Humboldt-Universität zu Berlin

„Es war eine großartige Zeit für mich. Und ein Schock.“

Der DDR-Bürgerrechtler Jens Reich über seine Studienzeit an der Humboldt-Universität im sich teilenden Berlin

Das Interview in voller Länge

Prof. Dr. Jens Reich (*1939) studierte von 1956 bis 1962 Medizin und Molekularbiologie an der Humboldt-Universität zu Berlin. Er war im September 1989 Mitbegründer der Bürgerbewegung Neues Forum. 1994 wurde Reich von den Grünen als Kandidat für das Amt des Bundespräsidenten nominiert. Wissenschaftlich beschäftigte er sich bis zu seiner Emeritierung 2004 mit der Genom-Forschung. Jens Reich ist Mitglied im Deutschen Ethikrat.

 

Herr Professor Reich, Sie haben vor 48 Jahren Ihr Studium der Medizin und Molekularbiologie an der Humboldt-Universität abgeschlossen. Mit welchen Erinnerungen kommen Sie heute in das Hauptgebäude Unter den Linden?

Es sind angenehme und unangenehme Erinnerungen. Das Ende meiner Studentenzeit an der Humboldt-Universität fällt ja zusammen mit dem Bau der Mauer, und das war für mein Leben ein einschneidendes negatives Erlebnis.

Wie erlebten Sie die Zeit des Mauerbaus?

Das war ein akuter Schock. Wir glaubten nicht, dass es möglich ist, Berlin Ost und Berlin West voll abzutrennen, selbst wenn Kontrollen und Stacheldrähte aufgebaut würden. Wir kannten genügend Schleichwege, Schrebergärten und Übergänge. Mir ist erst später klar geworden, dass die Entscheidung ein Einschluss fürs Leben geworden ist.

Jens Reich
Foto: Heike Zappe

Hatten Sie einmal ernsthaft in Erwägung gezogen, alles hinzuwerfen und das Land zu verlassen?

Nur weil der Westen für mich interessanter sein könnte, das wäre kein Grund gewesen, aus der DDR wegzugehen. Freunde, Verwandte, meine Eltern, meine Schwester standen dagegen. Ich wollte nicht für immer aus diesem Land weg. Allerdings die Welt sehen und ein paar Jahre irgendwo verbringen, das wollte ich schon.

Auch in den späteren Jahren der DDR haben Sie nicht hinaus gewollt?

Es hätte höchstens so kommen müssen, dass ich derart unter Druck gesetzt würde, meinetwegen verhaftet oder verurteilt. Damals, als ich auch schon oppositionell tätig war, dann wäre ich vielleicht weggegangen. Der politische Druck ist aushaltbar gewesen oder man konnte Widerstand leisten. Man hatte Kirchen und Freundeskreise und letzten Endes dann auch wieder die weltbürgerliche, die religiöse Orientierung.

Ihr Vater war Internist am Salvator-Krankenhaus in Halberstadt. War Ihr Wunsch, Medizin zu studieren, familiär vorgeprägt?

Nein, ich hatte alle möglichen Interessen, die mehr in geisteswissenschaftliche Fächer gingen: Musik- und Kunstgeschichte, Philosophie. Mein Vater aber riet mir: Medizin ist ein Fach, wo du dich politisch nicht in irgendeiner Weise prostituieren musst. Geisteswissenschaftlich ist es doch auch interessant: Psychiatrie, Geschichte der Medizin und ähnliches. Als Arzt kannst du alle deine Interessen weiterverfolgen und bleibst ein anständiger Mensch.

Jens Reich
Foto: Heike Zappe

In welchem geistigen Klima wuchsen Sie auf?

Wir waren in Halberstadt ein größerer Kreis von jungen Leuten. Wir haben viel neue und alte Literatur gelesen, hatten einen philosophischen Diskussionskreis, und es gab bei der evangelischen Kirche Akademietagungen. Wir standen auf der Höhe der Zeit, indem wir Thomas Mann gelesen und diskutiert haben oder die klassische Musik in moderneren Interpretationen in den Opern- und Konzerthäusern in Leipzig oder Berlin besuchten; aber nicht in dem Sinne, was in der Welt vor sich ging.

Sie haben als Gymnasiast in der Begründung ihres Studienwunsches schon eine weitere berufliche Entwicklung mit angegeben: Fachstudium Physiologische Chemie oder Pharmakologie.

Das ist auch in Gesprächen mit dem Vater entstanden, der sah, was meiner Interessenlage am ehesten entsprechen würde: ein theoretisches Fach und weniger die klinische Richtung. Ich habe Biochemie in Jena studiert und bin dann Theoretischer Biomediziner für den Rest meines ganzen Lebens geworden, nachdem ich einige Jahre die klinische Ausbildung und Tätigkeit gemacht hatte.

Warum musste es unbedingt die Humboldt-Universität als Studienort sein?

Ich wollte nach Berlin, weil mir klar war, dass es die interessanteste Stadt in der DDR ist, sowohl kulturell als auch vom ganzen Lebensstil her. Ich wollte nicht in die Provinz.

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Jens Reich im Audimax 1990.
Foto: Joachim Fisahn

Sie waren damals noch unglaublich jung, als sie nach Berlin zum Studium kamen.

Ich war 17. Das erste Mal war ich weg von zu Hause. In der Stalinallee 27 habe ich ein Zimmer bei einer Studentenwirtin bezogen, die mehrere Kinder hatte. Berlin war ungeheuer aufregend im Vergleich zu Halberstadt, bei aller hausmusikalischen, geisteswissenschaftlichen, philosophischen und religiösen Orientierung. Die war sehr konservativ, einfach, weil die Moderne in Halberstadt nicht ankam.

Wie erlebten Sie Berlin in der Mitte der 1950er Jahre?

Ostberlin ist zu keinem Zeitpunkt vor der Mauer irgendwie zurückgeblieben oder war provinziell. Es war der spannendste, interessanteste und aufregendste Ort der Welt. Nicht umsonst spielen die Kriminalromane von John le Carré in Ostberlin oder drehte Billy Wilder seine Filme in Westberlin. Die Stadt hat da keinen Verdienst dran. Das ist passiert, als sofort nach Beendigung des Zweiten Weltkrieges die Demarkationslinie der sich entwickelnden Großkonfrontationen, die man heute Kalter Krieg nennt, Berlin gewesen ist. Deswegen steckten beide Supermächte samt ihren Anhängseln alle Kraft rein, um in Berlin ein Schaufenster zu haben. Dieser Wettbewerb war natürlich kulturell, politisch und im ganzen Lebensstil hochinteressant.

Welche Angebote lockten Sie speziell?

Man konnte im Osten und im Westen ins Theater gehen. Im Osten gab es das Berliner Ensemble, was in diesen Jahren ganz zweifellos das beste und modernste Theater der Welt gewesen ist. Das war uns so nicht klar, weil wir nur Berlin kannten. Man sah im Publikum Leute aus der ganzen Welt, weiße und schwarze und Asiaten, interessante Gesichter. Gebildete Menschen kamen, um das Brechttheater zu besuchen. Man hörte sie in der Pause dann französisch oder englisch reden. Du hattest das Gefühl, an einem Ort zu sein, an dem wirklich etwas für die Welt Vorbildliches, Interessantes gemacht wird. Etwas später wurde dann das Deutsche Theater sehr interessant, dadurch, dass eben dort die deutschen und griechischen Dramen auch immer politisch gedreht wurden. „Alles ist Politik“, hieß es so schön. Das Private war vermischt mit dem Politischen. Wie es eben die Revolutionäre und später die Stalinisten lehrten. Aber wie es auch die Existenzialisten in Paris lehrten. Eine großartige Zeit für mich.

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Berlin 1961. Foto: Bundesarchiv

Die Komische Oper war ein Weltereignis damals: Felsensteins Inszenierungen. Westberliner Theater haben Gründgens“ berühmte Faust-Inszenierung aus Hamburg geholt. Und ich habe Französischkurse im Maison de France am Kurfürstendamm belegt und im Haus der Deutsch-Sowjetischen Freundschaft Russischkurse.

Und wie stellte sich der Wettbewerb der Supermächte hochschulpolitisch für Sie dar?

Die Humboldt-Universität und die Freie Universität standen sich ja ebenfalls konfrontativ gegenüber, und man konnte hier und dort Vorlesungen und Seminare besuchen. Ich bin auch gerne an die FU gegangen, wenn mir gesagt wurde: „Da gibt es einen interessanten Dozenten, hör dir das doch mal an.“ Wir konnten bis zum 13. August 1961 frei zwischen Ost und West in Berlin flanieren.

Das war mir wichtiger als etwa das Studium, die Wissenschaft, die Medizin. Das musste ich einfach machen. Wir haben uns über verschiedene Interessengebiete gestritten und darüber diskutiert. Es war eben ein Studium, wie es nachher nicht mehr möglich war – in dieser Breite und den Möglichkeiten sich auszubilden.

Dann sind Sie demnach nicht mehr oft nach Halberstadt gefahren?

Na doch. Das war das typische Studentenverhalten, dass man raus will und dann doch von zu Hause zurückgezogen wurde. Ich stand unter sehr starkem Einladungsdruck, die Urlaube in Halberstadt zu verbringen. Außerdem wurde ich von zu Hause ernährt. Ich wollte ja nicht die Familie loswerden, aber mir war, als ob ich irgendwas opfern musste, was mir interessant gewesen wäre. Andererseits hat Halberstadt die Anmutung der Heimat für mich behalten.

Waren die Hörsäle an der Charité sehr voll?

Da die meisten sehr eifrig waren, ja; in der Anatomie waren es wohl 500 bis 600 Studenten, ein Massenbetrieb. Man musste stehen oder auf den Treppen sitzen. Schon vor 1961 sind die Studentenzahlen erheblich verstärkt worden. Das hatte damit zu tun, dass die Ärzte in der DDR in großen Scharen in den Westen abwanderten und die Regierung dringend den Ärztemangel auflösen wollte und somit in alle Studienjahre weit mehr als für die Ausbildungsstätte optimalen Studentenstand aufgenommen haben.

Begann das Studienjahr bei Ihnen auch mit einem Ernteeinsatz in der Landwirtschaft?

Nicht Ernte, aber wir wurden in einen Herbsteinsatz geschickt. Ich bin mehrmals im Braunkohlentagebau „Schwarze Pumpe“ gewesen. Da habe ich manche vorlesungsfreie Zeit verbracht. Das war schon eindrucksvoll.

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Foto: Heike Zappe

Inwiefern?

Ich wurde als Hilfsarbeiter eingeteilt, die die Gleise verlegen mussten. Im Tagebau gibt es riesige Maschinen, die beim Graben auf einem System von Schienen parallel weiter rutschen. Die Schienen sind auf einer Sanddüne aufgestellt und gehen andauernd kaputt, auseinander und verrutschen. Regelmäßig wurden wir morgens um 4 Uhr in Brieske abgeholt und den ganzen Tag, bei jedem Wetter, gingen wir langsam hinter dem Bagger her und rückten die Bohlen und die Gleise wieder gerade. Das musste sein, sonst wäre der Bagger irgendwann hängen geblieben. Für qualifiziertere Arbeiten waren wir Hilfskräfte von den Universitäten ja nicht ausgebildet.

Mit dieser Praxis hatte die Theorie, die Sie in der Uni vermittelt bekamen, eher wenig zu tun. Sie ersetzten quasi fehlende Arbeitskräfte …

Ich lernte Menschen kennen, die ich sonst nicht gekannt hatte in meinem behüteten Heim. Man nahm Verbindung mit dem Proletariat auf, so hieß der Fachausdruck. Da erfuhren wir, was los ist unter den Leuten. Jeden Tag um drei oder halb vier wurden wir in der Baracke geweckt, wurden mit Bussen über verwinkelte Wege zu dem Tagebau geschafft, haben den ganzen Tag gearbeitet und kamen nachmittags irgendwann wieder. Es war nicht so, dass wir Sklavenarbeit über zwölf Stunden machen mussten. Weil in der Gegend nichts los war, ging man dann aus Langeweile in die Kneipe, aß und trank Bier, und dann gab“s jeden Abend eine Riesenschlägerei. Die Montagearbeiter verschwanden zum Wochenende zu Familie und Heimat und kamen dann wieder. Und die entwurzelten oder allein stehenden blieben. Es war Männerwirtschaft; es ging ruppig und brutal zu.

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Charité 1958. Foto: Baier, Bundesarchiv

Und was haben Sie dort „fürs Leben“ gelernt?

Ich habe gelernt, was man macht, wenn in einer Kneipe eine Schlägerei mit Stuhlbeinen und Bierseideln ausbricht und man nicht teilnehmen will. Dann muss man nämlich sitzen bleiben und so tun, als ob einen das nichts angeht. Dann fliegen die Stuhlbeine und die Biergläser über einen hinweg ... Man lernte schon, wie das regellose, uferlose Leben in solchen großen, industriellen Betrieben in der DDR war. Es ist für einen Arzt nützlich, wenn er weiß, was die Leute so durchmachen, weshalb sie krank werden oder zu Säufern.

Waren Sie ein disziplinierter Student?

Nein, ich hatte so viele andere Interessen, dass ich nach Möglichkeit meine Präsenzen an den Lehrveranstaltungen klein gehalten habe. Man ging zu den Vorlesungen, die kontrolliert wurden, und zu den anderen ging man nur hin, wenn es interessant war. Es fiel nicht auf, wenn man ein bisschen schwänzte. Bei den Examina musste man eben pauken, auch Dinge, die man nicht mitbekommen hatte.

Welche Dozenten waren besonders prägend für Sie?

Erich Bahrmann, ein Prosektor, also Pathologe, und ein überzeugter Anti-Rauch-Ideologe, hielt im Krankenhaus Friedrichshain eine Nachmittagsvorlesung für Medizinstudenten. Er war ein skurriler Typ, ein fanatisch für seine Wissenschaft Lebender, sehr autoritär.

Auch Theodor Brugsch war ein ganz Eindrucksvoller, ein alter Herr in den 70ern, der in der Inneren Medizin noch Vorlesungen machte. Er imponierte uns besonders, weil er einer der wenigen deutschen Ärzten war, der 1933 aus dem Universitätsbetrieb ausgeschieden ist. Er hat immer Solidarität zu seiner Frau gezeigt, die Jüdin war. Aus diesem Grunde ist er von nationalsozialistischen Studentenschaften angepöbelt worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg bekam er die Professur an der Charité. Was imponierte, war sein überragendes medizinisches Wissen, was auch kulturell und historisch verortet war. Es war eindrucksvoll, den Mann zu hören.

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Berlin 1954. Foto: Brodde, Bundesarchiv

Sie lernten also das klassische Universitätsstudium kennen, wo der Student sich selbst zusammenstellte, was er gerne hören und lernen will.

Das war auch in den Fächern möglich, die ich nicht studierte. Wenn man sich die Zeit nahm, ging man hin, ohne Beschränkung. So belegte ich Kunstgeschichte, Ägyptologie oder Philosophie. Ich besuchte die Vorlesungszyklen von Robert Havemann. Anfangs waren das linientreue, aber philosophisch interessante, weil marxistisch-atheistisch aufgeladene Vorlesungen über Philosophie der Naturwissenschaften. Zum Dissidenten im scharfen Sinne wurde Havemann dann erst mit Beginn der sechziger Jahre.

Und ihm wurde 1964 die Lehrerlaubnis entzogen. Die Wissenschaften wurden zunehmend vom parteipolitischen Denken beeinflusst. Gab es noch andere Professoren, die weiter gefasst dachten?

Kurt Noack war der erste wirklich überzeugte und fanatische Bioökologe, den ich in meinem Leben gesehen hatte. Das Sterben von Arten, die Auswirkungen der Industrialisierung auf die Tier- und Pflanzenwelt, die Schäden, die gesetzt wurden durch den Raubbau an den Ressourcen, hatte er 1956/57/58 schon thematisiert. Und natürlich scharf politisch, ohne dass es ausgesprochen wurde, einfach durch die Inhalte, die er brachte.

Sehr interessant waren auch Günter Tembrocks Vorlesungen in Verhaltensbiologie. Völlig quer zu allem, was an marxistisch-leninistischer Verhaltenslehre gelehrt wurde. Mit einem großartigen Hintergrund- und Literaturwissen und eigenen experimentellen Beobachtungen.

Wolfgang Heise in der Philosophie ist auch kein Dogmatiker gewesen, sondern sehr interessant. Und ich bin auch in die Mathematik gegangen. Ich bin ja später Bio- bzw. Medizinmathematiker geworden. Und das fing in diesen Jahren an, dass ich interessiert war und Vorlesungen hörte.

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Berlin Alexanderplatz 1959, Foto: Horst Sturm, Bundesarchiv

Es scheint, als wurden Sie bis 1961 in Berlin zum Weltbürger ausgebildet. Kurz gefasst, wie würden Sie Ihr Studium charakterisieren?

Ein frei zusammengestelltes Studium plus die Ausbildung nach Studiengang mit Ost und West und nach Feierabend Theater und Musik. Das Private war vermischt mit dem Politischen. Wie es eben die Revolutionäre und später die Stalinisten lehrten. Aber wie es auch die Existenzialisten in Paris lehrten. Eine großartige Zeit für mich. Schöne Erinnerungen - und 1961 war dann alles mehr oder weniger zu Ende.

Wie wirkte sich das Schließen der Grenze auf den Lehrbetrieb und die Patientenversorgung an der Charité aus?

Massiv, da ein Drittel ihrer Dozenten und Professoren von einem Tag auf den anderen praktisch wegblieb, unter anderem mein Doktorvater. Das waren Westberliner, die kriegten bis 1961 ihr Gehalt zur Hälfte in Ost- und zur Hälfte in Westmark und blieben an der Charité, weil sie mit ihr verbunden waren. Wer weg wollte, war schon vorher gegangen.

In allen Kliniken musste nun ein Notdienst eingerichtet werden. Das Gesundheitsministerium hat über Wochen und Monate, an der Charité dafür gesorgt, dass es wieder einen vernünftigen klinischen Betrieb gab. Sie haben Personal und Professoren aus den anderen Universitäten und Kliniken geholt, aus Rostock, Greifswald und Jena. Und dort verdünnte sich der Bestand. So ist mancher schnell zur Professur gekommen, der sonst noch hätte zehn Jahre warten müssen.

Waren Sie damals politisch interessiert?

Im Freundeskreis gingen wir in die Amerika-Gedenkbibliothek sowie in die Unibibliothek, um Literatur, Zeitungen und Zeitschriften des Westens zu lesen. In der Seminargruppe waren die FDJ-Funktionäre und die politisch nicht Interessierten, die einfach nur ihr Studium fertig bringen wollten. Es war gefährlich, politische Äußerungen zu machen, die staatsfeindlich interpretiert werden konnten. Man konnte relegiert werden.

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Hauptgebäude der HU, Foto: Hans Günther Quaschinsky, Bundesarchiv

Wir hatten große Auseinandersetzungen, als Chruschtschow mit der Sowjetarmee im Herbst 1956 in Budapest einmarschiert ist. Das hat im ganzen Studienjahr Unruhe hervorgerufen. Da wurde diskutiert und es wurden welche relegiert, die begonnen hatten, politische Studentenverbindungen zu gründen. Relegiert hieß dann: Ab morgen an der Freien Universität weiter studieren. Das kam ständig vor, dass sich entweder jemand im Urlaub entschloss: „Ich geh jetzt in den Westen“, oder aber er stieß irgendwie zusammen mit dem Dozenten für Marxismus/Leninismus oder wurde in der Seminargruppe angezählt, bekam schlechte Beurteilungen durch den FDJ-Sekretär der Seminargruppe und studierte dann im Westen weiter.

Bevor Studierende in der DDR ihren ersten Schritt in die Uni setzen durften, mussten sie eine Verpflichtungserklärung unterzeichnen. Darin heißt es: „Ich betrachte mein Studium als Auszeichnung, die mir von unserem Arbeiter- und Bauernstaat gewährt wird… Ich erkläre mich bereit, meine ganze Kraft für unser Volk einzusetzen und nach Abschluss des Studiums für die Dauer von drei Jahren an der meiner Ausbildung entsprechenden Arbeitsstelle in der Deutschen Demokratischen Republik zu sein.“ Hatten Sie damals das Gefühl, dass Sie irgendjemandem irgendetwas schuldig sind?  

Nein, diese Vorstellung hatte ich nicht. Der Hauptsinn der Sache war, dass sie einen in der Hand haben wollten, wenn man nach dem Studium aufs Land geschickt werden sollte. Und das musste man unterzeichnen, sonst wäre man nicht immatrikuliert worden. Wir genossen ja eine gewisse Unabhängigkeit mit gewissen Lippen- und Anwesenheitsbekenntnissen. Wenn die Weiterversetzung an der Beurteilung in Marxismus/Leninismus gescheitert wäre, wäre ich auch in den Westen gegangen.

In Ihrer Studentenakte heißt es, Sie sollten „wegen Überlastung der klinischen Bereiche“ nach dem zweiten Studienjahr an die Medizinische Akademie Magdeburg delegiert werden. In der Provinz herrschte Arbeitskräftemangel. Die Sektion Schach setzte sich dafür ein, dass Sie nicht versetzt werden, weil Sie für Berlin und die Humboldt-Universität an den Juniorenweltmeisterschaften 1959 teilnehmen sollten.

Damals war ich noch ein sehr aktiver Schachspieler und bin auch mal Zweiter der DDR-Meisterschaft der Jugend gewesen. Das hat mich wohl vor der Versetzung bewahrt. Es gab große Widerstände, nach dem Physikum nach Erfurt oder Magdeburg zu gehen. Es war nicht so attraktiv.

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Haupteingang der Charité, Foto: Horst Sturm, Bundesarchiv

Nach dem Studium 1962 sind Sie als Mediziner aber doch nach Halberstadt zurückgegangen.

Der Schock des Mauerbaus traf mich in voller Wirkung, und ich konnte in Berlin keine Assistentenstelle bekommen. Alle Institute füllten sich mit Leuten, die Parteimitglied oder in der FDJ aktiv gewesen sind. Ich bin abgerasselt, überall, wo ich es versucht habe. So habe ich in Halberstadt Allround-Medizin am Krankenhaus und später in Ambulatorien und Praxen gemacht: Chirurgie, Geburtshilfe, Neurologie, Kinderklinik, Innere, Pathologie. Durch die Vermittlung eines Freundes konnte ich in Jena dann noch eine Biochemie-Ausbildung antreten.

Was haben Sie in Jena erforscht?

Wir beschäftigten uns am Krankenhaus mit postoperativer Atonie nach Bauchoperationen, wo also Flüssigkeits- und Salz-Wasser-Säure-Basen-Haushalt völlig durcheinander gerieten. Ich wollte diesen Haushalt, den ich schon bei Professor Rapoport gelernt hatte, für diese klinischen Anwendungen weiter erforschen. Deshalb wollte ich in die Biochemie und an die Uni nach Jena. Professor Frunner gesagt hat: „Den nehm“ ich“ und fragte nicht nach Parteiabzeichen und Bekenntnis zum Arbeiter- und Bauernstaat.

Haben Sie in Jena auch promoviert?

Nein, an der Charité bei Dozent Dr. Wolfgang Völpel. Ich sollte die arteriellen Geräusche, die bei Artistherose in allen Körperartieren entstehen, systematisch klassifizieren und untersuchen, ob man sie für die Diagnostik einsetzen kann. Leute mit starker Artistherose haben Kalkplacks in den Arterien, das ergibt unter Umständen Geräusche, wenn das Blut vorbeifließt. Das hatte ich an Hunderten von Patienten untersucht und mit dem Oszellogramm, mit physikalischem Schallaufzeichner, aufgezeichnet.

Ich hatte die Sachen als Student schon alle fertig und musste nun nur noch das Examen machen, um meine Doktorarbeit einreichen zu können. Und das fiel ins Wasser, weil der Doktor Föllpel genau wie alle anderen Westberliner Ärzte nach 1961 nicht mehr kam. Und ich habe dann sehr viel Zeit und Mühe darauf verwenden müssen, einen Doktorvater zu finden, der bereit war, dieses fremde Kind zu betreuen. Das war dann Doktor Anders, einer dieser Neuberufenen.

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Jens Reich im Audimax 1990.
Foto: Joachim Fishan

Hatten Sie unter den gegebenen Umständen im Laufe der folgenden Jahre eine Idee von der Gesellschaft entwickelt, wie sie lebenswerter sein könnte?

1961 hatte ich bezüglich der Dauer des „Käfigdaseins“ Illusionen. Die Probleme mit der ständigen Abwanderung von Arbeitskräften, dem Verscheuern von Kunstwerken in den Westen und was diese wirtschaftliche Überlegenheit der Bundesrepublik auslöste mit den Umtauschkursen der Mark und so weiter, sollte mit dem Bau der Mauer gelöst werden. Ich hatte die Vorstellung, dass eine Gesellschaft entstehen würde, in der es liberaler zugeht. Dass man zum Beispiel als Wissenschaftler zu internationalen Kongressen fahren kann oder Verbindung mit Universitäten aufnehmen kann, an denen ähnliches geforscht wird. Es war ja damals alles zu, auch zur Tschechoslowakei und nach Polen. Ich dachte, jetzt haben sie uns im Käfig und es besteht ja kein Zwang mehr, so dogmatisch den Aufbau des Sozialismus zu betreiben. Aber im Gegenteil: Es wurde härter durchgegriffen. Es wurde eine neue Herrschaft und eine neue Klasse mit allen Mitteln aufgebaut. Die Bevölkerung wurde in eine Art von passivem Vor-sich-hin-Leben gezwungen.

Wie wirkte sich das an der Uni aus?

Da war es Schluss mit wissenschaftlichen Verbindungen in den Westen. 1966 hatte ich eine Aufenthaltseinladung von einem Max-Planck-Institut für einen halbjährigen Aufenthalt bekommen. Die Einladung durfte ich nicht einmal beantworten.

Die Universitätsreform 1968 stellte noch stärkere politische Forderungen an die medizinische Ausbildung. Ich hatte das Glück, zu dem neu gegründeten Rechenzentrum in Berlin/Buch zu kommen, wo es keine wirklichen Konflikte gab, in denen man politisch Farbe bekennen musste.

Ihre Illusionen sind alle gekippt worden?

Sehr deutlich. Später befand ich mich mit meiner ganzen Umgebung in einem depressiven Dauerzustand. Ich fühlte mich wirklich in einem Käfig eingesperrt. Ich habe zwar meine Sachen gemacht, aber privat haben wir über nichts anderes diskutiert, als über diesen unmöglichen Zustand dieses Landes und wie alles immer schlimmer wird und ob das vielleicht bis zum Jahr 2050 dauern wird. Wir waren in einer schweigenden, fundamentalen Opposition.

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Foto: Hubert Link, Bundesarchiv

Aber irgendwann kommt man an einen Punkt, wo man weiß, das kann so nicht weiter gehen.

Dieser depressive Zustand mit völliger Ablehnung des Systems, obwohl weiter als schweigende Mehrheit funktionierend, der hat sich in den 70er Jahren gelockert. Wir begannen in Berlin, unsere eigenen Kreise aufzubauen mit privaten universitätsvorlesungsähnlichen Veranstaltungen oder Wochenendseminaren, den „Freitagskreis“. Aus dem Westen wurden manchmal Bücher mitgebracht oder Leute kamen, die mit uns diskutieren wollten. Mit Honecker kehrte gewissermaßen eine Liberalisierung des politischen, ideologischen Drucks ein, und der Osten ging auf: Man konnte die Tschechoslowakei, Ungarn, Bulgarien und Rumänien besuchen.

Konnten Sie diese Entwicklung für Ihre beruflichen Verbindungen nutzen?

Ich bekam das Angebot, auf meinem Gebiet der mathematischen Modellierung des Stoffwechsels mit einem Institut an der Akademie der Wissenschaften der Sowjetunion zusammen zu arbeiten. Und ich wurde sogar gedrängt, das möglichst langfristig und mit der Familie zu machen. Man musste dort zwar die deutlich jämmerliche Versorgungslage ertragen, aber es war wissenschaftlich und lebensweltlich interessant. Durch den Osten bin ich massiv geprägt worden; Russisch ist meine erste Fremdsprache gewesen, die dann unsere Kinder in den Wurzeln idiomatisch gelernt haben. Ich habe viele Freunde gefunden in Polen und in Ungarn und in der Tschechoslowakei. Freunde, die dann später auch politisch aktiv waren in der „Solidarnosc“. Wir ermunterten uns, aus dem Schneckenhaus herauszukommen.

Mit welcher Perspektive?

Mit der Vorstellung, dass dieses Leben in der späteren DDR, die ja immer noch politbürokratisch bestimmt war, bis zum 65. Lebensjahr dauern würde und wir uns dann die restliche Welt ansehen könnten. Wir haben uns das Leben so eingerichtet, dass wir die Mauer als Gegenwelt und mit ihr mehr oder weniger unfreiwillig und ablehnend, aber nicht mehr depressiv, nicht mehr geschockt zusammen leben konnten.

Wenn Gäste aus dem Westen oder aus dem Ostblock kamen, machten wir einen Mauerspaziergang. Wir haben uns dieses masochistische Erlebnis gegönnt und den Eindruck genossen, den das auf die anderen machte, die eben nicht so hautnah mit der Mauer zusammen lebten. Für die Russen war ja die Welt sehr groß, die konnten in die Taiga, nach Jalta und ans Schwarze Meer, in die baltischen Staaten. Ein Viertel der Erde hatten die ja immerhin. Sie hatten nicht dieses Mauergefühl, da diese Grenze für sie weit weg war. Und die vom Westen kannten es auch nicht. Die kamen immer schon völlig aufgeregt an. Die Kontrollen, die sie durchgemacht hatten, waren Le-Careé-Erlebnisse für sie. Und wie grau der Alltag wurde, sobald man in die Nähe der Mauer kam, wie der ganze Charakter des Lebens sich änderte. Wie Ostberlin zu Ende ging und immer traniger wurde bis man endgültig an der Grenze war.

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Foto: Rudi Ulmer, Bundesarchiv

Bis dann Mitte der 1980er Jahren die Hoffnung wuchs, innerhalb dieser Grenzen eine Ablösung dieser Missverhältnisse herbeizuführen?

Ja, 1985 kam Gorbatschow an die Macht. Wir hatten in Moskau und anderen Orten Freunde, die diesen Aufbruch, den die Glasnost und die Perestroika in der Sowjetunion gebracht haben, begeistert miterlebten. Für mich war das ein weiterer Schub in die Politisierung. Es muss etwas geschehen.

1985 kam Gorbatschow an die Macht. Da haben Sie beschlossen, das „Schneckenhaus“ zu verlassen?

Wir wollten nicht mehr als innere Opposition auftreten, die sich hinter verschlossenen Türen aussprach, sondern richtig offen, in Kirchen. Wir wollten uns nicht mehr kümmern, wenn die Übertragungswagen mit den Richtmikrofonen kamen, sobald wir uns versammelten und Diskussionen über den Niedergang der Sowjetunion führten. Das war ein Befreiungserlebnis. Selbst als man dann ins Visier der Staatssicherheit kam.

Mit welcher Hoffnung waren mögliche gesellschaftliche Veränderungen verbunden?

Darüber habe ich mir wie viele andere keine Gedanken gemacht. Diese Aufstands- und Bürgerbewegung des Ostens hatte keine gut ausgearbeiteten Konzepte, wie die reformierte DDR aussehen sollte. Ich habe es für möglich gehalten, dass wenn die Sowjetunion sich liberalisiert, es möglich sein könnte, dass der Sozialismus mit menschlichem Antlitz lebbar wäre. Alle diese Länder hatten diese Illusionen. Die Abschaffung des Sozialismus ist ja erst 1990/92 ins Gespräch gekommen. Vorher war das einzig Denkbare, ja auch Realistische angesichts der militärischen Konfrontation, eine innere Änderung. Und wir hätten erwartet, dass die DDR irgendwie ihre Führung auswechselt und den Gorbatschow-Kurs einschwenkt. Dass Gorbatschow sozusagen der Auslöser und Totengräber der Sowjetunion werden würde, das haben wir so nicht geglaubt.

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Charité. Foto: Hein Funck, Bundesarchiv

Wie hätte der Umwälzungsprozess Ihrer Meinung nach vonstatten gehen sollen?

Man hätte sich in den Jahren davor mit Gorbatschow einigen müssen, eine neue Regierung einsetzen und mit der Bundesrepublik Gespräche führen: Wir wollen das Land aufmachen. Aber es geht nicht, dass uns dann fünf Millionen Leute weglaufen, und dann kracht hier alles zusammen. Was seid ihr bereit mitzumachen an entsprechenden Vereinbarungen? Das kostet euch einiges, und es kostet euch vor allem, dass ihr abgehen müsst von der Politik, die DDR auszubluten.“ So hätten die Verhandlungen aussehen müssen. Aber natürlich nur mit einer neuen Führung, die im Westen akzeptiert worden wäre. Ob es eine Option gegeben hätte, dass es zwei deutsche Staaten auch weiterhin gibt, das hätte die Geschichte zeigen müssen. Dass ein harter Strich durch den deutschsprachigen Kulturraum gezogen worden ist, habe ich nie anerkannt. Insofern war ich keiner, der die DDR in dem Sinne halten wollte.

Zum Beginn des Studienjahres 1991 waren Sie noch einmal an der Humboldt-Universität. Sie haben den Neuimmatrikulierten gesagt: „Ihr werdet zur Intelligenz der nächsten Generation ausgebildet. Ihr werdet die Verantwortung tragen. Lasst Euch nicht ruhig stellen. Nicht durch Karriere, durch kein Sofa, nicht durch den Schein von Konsum, durch den Druck, werdet nicht zu Duckmäusern und Feiglingen.“

Ich hatte die Freiheit des Studierens erlebt und sah gleichzeitig dessen Unfreiheit, die sich durch die Reglementierung und Verschulung immer mehr breit machte. Die Hoffnung, dass es die Studenten zu großartigen Gesellschaftsreformern bringen würden, hatte ich nicht. Ich hatte mich geärgert, dass an der Humboldt-Uni der Herbst „89 auf eine ziemlich lahme Art und Weise stattgefunden hatte. Die Berliner Studenten haben ja eher in der hinteren Reihe gestanden. Es gab ein bisschen was an SED-Reformen, was aus der Uni kam. Diese Reformbewegung, die es letzten Endes zu spät gab. Aber die große Demo auf dem Alexanderplatz am 4. November 1989, die die letzte Zuckung der DDR gewesen ist, haben die Theaterleute zusammen mit dem Neuem Forum, den anderen Bürgergruppen und den Kirchen gemacht. Und da habe ich nichts von der Humboldt-Uni gesehen.

Sie sagten damals, Sie würden gern noch mal von vorn anfangen dürfen.

Wenn alles noch einmal abliefe und ich Entscheidungen anders treffen könnte? Ich weiß nicht, ich glaube, ich würde abspringen, finde aber keine geeignete Gelegenheit. Wahrscheinlich hätte ich in den Westen gehen sollen wie so viele andere und nicht in die Naturwissenschaft. Aber ob alles besser gekommen wäre? Es wäre jedenfalls völlig anders gekommen.

Welchen Rat geben Sie heute jungen Leuten, die ihr berufliches Leben planen?

Ich würde ihnen dasselbe raten wie vor 20 Jahren. Sie sollen ihren Neigungen nachgehen und nicht zu früh ans Geldverdienen denken. Den Neigungen muss man allerdings mit harter Anstrengung nachgehen. Harte Arbeitsdisziplin. Sprachen, sowohl intellektuell verwertbar (Lesekompetenz), als auch in der Umgangssprache. Auch ich hätte noch zulegen sollen – jetzt ist es zu spät, zum Beispiel meine Bruchstücke in vielen europäischen Sprachen zu vervollkommnen.

 

Das Gespräch führte Heike Zappe im März 2010

Fotos: Heike Zappe, Bundesarchiv (siehe Bildbezeichnungen)

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