ihre Tätigkeit an der Universität?
Ein Institut leiten mit allem Drum und Dran, Vorlesungen und Seminare halten, im Ausland auf Konferenzen, in Gastvorlesungen, auf Kolloquien tätig sein, die hochschulpolitischen Verpflichtungen wahrnehmen. In dieser Hinsicht gab es viele Gremien, in denen man seine Zeit oft nur vertrödelte. Aber, man musste teilnehmen, um die Interessen des Fachs zu wahren, damit der Hauptanteil des Stundenkontingents nicht Pädagogik, Gesellschaftswissenschaften oder Russisch zufiel, sondern die Studenten in Französisch auch noch Französisch lernen durften. Bei all diesen Verpflichtungen verblieben eigentlich nur die Ferien als die Zeit, wo man mal hintereinander weg arbeiten konnte.
Zum Universitätsleben gehören auch Feierlichkeiten. Können Sie sich an solche Feste erinnern?
Mit meinen unmittelbaren Kollegen und Mitarbeitern habe ich stets eine Weihnachtsfeier gemacht, und zum Fasching gab es ein Institutsfest für alle, an dem oft ein französisches Theaterstück in Originalsprache von den Studenten aufgeführt wurde. Besondere Feierlichkeiten fanden 1960 zum 150-jährigen Universitätsjubiläum statt. Zum Festakt in der Staatsoper zogen wir noch in Talaren über die „Linden“. Vor allem aber bemühten sich alle Institute, die Universität mit wissenschaftlichen Veranstaltungen in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Wenn man bedenkt, dass dies erst fünfzehn Jahre nach Kriegsende geschah, so kann man sagen, dass sich das wissenschaftliche Potenzial der Universität in diesen Jahren bereits erstaunlich entwickelt hatte. Allein unser kleines Institut hat drei Konferenzen ausgerüstet: eine theoretische Konferenz zur Realismusfrage in Aragons Roman „Die Karwoche“ und Eluards Lyrik; eine Studentenkonferenz zum Algerienkrieg – das Referat haben die Studenten im Sprachunterricht selbst erarbeitet – und eine Lateinamerikakonferenz, die erste nach dem Krieg in Deutschland.
Wie reflektieren Sie die Parteiversammlungen?
Wenn ich etwas in meinem Leben bedauere, dann sind es die vielen Versammlungen, bei denen nichts Vernünftiges herauskam. Natürlich gab es auch andere. Aber mit der Zeit der Mitglieder wurde umgegangen, als hätten sie ein ewiges Leben. Man fragt heute oft, wieso vernünftige Menschen dies alles jahrelang akzeptiert haben. Ohne die Überzeugung, vielleicht jedoch wäre es besser zu sagen, ohne den „Glauben“, sich für eine gute Idee einzusetzen und eine friedliche Welt aufbauen zu helfen, in der alle Menschen ein menschenwürdiges Leben führen können, wäre dies nicht möglich gewesen. Und die diesem Glauben zugrunde liegenden gesellschaftlichen Probleme sind heute ja leider noch keineswegs endgültig gelöst. Ich wünschte mir deshalb, dass man aus den Fehlern der Vergangenheit wenigstens etwas lernte. Der Versuch in den 70er Jahren mit der dritten Hochschulreform amerikanische Vorbilder zu kopieren, war kein sehr glücklicher. Manche der jetzigen Bestrebungen an der Universität erinnern mich in fataler Weise daran.
Man kannte Rita Schober seit 1964 auch als regelmäßigen Gast in der DDR-Fernsehsendung „Das Professorenkollegium tagt".
Das war eine sehr beliebte Sendung und, glaube ich, die einzige, die live gesendet wurde. Wir diskutierten oft über Alltagsthemen: über Kindererziehung, aber auch übernaturwissenschaftliche Themen, denn das Kollegium war aus Professorenaller möglichen Wissenschaftsgebiete zusammengesetzt: Der Chef desTierparks, Professor Heinrich Dathe, war oft dabei und auch der Gerichtsmediziner, Professor Otto Prokop. In einer Sendung haben wir uns einmal über das Boxen als sportliche Disziplin unterhalten. Das Professorenkollegium war mit Prof. Prokop einheitlich der Meinung, dass es kein Sport wäre, wenn einer den anderen als dezidiertes Ziel k.o. schlagen muss. Da haben wir eins aufs Dach bekommen. Der Boxverband hatte Beschwerde eingelegt.
Die Sie kennen, berichten, dass Sie „die schönste Frau der Universität“ genannt wurden...
(Lacht:) In Halle hieß ich immer „die schöne Rita“! Manchmal hieß ich auch„die Bestangezogene“. Aber schön? Ich glaube, schön im klassischen Sinn bin ich nie gewesen. Und Männer? Ich war mit einem sehr lieben, guten und fürsorglichen Mann verheiratet, auf den ich mich in jeder Lebenslage verlassen konnte. Und, vor allem, er hat sich über jeden meiner Erfolge mit mir gefreut! Ohne ihn, seine Unterstützung, Rücksichtnahme und die Bereitschaft, seine Wünsche in vielen Fragen zurückzustellen, hätte ich meine Universitätslaufbahn nicht machen können. Denn ein so vergnügliches Leben hat mein Mann an meiner Seite ja nicht gehabt. Ich sagte schon, ich habe sehr oft die Nächte durchgearbeitet, war immer gestresst, viel unterwegs, also nicht in Berlin – das erforderteschon sehr viel Liebe und Aufopferung seinerseits.
Gibt es einen Rat, den Sie Wissenschaftlerkollegen mitgeben möchten?
Ich meine, dass jede Gesellschaft scheitern muss, die glaubt, mit den Funktionsmechanismen ihres Systems die endgültige Lösung für alle Probleme bereits gefunden zu haben. Die also für eine weitere Entwicklung und selbstkritische Reflexion des Bestehenden nicht mehr wirklich offen ist. Zu dieser öffentlichen Reflexion mit ihren jeweiligen fachspezifischen Möglichkeiten beizutragen, ist auch eine Aufgabe der geisteswissenschaftlichen Disziplinen. Ich fange mit der Sprachwissenschaft an. Es wäre an der Zeit, den heutigen Sprachgebrauch der Politik kritisch zu untersuchen und dafür zu kämpfen, dass die deutsche Sprache, die mit dem Reichtum ihrer Ausdrucksmöglichkeiten auch unser Denken formt, erhalten bleibt. Zu ihrer Erhaltung gehört auch eine saubere Aussprache: der Sprecher im Rundfunk, im Fernsehen, der Schauspieler auf der Bühne, eigentlich aller im öffentlichen Leben. Ich würde Sprechunterricht zu einem Pflichtfach in der Schule und natürlich in der Ausbildung aller Lehrer machen.
Das Gespräch führten Peter Göbel und Heike Zappe.
Fotos: Heike Zappe; Archiv Rita Schober
Das Interview entstand im November 2007.
Kontakt: heike.zappe@uv.hu-berlin.de